Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 26.10.2000

Anrede: Sehr geehrter Herr von Pierer, sehr geehrter Herr Rittenbruch, meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/54/22654/multi.htm


Wir alle wissen, dass wir einen tief greifenden Strukturwandel unserer Wirtschaft und Gesellschaft erleben. Dieser Strukturwandel verlangt von Unternehmen und Arbeitnehmern, aber auch von der Politik ein hohes Maß an Anpassungsbereitschaft. Nur wenn es uns gelingt, den Übergang ins Informationszeitalter erfolgreich zu gestalten, werden wir dauerhaft Wohlstand, Gerechtigkeit und Arbeitsplätze schaffen können.

Ich bin allerdings - dies will ich gleich hinzufügen - keineswegs der Meinung, dass wir es gleichsam mit einer völligen Ablösung zu tun hätten: weg von den klassischen Industrie- und Produktionszweigen und dem verarbeitenden Gewerbe zur Alleinherrschaft der "New Economy". Richtig ist vielmehr, Old und New Economy durchdringen einander. Und die größten Erfolgs- und Wachstumschancen haben sie im Miteinander. Deutschland kann hierbei auf seine traditionelle Stärke bauen, neue Technologien in bestehende Industrien zu integrieren.

Beispiele wie das von Siemens sind Beweis für diese Wandlungsfähigkeit: Vor 150 Jahren begann das Unternehmen als Hersteller von Telegraphen-Anlagen, dann kam der Aufstieg zu einem Elektronik-Unternehmen von Weltrang, heute ist man "Global Player" im Bereich Nachrichtentechnik. Entscheidend dafür war die Bereitschaft von Unternehmensleitung und Beschäftigten, neue Herausforderungen anzunehmen und neue technische Möglichkeiten nicht nur zu entwickeln, sondern auch erfolgreich zu nutzen.

Man kann daran gut sehen, dass unsere Zukunft nicht allein von den "Kleinen", von den Tüftlern in den Garagenfirmen abhängt. Aber dass auch die großen Unternehmen und ihre Mitarbeiter sich ständig neuen Ideen öffnen und diese in der Anwendung erproben müssen. Kurz: Dass es darauf ankommt, die Kreativität aller zu entfalten. Wir können es uns nicht leisten, auch nur eine Begabung, eine gute Idee ungenutzt zu lassen.

Meine Damen und Herren,

die Modernisierung unseres Staates und unserer Gesellschaft wird um so besser gelingen, je wirksamer wir das Prinzip der gesellschaftlichen Teilhabe zur Geltung bringen können. Nur wenn die Menschen teilhaben am Haben und am Sagen in der Gesellschaft, werden sie ihre Kreativität und ihre Leistungsfähigkeit optimal für die Modernisierungsaufgaben einbringen können. Dieses Gebot sozialer Gerechtigkeit ist zugleich ein starker Wettbewerbsvorteil.

Wir setzen auf eine Politik, die sich insbesondere darauf konzentriert,

die sogenannte "digitale" Spaltung der Gesellschaft - also eine Spaltung in Nutzer und Habenichtse der neuen Informations- und Kommunikationsangebote - zu verhindern;

den Staat in Richtung auf mehr "E- Government" zu modernisieren und

Rahmenbedingungen für "E- Commerce" und Online-Ökonomie zu verbessern.

In absoluten Zahlen gemessen, hat Deutschland in Europa einen Spitzenplatz bei den Nutzern von Internet und Online-Diensten inne. Was den Prozentsatz derer, die "drin" sind, an der Gesamtbevölkerung betrifft, liegen wir im europäischen Mittelfeld - etwa gleichauf mit Volkswirtschaften von vergleichbarer Größe und Besiedlung. Unser Ziel ist aber das "Internet für alle". Zumindest für alle, die das wollen. Deswegen haben wir im vergangenen Monat hier auf der EXPO im Rahmen einer Veranstaltung der Initiative "D 21" ein Paket mit insgesamt zehn Maßnahmen beschlossen.

Von zentraler Bedeutung ist es, dass alle Schüler so früh wie möglich den Umgang mit dem Medium Internet einüben können. Denn es geht ja nicht nur um die technische Verfügbarkeit der Hardware, sondern um die Kulturtechnik der Beherrschung dieser neuen Medien. Deshalb haben wir in einem exzellenten Beispiel von Private- Public- Partnership die Initiative "Schulen ans Netz" auf den Weg gebracht.

