Redner(in): Angela Merkel
Datum: 08.02.2011

Untertitel: in Berlin
Anrede: Meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_1498/Content/DE/Rede/2011/02/2011-02-08-bkin-familienbewusste-arbeitszeiten,layoutVariant=Druckansicht.html


liebe Kristina Schröder,

liebe Gäste der heutigen Veranstaltung,

ich bin sehr gerne hierher gekommen. Wir reden über Fragen der Arbeit und über Fragen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Heute spielt noch ein anderes Thema, das mit Arbeit und der Frage, wie man wieder in Arbeit kommt, zu tun hat, eine größere Rolle. Deshalb möchte ich aus aktuellem Anlass eine kurze Vorbemerkung machen.

Ich glaube, dass in den Verhandlungen über die Neuregelung der Hartz-IV-Sätze Teile der Opposition mehr über das nachdenken, was alles wünschenswert ist, als sich auf das zu konzentrieren, was der Gegenstand der Beratungen zu einer Neuregelung ist. Es geht um die Umsetzung eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts, sprich um neue Regelsätze für Erwachsene und vor allen Dingen um mehr Bildungschancen für Kinder. Ich muss angesichts der Lage und auch der Verhandlungsverläufe der letzten Tage, insbesondere des Sonntags, an dem die Regierung viele neue Angebote auf den Tisch gelegt hat, sagen, dass ich, wenn sich da nichts ändert, wenn man sich also nicht auf das konzentriert, was wirklich zur Debatte steht, sehr schlechte Chancen sehe, uns in kurzer Zeit einigen zu können. Ich glaube, man könnte das aber, wenn man sich auf das, was geregelt werden muss, konzentrierte. Aber ich bin nach dem Verlauf des Sonntags leider sehr skeptisch geworden.

Nun zur Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Es ist hier deutlich geworden, dass Sie hier, die Sie der Einladung der Bundesfamilienministerin gefolgt sind, ein großes Interesse an diesem Thema haben. Die Unterschrift unter eine Charta also eine freiwillige Selbstverpflichtung ist für mich ein hoffnungsvolles, gutes Zeichen und ein wichtiger Schritt. Es ist leider so, wie es auch die Ministerin eben dargestellt hat: Familie und Beruf erweisen sich in der Praxis oft durchaus noch als Widerspruch. Das darf nicht sein und das muss nicht so sein, wenn wir lernen, etwas anders zu denken. Deshalb ist diese Veranstaltung heute ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu mehr vorbildlichen Beispielen, zu mehr Ideen und zu einer stärkeren Bekanntmachung von dem, was möglich ist.

Die Aufmerksamkeit ist lange Zeit nicht so auf die Frage familienfreundlicher Arbeitszeiten gelenkt worden, wie wir es uns gewünscht hätten. Ein Grund dafür war sicherlich, dass es ausreichend viele Arbeitskräfte gab. Ein Grund lag sicherlich auch in einem tradierten Rollenverständnis. Ich glaube aber, aufgrund der Tatsache, dass sich viele Männer sehr stark geändert haben, dass also Erziehungsaufgaben nicht mehr allein als weiblich angesehen werden, ist etwas Bewegung in die ganze Sache gekommen. Familienfreundliche Arbeitszeiten sind heute nicht mehr nur Frauensache, sondern zum Teil eben auch durchaus Vätersache. Das finde ich gut und halte es für eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass wir bei diesem Thema überhaupt in der Gesellschaft vorankommen.

Die omnipotente und allseits belastbare Frau, die von einem ausgeruhten Aussehen bis zur Vollerwerbstätigkeit und einer guten Erziehung der Kinder samt Erledigung aller Einkäufe und sonstiger Pflichtaufgaben in der Wohnung alles schafft und dann immer noch lächelt, kommt relativ selten vor das finde ich auch sehr menschlich. Deshalb ist eine stärkere Vereinbarkeit von Beruf und Familie nur möglich, wenn sich die Arbeitsteilung in den Familien ein Stück weit verändert.

