Redner(in): Angela Merkel
Datum: 05.04.2011

Untertitel: im Bundeskanzleramt
Anrede: Meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_1498/Content/DE/Rede/2011/04/2011-04-05-merkel-ehrenamt,layoutVariant=Druckansicht.html


liebe Ehrenamtliche, noch einmal ganz herzlich willkommen. Ich habe mich lange auf diesen Tag gefreut. Wir haben ja das Jahr des Ehrenamts. Deshalb dachte ich mir, dass es wirklich einmal an der Zeit ist, eine wenn ich das so sagen darf repräsentative Auswahl von ehrenamtlich Tätigen hierher ins Bundeskanzleramt einzuladen. Ich weiß nicht, ob Sie es wissen: Rund 23Millionen Menschen engagieren sich ehrenamtlich. Fühlen Sie sich hier also als Stellvertreter all derjenigen, die heute in irgendeiner Weise ehrenamtlich tätig sind. Das Interessante am Ehrenamt ist, dass es kleine und große Projekte gibt, Organisationen, die schon fast zum Bestand, zum Inventar der Bundesrepublik Deutschland gehören, genauso wie neue Initiativen alles ist dabei. Der Vielfältigkeit des Ehrenamts sind eigentlich kaum Grenzen gesetzt. Die Vielfalt macht auch den Charme aus. Das Gemeinsame ist, dass Sie in irgendeiner Form immer für andere Menschen da sind, oft genau da, wo Not am Mann oder an der Frau ist. Es ist eine interessante Redewendung, wenn wir sagen: Wenn Not am Mann ist, brauchen wir Ehrenamtliche. Es sind zwar viele Männer ehrenamtlich tätig, aber eben auch sehr viele Frauen. Wenn man einmal schaut, wer wo tätig ist, dann sieht man, dass wir inzwischen sehr interessante Entwicklungen haben. Es gibt Bereiche, in denen mehr Frauen tätig sind, und Bereiche, in denen mehr Männer tätig sind. Ehrenamt erfordert natürlich Vieles. Wenn man in einer Sonntagsrede darüber spricht, kann man sagen, dass das ein schönes Engagement für andere ist. Das Ehrenamt erfordert aber auch Ausdauer, es erfordert Verlässlichkeit. Wenn man sich einmal darauf einlässt, etwas zu übernehmen, dann kann man nicht sagen: Ach, heute habe ich gerade mal keine Lust; da soll der Nachbar oder derjenige bzw. diejenige, die ich aufsuchen möchte, ruhig einmal warten. Vielmehr möchten sich in der Zeit, in der ich mich ehrenamtlich engagiere, andere auf mich verlassen können. Es ist ja schon von unserem jüngsten Podiumsmitglied gesagt worden: Die Zeit ist sicherlich das knappste Gut, das wir in unserer Gesellschaft haben. Ehrenamt kommt in allen Generationen vor bei den ganz Jungen genauso wie bei den sehr viel Älteren. Wir haben hier heute Menschen aus allen Altersgruppen. Der Jüngste, Henrik Sprankel, ist vierzehn Jahre alt und macht schon seit einigen Jahren beim BUND mit. Die Erfahrenste unter uns, Frau Käte Tresenreuter, hat schon vor 40Jahren in ehrenamtlicher Tätigkeit begonnen, sich um Ältere zu kümmern, und hat in diesem Zusammenhang das Sozialwerk Berlin gegründet. Ich heiße die beiden hier herzlich willkommen und nenne ihr Wirken stellvertretend für das ganze Spektrum. Ich danke natürlich auch denen, die eben in der Podiumsdiskussion etwas aus ihrer Sicht gesagt haben. Menschlichkeit, Zuwendung, Empathie, Zeit, ein offenes Ohr für andere das sind Dinge, die wir nicht staatlich verordnen können. Wir können nicht in ein Gesetz schreiben: Hören Sie bitte zu oder seien Sie nett zueinander. Das sind Dinge, die aus den Menschen selbst kommen und die man nicht erzwingen kann. Deshalb ist es außerordentlich wichtig, dass wir das in unserer Gesellschaft haben. Aber die Diskussion mit Frau Weidenfeld eben hat schon gezeigt: Es würde täuschen, wenn wir so tun würden, als würde das alles einfach so entstehen. Es bedarf einiger Netzwerke und es bedarf bestimmter Strukturen. Gerade die Netzwerke haben sich in den