Ohne das Sponsoring der Wirtschaft wäre das ehrgeizige Ziel, alle 40.000 deutschen Schulen bis zum Ende des nächsten Jahres an das Internet anzuschließen und mit multimediafähigen PC zu versorgen, nicht zu erreichen. Ich danke allen Unternehmen und Organisationen, die sich hier in vorbildlicher Weise engagieren. Alle anderen rufe ich auf, sich an solchen Initiativen zu beteiligen.

Die Bundesregierung wird sich bei der EU-Kommission dafür einsetzen, das PC- Sponsoring mehrwertsteuer-frei zu stellen. Darüber hinaus haben wir uns im Bündnis für Arbeit auf eine mehrjährige Offensive zum Abbau des Fachkräftemangels speziell in der Informationswirtschaft geeinigt.

Gemeinsam mit den Sozialpartnern haben wir in den letzten Jahren ein gutes halbes Dutzend neuer Berufsbilder im IT- Bereich definiert. Die Wirtschaft hat zugesagt, in den IT- Berufen 60.000 zusätzliche Ausbildungsplätze bis zum Jahr 2003 zur Verfügung zu stellen. Diese Fachkräfte werden auch dringend benötigt. In Deutschland fehlen der IT- Branche und den anwendenden Unternehmen zur Zeit rund 150.000 Fachkräfte.

Für die Zeit, bis diese mittelfristigen Maßnahmen Wirkung zeigen, haben wir mit der Greencard-Initiative schnell und flexibel reagiert. Dabei können wir bereits einen ersten Erfolg verzeichnen: Mehr als 11.000 Fachkräfte haben sich beworben, und mehr als 2.200 IT- Spezialisten aus Nicht- EU- Ländern konnten in gerade zwei Monaten bereits vermittelt werden.

Das ist ein guter Anfang. Jetzt gilt es, weiter Werbung für unser Land und seine Möglichkeiten zu machen, damit auch weiter dringend benötigte IT- Spezialisten zu uns kommen. Denn es herrscht ein weltweiter Wettbewerb um die besten Köpfe. Schon deshalb müssen wir hier in Deutschland exzellente Bedingungen schaffen.

Es ist ja keineswegs so, dass diese hervorragend qualifizierten Fachleute sich nichts anderes im Leben vorstellen können, als in Deutschland zu arbeiten. Wir haben - nicht nur, aber auch, aus Gründen der ökonomischen Vernunft - keine Alternative dazu, weltoffen und international zu sein. Eine Politik der Abschottung und der Mobilisierung von Ressentiments gegen eine vernünftig gesteuerte Zuwanderung schadet unseren Zukunftschancen.

Meine Damen und Herren,

die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes, aber auch die Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger hängen im Informationszeitalter nicht zuletzt davon ab, wie gut und wie schnell der Staat Dienstleistungen erbringen kann. Deshalb wird die Bundesregierung bis zum Jahr 2005 alle dafür geeigneten Dienstleistungen online bereitstellen. Gemeinsam mit den Ländern werden wir die Einführung eines elektronischen Bürgerservices auf Bundes- , Länder- und Gemeindeebene beschleunigen.

In Zukunft sollen die "Informationen" laufen - und nicht mehr die Bürger oder die Unternehmer. Bei einer solchen, modernen Verwaltung können online Anträge gestellt, Genehmigungen erteilt und Leistungen bewilligt werden.

Durch die Errichtung eines gemeinsamen Internetportals wird die Verwaltung von Grund auf modernisiert. Denn wir schaffen damit nicht nur einen Zugang zu staatlichen Internet-Dienstleistungen. Sondern mit Hilfe des Internet soll zum Beispiel auch die Managementstruktur des öffentlichen Beschaffungswesens reorganisiert werden. Dabei geht es um eine Gesamt-Größenordnung von immerhin 500 Milliarden Mark. Ich unterstelle, dass hier - sowohl, was die Effizienz, als auch, was die Kosten betrifft - immense Reserven schlummern.

Gerade im sogenannten Business- to- Government- Bereich erwarten wir ein langfristiges Potenzial zur Kosteneinsparung im zweistelligen Prozentbereich. Eine effiziente Online-Verwaltung und eine Internet-orientierte Modernisierung der rechtlichen Rahmenbedingungen bieten auch gute Voraussetzungen für die breite Nutzung des E-Commerce.

