Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 25.10.2000

Anrede: Sehr geehrter Herr Henkel, sehr geehrte Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/46/22646/multi.htm


Vor fast genau zwei Jahren haben wir die Regierungsverantwortung übernommen. Wir befinden uns also in der Mitte der Legislaturperiode, und es gehört schon fast zum guten Brauch, aus diesem Anlass eine Halbzeitbilanz zu ziehen.

Ich will dazu, auch im Lichte der aktuellen Zahlen und Entwicklungen, ein paar Anmerkungen machen.

Sogar kritische Beobachter bescheinigen der neuen Bundesregierung, dass sie nach einem verhaltenen Start immer besser Fuß gefasst, den Reformstau der 90er Jahre aufgelöst und einen entschiedenen Modernisierungskurs für die Zukunft eingeleitet hat.

Der BDI ist in seiner Zwischenbilanz zu der Einschätzung gelangt, dass "unter dem Strich die Investitionsbedingungen am Standort Deutschland doch merklich verbessert" worden sind. Mit diesem Urteil kann ich gut leben.

Auch die Wirtschaftsforschungs-Institute geben der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung in ihrem gestern veröffentlichten Gutachten insgesamt gute Noten.

Das beste Zeugnis für unsere Regierungspolitik stellen uns jedoch die ökonomischen Fakten aus. Mit rund 3 Prozent Wachstum in diesem Jahr hat Deutschland zur Spitzengruppe der Industrieländer aufgeschlossen.

Gegenüber dem Vorjahr hat sich das Wachstum damit glatt verdoppelt. Der anhaltende Aufschwung bringt uns Schritt für Schritt unserem wichtigsten Ziel näher: dem Abbau der Arbeitslosigkeit. Die Zahl der Arbeitslosen ist heute um rund 280.000 niedriger als im September 1998. Die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute erwarten einen weiteren Rückgang der Arbeitslosigkeit auf 3,5 Millionen bis Ende des kommenden Jahres. In ihrem Gutachten bestätigen sie auch, dass die konjunkturellen Aussichten - trotz des Ölpreisanstiegs - auch für 2001 insgesamt günstig bleiben. Sie erwarten ein reales Wachstum von 2,7 Prozent.

Trotz einiger Konjunkturrisiken ist diese Zuversicht begründet: Die Wirtschaft benötigt heute pro Produkteinheit nur noch halb so viel Primärenergie wie in den 70er Jahren. Hier zahlen sich Energieeinsparung und verstärkte Nutzung der erneuerbaren Energien seit dem ersten Ölpreisschock 1973 aus.

Ein wesentlicher Teil der ins Ausland fließenden Ölmilliarden gelangt übrigens über Exportaufträge wieder zurück in die deutsche Wirtschaft.

In der Lohnpolitik haben die Tarifpartner durch den Abschluss von mehrjährigen Vereinbarungen gesamtwirtschaftliche Verantwortung bewiesen und für mehr Planungssicherheit gesorgt.

Die Attraktivität und die Leistungsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft haben sich in der ersten Hälfte der laufenden Legislaturperiode erheblich verbessert.

Ein Beleg hierfür sind die zunehmenden Direktinvestitionen ausländischer Firmen in Deutschland. Dem neuen Weltinvestitionsbericht der UNCTAD zufolge sind diese Kapitalzuflüsse von 21 Milliarden Dollar im Jahr 1998 auf rund 27 Milliarden Dollar im letzten Jahr gestiegen. Und gleichzeitig haben sich die Abflüsse von Investitionskapital ins Ausland von 90 Milliarden Dollar auf 50 Milliarden Dollar vermindert.

Dies zeigt, dass die Bundesregierung mit ihrer Wirtschaftspolitik die Weichen richtig gestellt hat.

In Umfragen werden die Bürger regelmäßig befragt, wie sie die wirtschaftliche Lage einschätzen. Im September 1998 beurteilten lediglich 35 Prozent der Befragten die ökonomische Situation als gut oder sehr gut. Zwei Jahre später, im September 2000, waren dies fast 60 Prozent.

In jüngster Zeit hat die Energieverteuerung zwar einige Irritationen und Unsicherheiten ausgelöst. Aber es bleibt festzuhalten:

In den vergangenen zwei Jahren hat sich die Stimmung entschieden verbessert.