Nun geht es um weit mehr als um technische, rechtliche und tarifvertragliche Regelungen. Das macht die Sache so spannend. Das macht es legitim, jetzt nicht nur wieder über neue Gesetze, sondern auch über gute Beispiele zu reden und dafür zu sorgen, dass diese guten Beispiele Schule machen. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist auch eine Zukunftsfrage, und zwar auch deshalb, weil wir ein riesiges demografisches Problem haben. Dieses demografische Problem hat viel damit zu tun, dass wir vielleicht viele Jahre noch nicht so komplex und vernetzt gedacht haben, wie es notwendig gewesen wäre.

Einerseits haben wir ein großes Interesse daran ohne in die individuellen Wünsche der Menschen eingreifen zu wollen, dass sich junge Menschen, die sich Kinder wünschen und Eltern werden wollen, für den Kinderwunsch tatsächlich entscheiden. Nur so kann unsere Gesellschaft aus dem starken demografischen Problem herauskommen. Auf der anderen Seite ist es so, dass durch die geringer werdende Zahl von Schulabgängern das Fachkräfteproblem immer drängender wird und wir die Aufgabe haben, potentielle Arbeitskräfte auch wirklich für eine Erwerbstätigkeit zu gewinnen. Dabei entsteht die Notwendigkeit, Familie und Arbeitswelt zusammenzubringen. Es kommt natürlich noch dazu, dass heute viele junge Frauen viel besser ausgebildet sind als noch vor Jahrzehnten und dass die meisten Frauen auf die Frage "Wie sieht eure Wahlfreiheit aus; wie möchtet ihr euch entscheiden?" antworten, dass sie Beruf und Familie zusammenbringen möchten.

Ich will hier noch einmal sagen: Eltern, die sich dafür entscheiden, dass ein Elternteil sei es Mutter, sei es Vater das Kind für mehrere Jahre zu Hause erzieht, haben unsere Unterstützung. Wir haben da nicht einzugreifen. Aber die Wahrheit ist, dass es heute einfacher möglich ist, sich für diesen Lebensweg zu entscheiden, als für den Lebensweg, Beruf und Familie miteinander zu verbinden. Da, wo Schwierigkeiten bestehen, müssen sich Politik und Gesellschaft um Lösungswege kümmern.

In Deutschland gibt es eine sehr starke Abgrenzung bei der Wertung von Erfahrungen aus verschiedenen Lebensbereichen. Ich habe sehr oft und meistens mit viel Zustimmung Folgendes gesagt: Die Denkart, dass in Deutschland zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr die eigentlichen Karriereschritte stattfinden, der 40-Jährige als kaum noch veränderbar gilt und der 50-Jährige für den Arbeitsmarkt schon lange eine Belastung ist, fördert nur, dass Familie und Beruf in einen Konflikt geraten.

Ich weiß nicht, wo geschrieben steht, warum derjenige, der zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr immer am selben Arbeitsplatz drei Karriereschritte macht, nun unbedingt so viel flexibler, kreativer, nervenstärker und improvisationsfreudiger ist als diejenige, die vielleicht in dieser Zeit Kinder erzieht und damit auf eine bestimmte Art und Weise auch auf Trab gehalten wird. Wenn wir die Familienerfahrung auf dem Arbeitsmarkt als störend betrachten, machen wir einen großer Fehler. Es ist ja so, dass selbst bei der Hausaufgabenhilfe fast schon eine Art Weiterbildung stattfindet. Insofern sollte man solche Dinge einfach einmal positiver sehen und nicht immer nur schauen, ob ein Störfaktor vorhanden ist.

Es gibt in der Gesellschaft Tendenzen, die nicht unbedingt dabei helfen, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren. Ich nenne nur die Tatsache, dass heute viele Eltern von den Großeltern getrennt leben oder die Großeltern eigene Zukunftspläne haben und nicht mehr nur darauf warten, dass sie Enkelkinder ganztägig oder nach Schließung der Kindertagesstätten betreuen können.