Im Vordergrund steht die Sicherheit beim Bestellen und Bezahlen von Gütern und Dienstleistungen im Internet. Ohne Vertrauen läuft auch in diesem Geschäft nichts, und auf diesem Gebiet sind die Ansprüche in Deutschland besonders hoch. Keine Frage: Durch die weltweite Vernetzung ergeben sich ganz neue Herausforderungen durch kriminellen Missbrauch. Internet-Kriminalität ist ein globales Problem; ihre Bekämpfung erfordert daher globale Maßnahmen, eine bessere internationale Zusammenarbeit, vor allem international verbindliche Mindeststandards.

Die Anforderung, Sicherheit und Vertrauen zu schaffen, richtet sich an alle Beteiligten:

an die Anbieter, die Kunden und die Finanzdienstleister,

an den Verbraucherschutz, der hier genauso wirksam werden muss wie im konventionellen Geschäftsverkehr, und

natürlich auch an den Gesetzgeber.

Die Absicherung des Online- Zahlungsverkehrs nach den US- amerikanischen Maßstäben ist sicherlich eine vernünftige Forderung. Insbesondere für öffentliche Ausschreibungen, aber auch für den gesamten Datenverkehr zwischen Bürgern und staatlichen Stellen werden wir sicherstellen, dass die elektronische Signatur die gleiche Rechtswirkung erhält wie die von Hand geleistete Unterschrift. Dies sollte natürlich auch für den Geschäftsverkehr gelten.

Insgesamt werden wir die rechtlichen Rahmenbedingungen für Internetgeschäfte, also die Regeln für Online-Verkehr, umfassend und den jeweiligen Anforderungen entsprechend modernisieren. Dies gilt im übrigen auch für die Urheberrechte in den Bereichen Wort, Bild und Musik.

Meine Damen und Herren,

wir leben in einer Zeit rasanter Veränderungen und sprunghafter Entwicklungen. Augenblicklich ist an der Börse die New Economy unter gewissen Druck geraten. Wer deshalb jetzt den Abgesang der neuen, von Telekommunikation und Computern getriebenen Zukunftswirtschaft anstimmt, handelt genauso übertrieben wie diejenigen, die, das ist noch gar nicht so lange her, vor lauter Internet-Euphorie gleich die gesamte "Old Economy" begraben wollten.

Die gegenwärtig zu beobachtenden Börsen-Schwierigkeiten auf den Online-Märkten spiegeln den normalen Übergang vom Gründerboom der ersten Jahre hin zum konsolidierten Wachstum des Marktes wider. Es steht mir nicht zu, hier Einzelschelte zu betreiben. Aber wer immer nur auf märchenhafte Kurszuwächse gesetzt hat, der darf sich über eine gewisse Marktbereinigung auch dann nicht wundern, wenn manche Analysten diese märchenhaften Prognosen abgegeben haben.

Tatsache ist: Die starken Unternehmen und die guten Geschäftsideen werden überleben und expandieren. Das Marktvolumen nimmt ständig zu. Täglich loggen sich weltweit hunderttausende Nutzer zum ersten Mal ins globale Netz ein und zehntausende Konsumenten, aber auch Einkaufsmanager kaufen zum ersten Mal über das Internet ein.

Viele Menschen lernen die Vorteile, die E-Mail und Internet ihnen auch privat bieten, zuerst an ihrem Computer am Arbeitsplatz kennen. Deswegen ist und bleibt die private Nutzung des Internet am Arbeitsplatz steuerfrei. Und Arbeitnehmer, die ihren privaten PC überwiegend beruflich nutzen, können selbstverständlich auch dann Werbungskosten steuerlich geltend machen, wenn der PC einen Internetanschluss hat.

Meine Damen und Herren,

neben gezielten Impulsen zur Optimierung des Weges in die Wissensgesellschaft ist es auch Aufgabe der Politik, die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen weiter zu verbessern, um die Modernisierung Deutschlands voranzutreiben.