Die Menschen glauben wieder daran, dass Deutschland seine ökonomischen Probleme lösen und eine starke Rolle in der Wissensgesellschaft spielen kann.

Diese Zuversicht ist auch deshalb berechtigt, weil wir neue, erfolgreiche Formen des Public-Private-Partnership gefunden haben. Die vielfältige Zusammenarbeit aller volkswirtschaftlichen Akteure ist einer der Motoren konsequenter Modernisierung.

Dazu gehört das von manchen anfangs mit Skepsis begleitete Bündnis für Arbeit; dazu gehören der mit den Unternehmen vereinbarte Umstieg in der Energieversorgung sowie unsere gemeinsame Initiative "D21 - Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft". Diese positiven Ergebnisse zeigen: Die Suche nach einem Konsens ist aller Mühen wert.

Auch die Reform der Betriebsverfassung sowie die neuen Regelungen zum Anspruch auf Teilzeitarbeit und zu den befristeten Arbeitsverträgen sollten wir ohne ideologischen Streit auf den Weg bringen.

In diesen Bereichen geht es nicht darum, neue bürokratische Vorschriften zu produzieren, sondern darum, flexible und zeitgemäße Regelungen zu schaffen, die den Interessen der Beschäftigten und den Anforderungen der Unternehmen Rechnung tragen.

Wir setzen in unserer Politik auf Nachhaltigkeit, Generationenausgleich und soziale Gerechtigkeit. Hieran orientieren wir uns auch in der Steuerpolitik. Mit den früher üblichen, rasch aufeinander folgenden Jahressteuergesetzen haben wir Schluss gemacht.

An ihre Stelle setzen wir unsere nachhaltige Steuerreform, die bis zum Jahr 2005 Klarheit und Planungssicherheit schafft. Insgesamt werden wir Bürger und Wirtschaft bis 2005 um 93 Milliarden D-Mark entlasten.

Ein Schwerpunkt ist dabei entgegen aller Kritik die Entlastung des Mittelstandes. Dies hat die unabhängige Bundesbank erst kürzlich bestätigt; ich zitiere aus dem Monatsbericht für August 2000: "Insgesamt gesehen dürften die Personengesellschaften bei der Besteuerung des laufenden Betriebsergebnisses nicht schlechter abschneiden als die Kapitalgesellschaften."

Im internationalen Vergleich wird das deutsche Steuersystem attraktiver und gerechter. Wir haben die Steuersätze bei der Körperschaftsteuer und der Einkommensteuer deutlich gesenkt und lassen in Zukunft bei der Bemessungsgrundlage weniger Ausnahmen zu.

Genau dies haben Steuerexperten seit langem gefordert.

Dazu gehört auch, dass die Abschreibungsdauer stärker an die Realitäten angepasst wird. Dabei wird es bei einer durchschnittlichen Verlängerung der Abschreibungszeiten um bis zu 20 Prozent bleiben. Das in der Steuerreform bereits berücksichtigte Volumen von 3,5 Milliarden Mark wird nicht überschritten.

Mit dieser größten Steuerreform in der Geschichte der Bundesrepublik geben wir Arbeitnehmern und ihren Familien auch den Spielraum, aus eigener Kraft mehr für die Altersvorsorge zu tun. Dieser Spielraum ist notwendig. Denn im Moment gerät unser bewährtes Rentensystem von zwei Seiten unter Druck.

Erstens nimmt die Zahl der Rentenbezieher im Verhältnis zu den Beitragszahlern immer weiter zu, während die Zahl der stetigen Vollerwerbsverhältnisse abnimmt. Zweitens erreichen die Menschen ein immer höheres Lebensalter und beziehen entsprechend länger Renten. Das ist der Grund, warum wir neben das Umlagesystem ergänzend die kapitalgedeckte private Vorsorge als zweite Säule stellen, um die Alterssicherung zu gewährleisten.

Damit halten wir den künftigen Beitragssatz zur Rentenversicherung in erträglichen Grenzen und verhindern einen dramatischen Anstieg der Arbeitskosten.

Im Kern geht es uns darum, die Renten für die älteren Menschen sicher zu machen und sie für die jüngeren bezahlbar zu halten. Dabei ist uns wichtig, denjenigen Menschen zu helfen, die diese Säule der ergänzenden privaten Vorsorge aus eigener Kraft nicht mit errichten können. Deswegen werden wir für diese Personengruppen das Sparen für das Alter finanziell fördern. Hierzu mobilisieren wir bis 2008 fast 20 Milliarden Mark, die wir familienorientiert einsetzen.