Natürlich sind viele Arbeitszeiten in einer globalisierten Welt aus Betriebssicht nicht beliebig variierbar. Wir dürfen nicht einfach eine Tätigkeit an einem Schreibtisch vor Augen haben, die man in gewisser Weise variieren kann. Denn es gibt etwa auch viele produzierende Bereiche, in denen Takte eingehalten und Waren abgeliefert werden müssen, wo es Termine gibt und man nicht beliebig sagen kann, dass es egal ist, ob etwas am Sonnabend, Sonntag, Montag oder Dienstag geschieht. Man muss von beiden Seiten aus sehen, dass sich unsere Welt massiv verändert.

Dennoch glaube ich, dass es sich lohnt, sich die Dinge genau anzuschauen und die Arbeitswelt so zu gestalten, dass sie mit der Familie vereinbar ist. Hierbei stellt sich die Aufgabe, mit den Betroffenen darüber zu sprechen und mit ihnen darüber nachzudenken. Da beißt sich aber aus meiner Sicht wieder die Katze in den Schwanz. Denn wenn wir uns anschauen, wie die Führungspositionen vergeben sind, in denen darüber befunden wird, was die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ausmacht, dann sehen wir, dass diese Positionen sehr häufig so besetzt sind ich sage es ganz vorsichtig, dass dort nicht die Experten für Vereinbarkeit von Beruf und Familie sitzen, sondern eher diejenigen, die sich manchmal vor der Sache etwas geduckt haben oder deren eigene Erfahrung etwas anders aussieht.

Eine Sache, die ganz lustig ist, höre ich immer wieder. Männer im etwas höheren Alter und mit fortgeschrittenen Karrieren haben Töchter, die ihrerseits vielleicht schon Kinder haben. Das Großvatersein hat sich auf manchen Chef sehr positiv ausgewirkt, weil die Bildung der eigenen Tochter und deren Schicksal in dem Moment, in dem es um die Frage "Enkel oder Karriere" ging, manche Einsicht doch mehr befördert hat, als sonst etwas im bisherigen eigenen Leben, was ich durchaus als eine große Chance begreife.

Es passt nicht ganz hierher, aber es war auch ein bisschen ähnlich. Bevor ich CDU-Vorsitzende wurde, sagte ein Kollege zu mir: Du musst doch jetzt unbedingt unsere Vorsitzende werden. Dann habe ich gesagt: Aber pass mal auf, ich bin doch gar nicht konservativ genug für euch. Daraufhin hat der gesagt: Das sind wir schon alleine; wir müssen aber schauen, dass unsere Töchter die CDU wählen und dafür bist du gerade richtig. Das war also eine ziemlich weise Voraussicht. Wir müssen uns mit diesen Themen also auch aus dem Blickwinkel der Töchter befassen.

Die Chefs, die Chefetagen müssen weiblicher werden. Es gibt im Mittelstand sehr interessante Gegebenheiten. Ich kenne viele Frauen, die inzwischen auch mittelständische Unternehmen führen, und ich kenne aus den Erzählungen dieser Frauen viele Beispiele, hinsichtlich derer man sagen würde "Das geht gar nicht", die aber, weil sie an die jeweilige Situation vor Ort angepasst waren, doch zum Leben erweckt wurden. Man kann in einer Großstadt nicht die gleichen Lösungen wie in einer Kleinstadt oder in einem Dorf finden. Ich kenne zum Beispiel eine Unternehmerin, die es in einem kleinen Ort geschafft hat, das Mittagessen der Kinder mit der Pause im Unternehmen zu vereinbaren. Das kann man in einer Großstadt wie Berlin natürlich nicht unbedingt machen. Aber dort, wo es möglich ist, kann und sollte man die Chance nutzen.

Ich finde, es ist Aufgabe, solche interessanten Wege zu finden. Dabei ist die Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Familie auch mit der Frage verbunden, wie viele Führungskräfte in diesem Bereich Erfahrung haben und sich für diesen Bereich in der Gestaltung des betrieblichen Lebens auch einsetzen.