letzten Jahren erheblich verändert. Deswegen muss Ehrenamt im 21. Jahrhundert auch darauf eingehen. Es ist eben so, dass Netzwerke, die es früher gab die Großfamilien zum Beispiel, oft nicht mehr existieren. Kinder können nicht einfach beim Großvater vorbeischauen, und kranke Enkelkinder können nicht einfach in jedem Falle von den Großeltern betreut werden. Deshalb ist es gut, dass andere da ein Stück weit einspringen und mit den interessantesten Dingen Krankenhausbesuche, Begleitung von Sterbenden im Hospiz, Sprachkurse, Vorlesen, Selbsthilfegruppen, eine Betätigung durchführen, die anderen hilft, Freude macht und die sie vielleicht selbst bereichert. Nun ist es bei aller Freiwilligkeit aber natürlich so, dass wir uns als Staat nicht zurückziehen können. Man kann eine Atmosphäre schaffen, in der Ehrenamt Spaß macht, man kann aber auch eine Atmosphäre schaffen, in der sich diejenigen, die ehrenamtlich tätig sind, ausgenutzt fühlen. Die Gratwanderung dazwischen ist sehr, sehr schmal. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir Expertise sammeln und dass wir mit Ihnen immer wieder ins Gespräch kommen. Denn nach meiner festen Überzeugung kann unsere Gesellschaft, in der die Soziale Marktwirtschaft die tragende Säule ist, nicht funktionieren, ohne dass Ehrenamt und Professionalität Hand in Hand gehen. Bürgerschaftliches Engagement ist natürlich auch Ausdruck von Freiheit; das darf man nicht vergessen. Viele Menschen auf der Welt würden sich gerne ehrenamtlich engagieren, dürfen es aber nicht, können es nicht oder stoßen dauernd an Grenzen. Auch das darf in diesem Zusammenhang einmal gesagt werden, weil wir uns gerade in diesen Tagen ja auch sehr viel mit Situationen in anderen Ländern auseinandersetzen, in denen Menschen um die Freiheit kämpfen, das zu tun, was sie wollen. Bürgerschaftliches Engagement soll also mit Professionalität Hand in Hand gehen. Wir kennen das zum Beispiel von der Freiwilligen Feuerwehr und der Berufsfeuerwehr. Da gibt es staatliche Leistungen, wie Ausrüstung und Gerätschaften, und gleichzeitig die Bereitschaft der Arbeitgeber, Freistellungen vorzunehmen, und gleichzeitig im Hintergrund oft noch eine professionelle Struktur. Ähnliches gilt für den Zivil- und Katastrophenschutz. Wir müssen uns aber immer wieder vor Augen halten: Wenn wir alles professionalisieren müssten, wäre unsere Gesellschaft sehr viel schlechter dran. Deshalb sind wir auch immer wieder auf das Zusammenwirken von Arbeitgebern, von Kommunen und von Freiwilligen angewiesen. Wenn der ökonomische Druck der einzige Faktor wäre, der in einer globalisierten Welt zählt, dann würde Rationalisierung dazu führen, dass wir all diese Arten von Engagement nicht mehr hätten. Deshalb ist eine der ganz großen Herausforderungen, vor denen die Politik steht, das rechte Maß zu finden. Dabei geht es natürlich auch darum, mithalten zu können. Wir können den Arbeitgebern nicht auf der einen Seite sagen, dass es uns nicht interessiert, unter welchem Wettbewerbsdruck sie stehen, und sie auf der anderen Seite ermutigen, dafür zu sorgen, dass das, was unsere Gesellschaft so lebenswert macht, auch weiter gelebt werden kann. Wenn man Ehrenamtliche fragt, welche Anregungen sie haben wir haben im Vorfeld dieses Empfangs auch einmal eine Umfrage gemacht; wir wollen ja auch etwas lernen, dann wird sehr viel über Bürokratie geklagt. Das ist etwas, das offensichtlich nicht erst seit heute besprochen wird, aber was Sie immer mehr bewegt. Ob es in der Pflege ist, ob es in anderen Bereichen ist Bürokratie feiert oft ihre Urstände. Daher müssen wir auch die Frage diskutieren: Gehen wir immer auf Nummer sicher und