Die Mittel dafür können wir aufbringen, weil wir in der Finanzpolitik einen konsequenten Sparkurs eingeschlagen haben. Unser Ziel ist, bis 2006 zu einem ausgeglichenen Haushalt ohne Neuverschuldung zu kommen.

Das ist ein Ziel, das den Menschen in unserem Land nutzt. Es wäre verantwortungslos und kurzsichtig, ständig über unsere finanziellen Verhältnisse zu leben.

Deshalb setzen wir auch die Erlöse aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen - fast 100 Milliarden Mark - vollständig für den Abbau der Staatsschulden ein. Daraus ergibt sich eine Zinsersparnis von jährlich rund 5 Milliarden Mark. Dieses Geld investieren wir in eine moderne Infrastruktur, in Forschung und Bildung sowie in Maßnahmen zur Energieeinsparung.

Unser Zukunftsinvestitionsprogramm ist ein gelungenes Beispiel von strikter Haushaltskonsolidierung einerseits und notwendiger Modernisierung andererseits. Es zeigt, dass Sparen kein Selbstzweck ist, sondern im Gegenteil erst die Möglichkeiten eröffnet, die Zukunft aktiv zu gestalten.

Als wichtige Position auf der Aktivseite dieser Bundesregierung betrachte ich auch die Einrichtung des Entschädigungsfonds für Zwangsarbeiter des NS- Regimes.

Sie, verehrter Herr Henkel, haben am vergangenen Wochenende gesagt, Sie würden Ihre Hand dafür ins Feuer legen, dass die Wirtschaft den von ihr zugesagten Beitrag ebenfalls in vollem Umfang aufbringt. Es wäre niemandem verständlich zu machen, dass die Wirtschaft hierzu nicht in der Lage sein soll.

Ich weiß, dass viele Unternehmen sich in der gemeinsamen Solidaraktion engagiert haben - darunter auch solche, die erst nach dem Ende des NS-Regimes gegründet wurden und an der Ausbeutung von Zwangsarbeitern nicht beteiligt waren. Die unverständliche Verweigerungshaltung einiger Unternehmen beschädigt den Ruf der deutschen Wirtschaft insgesamt - und damit auch das Ansehen dieser vorbildlichen Betriebe.

Eine Politik der Nachhaltigkeit zielt darauf ab, dass wir unseren Kindern und Enkelkindern eine intakte Umwelt und eine prosperierende Wirtschaft mit hoher Beschäftigung übergeben. Das ist auch das Ziel der Ökosteuer. Energieverbrauch teurer machen und im Gegenzug Arbeit verbilligen - dies ist der Grundgedanke der Ökosteuer.

Dieses Konzept ist richtig und marktwirtschaftlich vernünftig. Wir haben keine Veranlassung, es zu verändern.

Die Ökosteuer ist nicht hauptverantwortlich für die gestiegenen Benzin- und Heizölpreise. Und sie ist deshalb auch kein geeignetes Ausgleichsventil, um Preisausschläge auf den internationalen Rohölmärkten oder Wechselkursveränderungen auszugleichen. Die kurzfristigen Härten der Energieverteuerung für Berufspendler und Einkommensschwache mildern wir durch die Entfernungspauschale und einen einmaligen Heizkostenzuschuss.

Die Mehreinnahmen aus der Ökosteuer geben wir Bürgern und Unternehmen vollständig zurück. Das vergessen diejenigen gerne, die eine Aussetzung oder gar Abschaffung der Ökosteuer verlangen. Das Geld geht direkt in die Rentenkasse. Wir reduzieren und stabilisieren Rentenbeiträge, die sowohl die Arbeitnehmer als auch die Unternehmen aufzubringen haben. Die Beiträge zur Rentenversicherung haben wir bereits um einen Prozentpunkt gesenkt. Das entlastet den Faktor Arbeit und schafft Beschäftigung.

Ein Schwerpunkt unserer Politik in der zweiten Hälfte dieser Legislaturperiode wird es sein, Deutschland fit zu machen für den Wandel zur Wissensgesellschaft.

Die Kompetenz in der Anwendung der neuen Informations- und Kommunikations-Techniken entwickelt sich immer mehr zum Schlüssel für die Zukunftsfähigkeit von Volkswirtschaften.