Einen Teil unserer Hausaufgaben haben wir mit der Haushaltskonsolidierung und der Steuerreform gemacht. Unser Zukunftsprogramm stärkt die Wachstumschancen in Deutschland insgesamt. Im einzelnen gehört zu diesen Rahmenbedingungen auch die Öffnung der Telekommunikationsmärkte. Damit sind in diesem Bereich wettbewerbsorientierte Preise möglich geworden, die eine Grundvoraussetzung für die breite Nutzung des Internet darstellen.

Die Wünsche aus Ihrer Branche, hier zu weiteren Preissenkungen zu kommen, habe ich wahrgenommen. Tarife wie in den USA sind für international operierende Unternehmer wie für alle Einwohner des "globalen Dorfes" natürlich ein Leitbild. Aber Sie werden verstehen, dass der Bundeskanzler nicht die Aufhebung des Monopolwesens in der Telekommunikation begrüßen und gleichzeitig Preisvorgaben machen kann.

Eine andere Anforderung an eine Politik der Modernisierung betrifft das Rahmenklima für Erforschung und Anwendung neuer Techniken. Hier haben wir immer noch eine bedauerliche Diskrepanz zwischen enormen wissenschaftlichen und kreativen Leistungen und den Möglichkeiten ihrer wirtschaftlichen Umsetzung.

Nach wie vor sind, gesamtwirtschaftlich gesehen, die Innovationszyklen zu lang. Vieles hängt davon ab, wie rasch und vernünftig wir unser Bildungs- , Ausbildungs- und Forschungswesen modernisieren können, um Grundlagenforschung und Spitzentechnologie zu fördern. Wir brauchen - auf allen Ebenen - eine gesellschaftliche Diskussion über die ethischen und kulturellen Bedingungen und Folgen neuer Techniken.

Aber: Wir müssen uns genauso klar machen, dass Deutschland - anders als etwa die Vereinigten Staaten - nicht darauf bauen kann, nur Anwender geprüfter Verfahren zu sein, diese Verfahren aber nicht bei uns zu entwickeln. Als Nation, die Fertigprodukte exportiert, aber die notwendige Technik importiert, hätte unsere Volkswirtschaft auf Dauer keine Chance auf den Weltmärkten. Darum sind wir - in der Breite wie in der Spitze - an den Ergebnissen von Forschung und Technik und an der Anwendung dieser Ergebnisse interessiert.

Meine Damen und Herren,

die Perspektiven sind günstig: Die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute erwarten in ihrem vorgestern veröffentlichten Herbstgutachten für dieses Jahr ein reales Wachstum in ganz Deutschland in Höhe von 3 Prozent und für das kommende Jahr in der Größenordnung von 2,7 Prozent. Damit kommen wir unserem wichtigsten Ziel näher: dem Abbau der Arbeitslosigkeit.

Die Institute rechnen mit einem Rückgang der Arbeitslosigkeit auf rund 3,5 Millionen bis Ende 2001. Und auch die langfristigen Beschäftigungs-Aussichten sind gut. Der vor uns liegende Zeitabschnitt verspricht höhere Produktivitäts- und Wachstumsraten bei gleichzeitig sinkender Inflationsgefahr.

Mit 1,8 Millionen Arbeitnehmern ist die Informationswirtschaft bereits heute zum dynamischsten Wirtschaftsbereich und zum Motor für neue Arbeitsplätze in unserem Land geworden. Bis zum Ende dieses Jahrzehnts erwarten wir einen Nettoarbeitsplatzeffekt von bis zu 750.000 zusätzlichen Stellen.

Meine Damen und Herren,

es ist sicher kein Zufall, dass der erste Physik-Nobelpreis des 21. Jahrhunderts denjenigen Wissenschaftlern verliehen wurde - unter anderem dem in Amerika lebenden Thüringer Herbert Kroemer - , die mit ihren Arbeiten die technologische Basis für die breite Anwendung der neuen Medien gelegt haben. Nicht nur das Nobelkomitee ist der Meinung, dass diese Forscher "in wenigen Dekaden unsere Gesellschaft radikal geändert" haben.

Mehr Demokratie, mehr Teilhabe, größerer Wohlstand und mehr Beschäftigung durch eine konsequente Modernisierung von Staat und Gesellschaft sind auch die Ziele, zu denen sich diese Bundesregierung bekennt und die wir zusammen mit der Wirtschaft, mit den Gewerkschaften ebenso wie mit allen, die innovativ denken und arbeiten, fördern und voran bringen wollen.