Damit sind wir dann bei der aktuellen Diskussion Quote ja oder nein angelangt. Dazu möchte ich Folgendes sagen: Ich glaube, dass wir mehr Frauen in Führungspositionen brauchen. Ich glaube das nicht nur, sondern ich halte es für einen wirklichen Skandal, dass der Frauenanteil in den Vorständen der 200 größten deutschen Unternehmen zwischen dreiProzent und vierProzent liegt; mit "vierProzent" bin ich, glaube ich, schon ein bisschen zu weit gegangen. Es gab eine zehnjährige Verpflichtung der Wirtschaft. In diesen zehn Jahren ist wenig passiert. Deshalb habe ich gesagt: Wir bieten noch eine Chance. Die Familienministerin hat einen Stufenplan vorgelegt. Sie wird auch die Arbeitsdirektoren großer Unternehmen einladen. Wir werden dann vielleicht auch noch einmal mit den Chefs sprechen. Ich nehme mich der Sache auch gerne noch einmal persönlich an. Aber dann brauchen wir verbindliche Zusagen. Ich kenne viele Unternehmer, die schon Notfallpläne in Bezug darauf haben, wo man denn Frauen finden würde, wenn es ganz dicke kommen und der Staat zuschlagen würde.

Seien Sie kreativ. Je schneller Sie kreativ werden, umso weniger muss der Gesetzgeber kreativ sein. Insofern ist es also ernst. Ich sage Ihnen: Es wird besser gehen, als Sie denken. Ich kann Ihnen sogar in Aussicht stellen, dass manche Beratung nicht länger dauern wird, sondern eher ein bisschen schneller vonstattengehen wird. Es ist so, dass dann vielleicht auch manche Themen besprochen werden können, die wiederum in Bezug auf den Fachkräftemangel in dem Sinne helfen, dass man weibliche Fachkräfte findet.

Wir haben aus meiner Sicht die Chance, ein Stück des Weges gemeinsam weiterzugehen. Dass Sie hier man predigt ja immer in den falschen Kirchen, die Wichtigkeit des Themas erkannt haben, zeigen Sie ja dadurch, dass heute auch eine Charta unterzeichnet wird.

Wenn Beruf und Familie nicht miteinander vereinbar sind, dann kommen Frauen natürlich auch nie in die Führungspositionen. Wenn Frauen mehrere Jahre vielleicht einen Teilzeitberuf ausgeübt oder die Berufstätigkeit ausgesetzt haben, dann ist ihnen auch über 40 trotzdem zuzutrauen, dass auch sie noch Karriereschritte machen können, die vielleicht beim Mann schon mit 38 hätten erfolgen müssen. Es steht doch nirgendwo in der Welt geschrieben, dass der Mensch, der heutzutage 85Jahre alt wird die Frauen werden ja im Durchschnitt noch älter, mit 45Jahren schon so verknöchert ist, dass er nichts mehr machen kann, nichts mehr hinzulernt und nicht mehr aufnahmebereit ist. Wer Kinder erzieht, der kann doch gar nicht anders, als sich immer wieder mit den neuesten Fragen auseinanderzusetzen und Fragen gestellt zu bekommen. Man könnte sich vielleicht manchen IT-Kurs sparen, wenn sich die Mütter zu Hause von ihren Kindern darin anleiten ließen, wie man die neuesten Computer bedient. Das geht mindestens so rasant, als wenn sie es sich irgendwie in einem der vielen Kurse im Betrieb mühselig aneignen müssen.

Jetzt, glaube ich, habe ich Sie alle davon überzeugt, dass dringender Handlungsbedarf gegeben ist. Ich meine, das ist eines der schönsten, aber vielleicht auch eines der spannendsten gesellschaftlichen Themen, weil der Hang zur Separation in Deutschland hier ein Aufgabenbereich und dort ein anderer Aufgabenbereich uns an vielen Stellen immer wieder Kraft gekostet und auch manches kreative Denken eher eingeschränkt hat. Da wir heute in einer Welt mit zunehmend starkem Wettbewerb leben, in der wir wirklich all unsere Stärken in die Waagschale werfen müssen, um mit anderen mithalten zu können, ermuntere ich Sie alle: Gehen Sie neue Wege. Ich glaube, Sie werden es nicht bereuen.

Herzlichen Dank.