Redner(in): Angela Merkel
Datum: 28.02.2011
Untertitel: in Hannover
Anrede: Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Erdogan, sehr geehrter Herr Ministerpräsident McAllister, sehr geehrter Herr Palmisano, Herr Professor Scheer, Herr Oberbürgermeister, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_1498/Content/DE/Rede/2011/02/2011-02-28-bkin-cebit,layoutVariant=Druckansicht.html
liebe Kollegen aus dem Kabinett,
liebe Vertreter der Europäischen Kommission,
liebe Gäste,
wir haben in diesen ersten Tagen des Jahres 2011 am Beispiel des gesellschaftlichen und politischen Umbruchs in vielen arabischen Ländern in Tunesien, in Ägypten, in Libyen erlebt, wie Informations- und Kommunikationstechnologien gesellschaftlichen Wandel, gesellschaftliche Veränderungen fördern. Mit aller Kraft streben Menschen danach, Informationen zu erlangen, Freiheiten zu bekommen, mehr Gerechtigkeit zu erleben, bessere Lebensbedingungen zu erreichen. All das wird auch angetrieben durch die Möglichkeiten der Informations- und Kommunikationstechnologie. Um Proteste zu organisieren, um sich zu vernetzen, ist es ganz selbstverständlich, neue soziale Medien wie Facebook oder Twitter zu benutzen. Wir haben das zuerst im Iran erlebt, in diesen Tagen erleben wir es in den arabischen Ländern. Sie sind Schrittmacher eines gesellschaftlichen Wandels geworden.
Das ist nur ein Beispiel dafür, wie die neuen Technologien Menschen helfen können, sich aktiv in die gesellschaftliche Gestaltung einzubringen und auch Verantwortung zu übernehmen. So war es früher überhaupt nicht möglich, sich weltweit zu vernetzen und damit auch Globalisierung ganz anders zu erleben.
Das heißt also: Technischer Fortschritt und gesellschaftliche Veränderung gehen Hand in Hand und das in einem rasanten Tempo, sodass diejenigen, die schon ein paar Jährchen auf dem Buckel haben, wenn sie sich nicht täglich damit beschäftigen, alle Hände voll zu tun haben oder sagen wir: dass bei ihnen alle Hirnzellen voll beschäftigt sind, um die Entwicklung mitzuerleben, mitzugestalten und mitzuverfolgen.
Die CeBIT ist der weltweit größte Marktplatz für Lösungen in den Bereichen der Informationswirtschaft, der Telekommunikation und der Medien. Ich freue mich, dass in diesem Jahr die Ausstellerzahl wieder gestiegen ist es sind mehr als 4.200 Aussteller aus 70 Ländern und dass wir heute gemeinsam die Messe eröffnen können.
Das große Leitthema ist das Cloud Computing und vier Säulen der Anwendung davon: der geschäftliche Bereich, der Bereich der öffentlichen Hand, die Forschung und der private Bereich, also die Privatnutzung. Ich glaube, diese vier Anwendungsbereiche werden die Besucher und auch die Unternehmen faszinieren.
Die Wurzeln der Informations- und Kommunikationstechnologie reichen weit zurück. Herr Palmisano ist heute bei uns zu Gast. Einhundert Jahre IBM werden in diesem Jahr gefeiert. IBM war schon in seinem Gründungsjahr in
Deutschland
vertreten und zwar mit sieben Mitarbeitern in Berlin. Die Produkte waren damals noch andere. Heute hat IBM insgesamt 21.500 Mitarbeiter an 40 Standorten in
Deutschland. Lieber Herr Palmisano, bevor Herr Erdogan alle abwirbt, können Sie auch bei uns noch ein paar Wachstumsraten hinlegen. Wir sind gastfreundlich und offen für IBM.
Mit dem Computer IBMRT war IBM auch dabei, als die CeBIT vor 25 Jahren erstmals unabhängig von der Hannover Messe stattfand. Dass sich die Produkte rasant entwickelt haben, können wir sehen.
Wenn ich an IBM denke, dann erinnere ich mich an meine Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Akademie der Wissenschaften der damaligen DDR. Dort hatten wir selbstverständlich keine IBM-Computer, aber so etwas wie Raub-Imitate aus der Sowjetunion mit zum Teil krude ins Russische übersetzten englischen Gebrauchsanweisungen für die IBM-Computer. Meine Jugendbilder sind geprägt davon, dass ich mit Stapeln von Lochkarten zu schlecht funktionierenden DDR-Lochern lief, um sie danach in die vermeintlich IBM-ähnlichen russischen Kopien einzuspeisen.