dokumentieren sozusagen jeden Handgriff, sodass man weiß, wann einer einen Fehler gemacht hat? Ich sage: Selbst dann wird man es nicht schaffen, jeden Fehler aufzudecken, denn auch beim Dokumentieren kann man schwindeln. Das heißt, die Idee, jeden mit maximalem Misstrauen zu verfolgen und zu versuchen, alles aufzuschreiben, wird eher das Ehrenamt verderben, als dass es die Menschen zum Ehrenamt anreizt. Auf der anderen Seite gibt es eine Tendenz, aus Einzelbeispielen immer Generalverdachtsmomente zu formulieren. Ich glaube, da müssen wir ein Stück weit zusammenhalten und immer wieder auf die vielen guten Beispiele hinweisen, die den schlechten Einzelbeispielen gegenüberstehen. Es gibt natürlich auch die Frage junger Menschen, wie viel Zeit eigentlich noch in einer sehr auf Ziele ausgerichteten Bildungswelt bleibt, um ehrenamtlich tätig zu sein. Diesbezüglich will ich darauf verweisen, dass zumindest die Angebote von Freiwilligendiensten jungen Menschen auch die Möglichkeit geben, manches auszuprobieren und vielleicht auch etwas zu tun, das man dann im späteren Leben, wenn man einen anderen Beruf hat, auch fortführen kann. Aber wir müssen schon darauf achten, dass die Regulierung des Alltags jüngerer Menschen nicht so weit geht, dass man zum Schluss zurückschaut und sich fragt: Wann konnte ich eigentlich einmal selbst entscheiden, was ich machen, was ich ausprobieren möchte? Wir wollen jedenfalls die Freiwilligendienste stärken. Wir haben dadurch, dass wir die Wehrpflicht aussetzen werden und dass es den freiwilligen Wehrdienst sowie damit auch den freiwilligen Zivildienst geben wird, auch ganz neue Möglichkeiten, die ich Ihnen ans Herz legen möchte natürlich neben dem Freiwilligen Ökologischen Jahr und dem Freiwilligen Sozialen Jahr, die es in den Ländern gibt. Es gibt auch Nachwuchssorgen bei Zivil- und Katastrophenschützern. Diesbezüglich müssen wir auch darüber nachdenken: Wie können wir noch mehr werben, mehr dafür eintreten und mehr sagen, welche Chancen und welche Möglichkeiten mit solchen Tätigkeiten verbunden sind? Es gibt natürlich das Thema, dass viele Migranten in den klassischen Bereichen des Ehrenamts noch längst nicht so engagiert sind, wie wir es in Deutschland kennen und wie es ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht. Der Anteil von Migrantinnen und Migranten zum Beispiel in der Jugendfeuerwehr oder im THW ist sehr, sehr gering. Das entspricht nicht so sehr der Tradition. Ich glaube, alle Ehrenamtlichen sollten auch offen für diejenigen sein, die vielleicht noch nicht auf die Idee gekommen sind, so etwas zu machen. Einige haben sich das ist auch heute in der Diskussion deutlich geworden mehr Unterstützung und Beratung für ihr Ehrenamt gewünscht, zum Beispiel vonseiten der Freiwilligenagenturen. Ich glaube, dass wir noch viel mehr Menschen gewinnen könnten, wenn es mehr Beratung, mehr Unterstützung gäbe. Deshalb darf der Staat nicht denken, dass das Ehrenamt schon von alleine funktioniert, sondern der Staat sollte durchaus immer wieder Anlaufstellen bereithalten egal auf welcher Ebene; auf Bundesebene, Länderebene, kommunaler Ebene, in denen sich jemand, der etwas tun möchte, auch aufgehoben fühlt. Es ist auch wichtig das gilt natürlich auch für jeden, der heute schon ehrenamtlich tätig ist, dass man immer eine bestimmte Offenheit ausstrahlt, dass man letztlich nicht abweisend ist. Es sollte nicht so sein, dass einige, die ein Ehrenamt schon lange und gut bekleiden, dabei so toll tun, dass andere dann Angst haben, da überhaupt reinzugehen und sich nicht zurechtfinden zu können. Es ist wichtig, dass man neugierig bleibt auch auf neue Generationen, die