Und damit auch für ihre Fähigkeit, moderne Arbeitsplätze zu schaffen.

Deutschland befindet sich hier in einer guten Ausgangsposition. Dabei wird das gute Abschneiden unseres Standorts nicht zuletzt durch traditionelle Stärken geprägt: die internationale Ausrichtung und die technologische Innovationskraft unserer Wirtschaft. Dies unterstreicht, worauf ich in der Debatte über die Bedeutung der "New Economy" stets hinweise: Die Zukunft liegt in der Verbindung von "old" und "new".

Die traditionellen Industrien bilden die ökonomische Basis, auf der sich die neuen Industrien entwickeln können. Und durch die teils bahnbrechenden Entwicklungen in der "New Economy" bekommen die klassischen Gewerbe einen Innovationsschub, indem sie die neuen Techniken und Möglichkeiten integrieren.

Diese wechselseitige Durchdringung von "alt" und "neu" modernisiert nicht nur die Verfahren, sondern auch die Unternehmenskultur und die Arbeitsverhältnisse.

Klassische Wirtschaftsbereiche wie das verarbeitende Gewerbe, das Baugewerbe sowie Handel und Handwerk werden auch in Zukunft unsere Volkswirtschaft in starkem Maße prägen.

Die "New Economy" bringt ergänzend dazu neue Dienstleistungen, neue unternehmerische Möglichkeiten und neue Beschäftigungs-Chancen hervor.

Die Bundesregierung wird weiterhin alles tun, damit der Einstieg in die Wissensgesellschaft gerade im Hinblick auf die Ausschöpfung der damit verbundenen Beschäftigungspotenziale möglichst reibungslos vorankommt. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf Maßnahmen zur nachhaltigen Beseitigung des IT-Fachkräftemangels. Unsere "Green Card-Initiative" bedeutet eine gezielte Öffnung unseres Landes für Wissen und Talente aus aller Welt.

Zu den längerfristigen Maßnahmen zur Deckung des Bedarfs an IT- Fachkräften zählen vor allem die Ausbildungsanstrengungen der Wirtschaft, die Qualifizierungsprogramme der Bundesanstalt für Arbeit, die fortgesetzte Modernisierung der Ausbildungsordnungen und die Erhöhung der Attraktivität von IT-Studiengängen an den Hochschulen. Darüber hinaus streben wir die Ausstattung aller Schulen, beruflichen Ausbildungsstätten und Einrichtungen der allgemeinen und beruflichen Weiterbildung mit Computern und Internetanschlüssen bis zum Jahr 2001 an.

Wichtige Schrittmacherdienste bei der Beseitigung des IT-Fachkräftemangels wie auch bei der breiteren Nutzung von IT- Technologien in unserer Gesellschaft leistet die Initiative D 21. Ich werde mich deshalb auch in Zukunft mit besonderem Engagement an den Aktivitäten der D 21- Initiative beteiligen.

Nachhaltige Politik ist nicht auf Umwelt- , Haushalts- , Steuer- und Rentenpolitik beschränkt.

Nachhaltige Politik bedeutet auch, den rassistischen, rechtsradikalen und fremdenfeindlichen Übergriffen in Deutschland mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten.

Die deutsche Wirtschaft hat eine klare Position gegen Rechtsradikalismus und Fremdenhass bezogen. Dafür bin ich dankbar. Denn hier geht es um die Verteidigung der Werte, die unsere Gesellschaft im Innersten zusammenhalten. Wir brauchen die harte und entschiedene Reaktion von Polizei und Justiz gegen Gewalttäter.

Wir wollen und wir werden es nicht zulassen, dass einzelne bestimmen wollen, wer in unserem Land leben und arbeiten soll.

Wir setzen auf Bürgermut und Toleranz. Die Bundesregierung unterstützt alle Initiativen gegen Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit nachdrücklich.

Deutschland ist nach zwei Jahren rot-grüner Bundesregierung auf einem guten Weg. Viele Blockaden sind überwunden. Notwendige Reformen sind umgesetzt oder auf den Weg gebracht worden. Unser Land ist weltoffener geworden. Diesen Weg wollen und werden wir in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode fortsetzen - vielleicht nicht immer mit Ihrer vorbehaltlosen Unterstützung, aber doch mit Ihrer kritischen Beteiligung. Und mit dem besten Beifall, den es gibt: Ihrem Engagement für die weitere Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen und Wohlstand.