Das alles hat sich erkennbar verändert. Die Welt hat sich weitergedreht. Herr Palmisano hat uns gemahnt, wir sollten immer in die Zukunft schauen und nicht in die Vergangenheit. Die CeBIT ist die beste Möglichkeit, in die Zukunft zu schauen. Dabei ist die Türkei das Partnerland par excellence. Denn die Türkei hat eine unglaublich dynamische wirtschaftliche Entwicklung zu verzeichnen. Die Firma Ericsson hat festgestellt, dass die Türken Weltmeister im Mobiltelefonieren sind. 76Minuten pro Kopf und Tag wurden ausgerechnet. Ich muss sagen: Alle Achtung. Das ist ein guter Markt. Außerdem gebe es immerhin 23Millionen Facebook-Nutzer, wird gesagt. Das ist der vierte Platz weltweit. Hatten vor fünf Jahren nur 10Prozent aller Haushalte einen Computer, so sind es heute schon 30Prozent, und 50Prozent nutzen das Internet. Die Türkei befindet sich damit in einem dramatischen Aufholprozess. Ich muss aufpassen, dass ich jetzt nicht zu viel Werbung für den Standort Türkei mache, damit wir im fairen Wettbewerb bleiben.
Lieber Herr Erdogan, ich darf Ihnen sagen: Über die Problematik der Visa müssen wir noch einmal sprechen. Ich habe eben zu Herrn Palmisano gesagt, wenn es mit den Büchern und den Stempeln zu dick wird, dann haben wir ja heute die Chips. Darauf haben sicherlich noch ein paar Einträge mehr Platz. Aber ich darf Ihnen sagen, wir haben vielleicht heute beim Abendessen noch ein bisschen Zeit, darüber zu sprechen. Unser Innenminister ist vor Ort. Gerade für die Geschäftsleute müssen sich die Austausch- und Reisebedingungen verbessern. Wir beide wissen, dass die Visafreiheit dann für alle gilt. Nicht alle in der Türkei und auch nicht alle in
Deutschland
lebenden Menschen sind Geschäftsleute. Aber ich glaube,
Deutschland
wird auf diesem Gebiet Fortschritte machen müssen. Und ich darf Sie beruhigen, dies ist keine Idee, die wir besonders für die Türkei entwickelt haben. Wo immer ich auf der Welt bin, wird
Deutschland
ein wenig dafür kritisiert, dass unsere Visa-Beziehungen sehr auf Sicherheit ausgerichtet sind. Es ist heute schon davon gesprochen worden, dass
Deutschland
immer etwas für Sicherheit übrig hatte und auch hat. Wir müssen hier vielleicht ein bisschen flexibler werden.
Ich darf darauf hinweisen, dass es heute in
Deutschland
viele türkischstämmige Unternehmer gibt, die ein wichtiger Wirtschaftsfaktor sind. Der Türkisch-Deutschen Industrie- und Handelskammer zufolge sind es 80.000, die 400.000 Menschen beschäftigen. Wenn wir einmal überlegen, dass wir uns in diesem Jahr hoffentlich noch einmal hier in
Deutschland
treffen, um an das Jubiläum " 50 Jahre
deutsch-türkisches Anwerbeabkommen " zu erinnern, dann sehen wir, dass sich auch in diesem Bereich eine rasante Entwicklung vollzogen hat. Viele türkischstämmige Bürgerinnen und Bürger kamen als Arbeitnehmer und sind heute Arbeitgeber. Ich sage ausdrücklich: Diese Entwicklung wollen wir fortsetzen. Deshalb werden wir heute Abend auch noch einmal über das Thema der Integration sprechen. Ich denke, es ist ganz wesentlich zu verstehen, dass gerade das Beherrschen der
deutschen Sprache sehr wichtig ist, um die Chancen des Lebens in
Deutschland
auf Teilhabe für alle gut zu gestalten. Denn wir wollen, dass unsere türkischstämmigen Bürgerinnen und Bürger Erfolg haben, dass sie einen Beitrag leisten können und dass sie auch am Wohlstand unseres Landes teilhaben können.