hinzutreten und dass man dadurch unsere Gesellschaft reicher macht. Sie, die Sie hier sitzen, sind neben den Millionen anderen, die sich ehrenamtlich engagieren, natürlich die besten Werbeträger sozusagen Botschafter des Ehrenamts. Ihnen von Zeit zu Zeit Gehör zu verschaffen im Internet, in der Regionalpresse, in der bundesweiten Presse, halte ich für ganz wichtig. Gute Beispiele können auch gute Laune machen. Manchmal hat man ja irgendwie den Eindruck, dass nur das Schlechte verbreitet wird und das Gute von alleine geschieht. Ich hänge dieser Sichtweise nicht an. Deshalb finde ich, dass es auch ganz wichtig ist, dass Sie für sich einfordern, dass Sie auf Ihrer lokalen und kommunalen Ebene gehört werden."Gemeinsam geht" s Menschen helfen Menschen ", das ist unser Motto. Es ist ja eine der ganz wunderbaren Erfahrungen, dass es auch in Situationen, in denen vielleicht manch einer gedacht hat, dass es gar nicht mehr weitergeht, plötzlich durch ein Treffen mit anderen Menschen, durch ein Gespräch, durch eine Beratung und dadurch, dass man etwas gemeinsam unternimmt, doch weitergeht. Ich weiß, dass, wenn man zu Ehrenamtlichen spricht, die Gefahr besteht, dass die Welt ein bisschen zu rosig gemalt wird, während in der Realität aber manches sehr schwierig ist. Diesen Eindruck will ich hier nicht erwecken. Denn es gibt wie vermutlich in jeder Betätigung Stunden und Tage, an denen man mehr Lust auf das hat, was man tut, und es gibt Stunden und Tage, an denen einem das, was man tut, schwerer fällt. Das eigentlich Spannende ist, dass es trotzdem immer wieder Millionen Menschen gibt, die sich entscheiden, etwas zu unternehmen. Wenn ein Leben mit allen Möglichkeiten vor einem liegt und man sagen kann, dass dieses und jenes nicht funktioniert, dann ist die Sache ja relativ einfach. Wenn man dann entscheidet, dass man sich persönlich einbringen kann, damit es ein bisschen besser funktioniert, dann ist natürlich ein ganz, ganz wichtiger Schritt gemacht. Dann muss man natürlich auch zugeben, dass man manchmal gar nicht so vollkommen ist in dem, was man tut, wie man sich dachte, dass man es sei; das kommt ja auch hinzu. Man setzt sich ja mit seinen eigenen Stärken auseinander, aber auch mit seinen eigenen Schwächen. Ich erzähle oft Folgendes aus der früheren DDR. Da war die Welt relativ einfach, da war so vieles verboten, da konnte man immer sagen: Dieses darf ich nicht und jenes darf ich nicht. Hätte ich einen guten Rechner, wäre ich natürlich fast schon Nobelpreisträger der Physik, aber weil der Staat ihn mir nicht gibt und mich nicht nach Amerika lässt, kann ich das ja nicht schaffen. Und, schwups, schon findet man sich ganz toll und empfindet nur noch den Staat irgendwie als Hindernis für alles. Damit kann man sich in der Demokratie nicht so gut herausreden. Es gibt zwar immer noch einen Haufen Ausreden dafür, warum man dieses oder jenes nicht kann der Bürgermeister ist dumm; die Kommune hat das alles nicht gemacht, aber so richtig gelten diese Ausreden in freiheitlichen Demokratien nicht. Dass Sie bereit waren, sich mit all Ihren Stärken, die Sie haben, aber natürlich auch mit dem, was man nicht kann, auf den Weg zu machen, ist das eigentlich Tolle. Denn damit haben Sie sich für eine Sache oder zwei Sachen entschieden, haben aber 98 oder 100 oder 300 andere liegen lassen, und damit tun Sie etwas Konkretes für ein erfülltes Leben. Dankeschön dafür, dass Sie hier sind. Ich freue mich noch auf manche Begegnung und begrüße Sie alle noch einmal ganz, ganz herzlich hier im Bundeskanzleramt, das sich freut, dass es das Ehrenamt in Deutschland gibt und dass dadurch so viel Gutes entsteht. Herzlichen Dank.