Meine Damen und Herren, eine Stärke
Deutschlands ist immer wieder die Wettbewerbsfähigkeit. Heute sind nicht umsonst zwei Kommissare der Europäischen Kommission bei uns. Denn die Entwicklung vollzieht sich in einem gemeinsamen Raum. Der türkische Ministerpräsident hat eben über die Ausgaben für Forschung und Entwicklung gesprochen. Die Europäische Union hat sich seit langem vorgenommen, drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in jedem Land für Forschung und Entwicklung auszugeben. Wir haben einen großen Teil davon erreicht und nähern uns den drei Prozent recht gut an. Es ist natürlich paradox: Je höher die Wirtschaftswachstumsraten sind die ja glücklicherweise im letzten Jahr gut waren umso schwieriger ist es, diese drei Prozent zu erreichen. Aber wir arbeiten daran. Ich denke, dies ist auch wichtig, wenn wir uns vor Augen führen, welche Dynamik in anderen Teilen der Welt herrscht.
Ich habe gerade eben mit EU-Kommissarin Kroes besprochen, dass Europa aufpassen muss, dass es sich nicht zu sehr auf sich selbst konzentriert, sondern seine Wettbewerbsfähigkeit immer auch an den Besten außerhalb Europas ausrichtet. Deshalb haben der französische Präsident und ich einen Pakt für Wettbewerbsfähigkeit vorgeschlagen, mit dem wir ausdrücklich sagen: Alle EU-Staaten, insbesondere auch die Euroländer, müssen sich an den Besten unter uns ausrichten, weil die Besten unter uns die Einzigen sind, die eine Chance haben, im weltweiten Wettbewerb überhaupt mithalten zu können. Der Durchschnitt Europas ist global nicht wettbewerbsfähig. Das müssen wir uns immer wieder vor Augen führen. Deshalb dieser Wettbewerbspakt.
Meine Damen und Herren, wir haben in Deutschland eine Hightech-Strategie entwickelt. Bei allen Konsolidierungsbestrebungen, die wir natürlich verfolgen, um unseren Haushalt ausgeglichen zu gestalten die Wirtschaftskrise hat gezeigt, von welcher elementarer Wichtigkeit das auch für die Zukunft Europas ist, haben wir die Forschungs- und Entwicklungsleistungen, die Forschungs- und Bildungsausgaben von den Einsparverpflichtungen abgekoppelt. Wir geben für diesen Bereich in dieser Legislaturperiode 12Milliarden Euro mehr aus. Ich habe mich gefreut, Herr Palmisano, als Sie eben von der institutionellen Geduld gesprochen haben, die im Bereich der Forschung und Entwicklung einfach vorhanden sein muss, damit die Forschung ein belastbares Rahmenwerk hat, in dem sie sich mit staatlicher Unterstützung entwickeln kann, in dem junge Leute eine Zukunft bekommen und in dem Projekte begonnen werden können. Ich glaube, das ist von allergrößter Bedeutung. Ich werde das in Zukunft immer unter dem Namen der institutionellen Geduld ausbreiten. Geduld ist ein bisschen wenig dynamisch für den Anspruch, den wir haben. Denn wir wollen natürlich mit unserer Hightech-Strategie auch mit dabei sein, wenn die Fortschritte erzielt werden. Sie haben sehr eindringlich davon gesprochen, dass wir uns der Zukunft zuwenden müssen. In unserer Hightech-Strategie gibt es deshalb auch einen Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie.
Lieber Herr Scheer, ich möchte an dieser Stelle sagen, dass wir in verschiedenen Bereichen sehr intensiv zusammenarbeiten und dass auch unsere IT-Gipfel jedes Jahr Ausdruck dieser Zusammenarbeit sind. Sie sind nicht der einzige Punkt des Zusammentreffens von Politik und Wirtschaft, sondern sozusagen die Höhepunkte eines ganzjährigen Kooperationsprozesses zwischen Wirtschaft und Politik.
Vielleicht hängt es ja auch mit der Sache, mit der Informations- und Kommunikationstechnologie, zusammen, dass die Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Politik in diesem Bereich einen völlig anderen, ich würde sagen, einen moderneren Charakter hat, als wir es sonst in der klassischen Zusammenarbeit von Politik und Wirtschaft erleben. In der klassischen Zusammenarbeit gibt es hier die einen, die fordern, und dort die anderen, die etwas erfüllen sollen. Oder es werden gegenseitig Forderungen aufgestellt. In unserem IT-Prozess haben wir es geschafft, Arbeitsgruppen zu bilden, die zielorientiert Neues erarbeiten und in denen jeder seinen Beitrag leisten muss, die Wirtschaft und die Politik. Es gibt eigentlich keinen anderen Bereich, in dem wir so wenig öffentlichen Streit haben, in dem wir so wenige Schaukämpfe führen und in dem wir so viele Ergebnisse erreichen wie in diesem Dialog. Dafür möchte ich mich bei allen, die daran mitwirken Zeit ist ja erwiesenermaßen eines der knappsten Güter im 21. Jahrhundert ganz herzlich bedanken.
Die Zusammenarbeit ist von uns im Bereich der Infrastruktur vor allen Dingen mit Regelsetzung zu erreichen. Wir haben jetzt eine nahezu vollständige Versorgung mit dem Breitband-Internet in seiner untersten Entwicklungsstufe. Wir wollen, dass drei Vierteln der Bevölkerung bis 2014 das Internet mit einer Übertragungsrate von 50Megabit pro Sekunde zur Verfügung steht. Dafür müssen wir noch viel investieren. Meine Bitte an die Europäische Kommission ist, dass wir die Rahmen so setzen, dass es uns nicht nur gelingt, den Nutzern heute sehr preisgünstig die Nutzung überlassen zu können. Das ist ein Ziel. Aber das zweite Ziel muss die mittel- und langfristige Investition sein. Denn ohne eine zukunftsfähige moderne Infrastruktur werden wir all die Segnungen und Erfindungen der IKT-Branche überhaupt nicht anwenden können. Das heißt: Hier muss beides beachtet werden. Das ist meine herzliche Bitte in Richtung Europa die Insider wissen, wovon ich spreche, das kann man aus dem partiellen Beifall ersehen.
Meine Damen und Herren, außerdem geht es darum, dass wir ein energieeffizientes Informations- und Kommunikationssystem entwickeln. Die IKT-Industrie ist inzwischen zu einem Großverbraucher von Energie geworden. Deshalb ist hier Effizienz ganz wichtig, und deshalb ist auch auf dieser CeBIT das Thema GreenIT ein wesentlicher Punkt.
Das große Leitthema ist das sogenannte Cloud Computing, das die Geschäftsmodelle von Unternehmen und vieles andere verändern wird. Man besitzt nicht mehr sein eigenes System, sondern man kann sozusagen alle Dienstleistungen auswärts beschaffen. Insofern wird das Cloud Computing sicherlich noch einmal eine große Revolution sein, neben dem, was uns Herr Palmisano so anschaulich erklärt hat, also neben dem, was an Intelligenz in den heute verfügbaren Computern schon vorhanden ist und was in künftigen Computern an Intelligenz vorhanden sein wird.
Cloud Computing und alles, was damit zusammenhängt, wirft natürlich auch die Frage nach Sicherheit, nach internationalen Regeln auf. Wir beschäftigen uns inzwischen alle mit Cyber-Sicherheitsstrategien. Und es wird sehr darauf ankommen, dass die globale Welt das Wort cloud zeigt dies ja schon für die überall verfügbare Welt des Internets auch international vernünftige und abgestimmte Regeln findet. Das wiederum zeigt, dass wir in der Zeit der Informations- und Kommunikationstechnologie, im Informationszeitalter, auch völlig neue globale Formen zukünftiger politischer Zusammenarbeit erlernen müssen. Die internationale Finanzkrise hat uns vor Augen geführt, dass es gar nicht anders möglich ist, als kohärent gemeinsam zu handeln. Das tun wir in der G20, und die Gruppe der Staats- und Regierungschefs war gut und schnell in der Stunde der Not. Ob wir gut und schnell in den Stunden guter wirtschaftlicher Entwicklung sein werden, ist noch nicht erwiesen. Hier ist uns heute noch einmal vor Augen geführt worden, wie wichtig das ist und wie sich durch die neuen Möglichkeiten der Informationstechnologie auch die Anforderungen an Führungspersönlichkeiten nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der politischen Realität verändern werden.
Das heißt: Wir als Politiker nehmen die neuen Erfindungen staunend und erfreut zur Kenntnis. Wir versuchen, sie nicht nur möglichst schnell zu verstehen, sondern sie auch in unser eigenes Leben mit einzubeziehen. Denn nur wer sich in dieser Welt auskennt, kann auch die richtigen Antworten auf die Frage finden, welche Art von Regulierung notwendig ist und welche Art von Freiheit notwendig ist.
Mit dem Versprechen, dass wir uns in der Politik der Frage auch weiterhin nicht nur geschäftsmäßig, sondern zum Teil auch mit großem Enthusiasmus widmen werden, kommt es mir jetzt zu zu sagen: Die CeBIT 2011 ist eröffnet. Sie wird spannend. Ich hoffe, Sie freuen sich alle genauso auf die Messe, wie ich mich freue.
Herzlichen Dank.