Redner(in): Angela Merkel
Datum: 10.05.2011

Untertitel: in Berlin
Anrede: Sehr geehrter Herr Vorsteher-Seiler, sehr geehrter Herr Hoepker, sehr geehrter Herr Biskup, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_1498/Content/DE/Rede/2011/05/2011-05-10-merkel-dhm,layoutVariant=Druckansicht.html


die Fahrt vom Bundeskanzleramt bis zum Deutschen Historischen Museum dauert nur wenige Minuten. Aber der kurze Weg von dort nach hier führt über ein Stück Weltgeschichte. Er führt über einen schmalen Streifen. Darauf verlief die Mauer, die den Osten und den Westen trennte. Sie war das traurige Symbol des geteilten Deutschlands und im Grunde auch das traurige Symbol eines geteilten Europas. Heute passieren jeden Tag Tausende von Menschen das Brandenburger Tor Berliner, Gäste, Besucher aus nah und fern. Hier ist die Weltoffenheit dieses Landes förmlich mit Händen zu greifen. Mich erfüllt auch nach mehr als 20Jahren die Möglichkeit von Einheit und Freiheit immer noch mit großer Dankbarkeit und mit großer, großer Freude. Freiheit das ist ein großes Wort. Und doch scheinen uns inzwischen die Möglichkeiten, die ein freiheitliches Leben bietet, fast selbstverständlich geworden zu sein. Man kann sagen: Gott sei Dank, dass das so ist. Aber wir müssen uns auch immer wieder vergegenwärtigen, dass Freiheit heute nicht einmal überall in Europa ein selbstverständliches Wort ist. Das Gedenkjahr 2011, in dem sich der Mauerbau zum 50. Mal jährt, ist ein Jahr, in dem wir daran denken sollten, was passiert ist, welche Chancen uns aus einem Leben in Freiheit erwachsen und wie wir diese Chancen nutzen können. Es ist, wie es bei Gedenkjahren so ist, natürlich auch ein Jahr, um Rückblick zu halten auf den Mauerbau vor 50Jahren und die Schrecknisse, die damals passierten. Ich weiß noch genau, dass, als ich Kind war, meine Eltern an einem Sonntag mein Vater hatte einen Gottesdienst gehalten in Tränen ausbrachen, insbesondere meine Mutter, weil an diesem Tag etwas aus der östlichen genauso wie aus der westlichen Perspektive Unfassbares geschehen war. Wir alle wissen, was hier in der Bernauer Straße los war, wie Menschen um der Freiheit willen ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, auch in den Folgejahren. Denken wir 20Jahre zurück. Vor 20Jahren endete die Ära der Sowjetunion ein historischer Einschnitt in Folge der Umbrüche, die es vorher in Mittel- und Osteuropa gegeben hat. Es ist schön, dass zwei begnadete Fotografen ihren Schatz hier der Öffentlichkeit zeigen können ihre fotodokumentarische Begleitung bewegender Zeiten, die Deutschland, Europa und die Welt verändert haben. Thomas Hoepker war Mitte der 70er Jahre eine Zeitlang in der damaligen DDR. Er hielt das Alltagsleben hinter der Mauer fest. Ich glaube, dass viele Besucher auch etliches wiederentdecken werden, das vielleicht schon ein bisschen aus der Erinnerung verschwunden ist, aber mit Hilfe der Bilder sofort wieder wachgerufen wird. Das ist eine Zeitreise, aber ohne Verklärung der Vergangenheit. Auch manche Absurdität wird uns wieder vor Augen geführt. Denn Thomas Hoepker hat mit seinem Blick fürs Historisch-Alltägliche ermöglicht, gerade auch an scheinbar Banalem Skurriles und Absurdes zu entdecken. Er zeigt Episoden, die jeder kennt, der dabei war, und die beim Betrachten lebendig werden. Deshalb sage ich nur: Es wird Spaß machen, das Ganze anzuschauen. Im Herbst 1989 brach sich die Sehnsucht nach Aufbruch, nach Neubeginn Bahn. Aber die Ausstellung geht weit über diese glücklichen Momente der deutschen Geschichte hinaus. Vor gut 20Jahren wurde ein Traum für viele Menschen in ganz Europa wahr, doch es wurde in der Folgezeit auch klar, wie viel Kraft und Geduld tief greifende Veränderungen erfordern. Nicht umsonst spricht man von den "Mühen der Ebene". Nicht überall verlief der Wandel so positiv wie in unserem Land. Dass wir das friedlich und in Übereinstimmung mit unseren Nachbarn hinbekommen haben, ist ein großer historischer Schatz. Denken wir nur an die Umbrüche auf dem Balkan und die Welle der Gewalt. Die Menschen dort mussten unglaubliche Gräueltaten ertragen. Daniel Biskup gelang es, nicht nur die erfreulichen Seiten, sondern eben auch die schwierige Zeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs einzufangen. Es gibt fröhliche Bilder, aber eben auch schockierende Bilder, die Gewalt und Maßlosigkeit zeigen, die das Leid der Menschen festhalten, Mitgefühl und Anteilnahme erzeugen. Das sind Fotos, die beklagen, aber auch anklagen. Sie sind alles andere als neutral. Aber da gibt es auch Dokumente von Mut und Lebenswillen und immer wieder die Botschaft: Lasst uns die Situation zum Guten wenden. Wenn wir jetzt wieder zurückblicken, dann können wir sagen: Auch auf dem Balkan haben wir noch nicht alles, aber vieles erreicht. Der Krieg auf dem Balkan gehört der Vergangenheit an. 27Staaten sind heute Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Das heißt nicht, dass wir keine Probleme mehr haben. Aber wir haben gezeigt diese Kraft sollten wir aus den vergangenen 20Jahren schöpfen, was man schaffen kann, wenn man den Willen dazu hat. Nach wie vor gibt es alte, historische Wunden. Wir haben gerade auf dem Balkan erlebt, wie weit zurück in die Geschichte die Spuren gehen, wenn man fragt, wer zu wem engere Beziehungen hat. Deshalb sind wir auch aufgefordert, nach vorne zu schauen, die Probleme, die es noch gibt, zu lösen und nicht wegzuschauen, wenn heute auch an anderer Stelle auf unserem Kontinent Freiheit immer noch nicht gewährleistet ist. Ich möchte an dieser Stelle an Weißrussland erinnern, an das schwere Schicksal, das viele Oppositionelle dort zu erleiden haben. Unser Kanzleramtsminister hat sich gerade mit weißrussischen Oppositionellen getroffen. Wir in Deutschland können froh sein, dass wir solche Schicksale nicht mehr erleiden müssen. Deshalb möchte ich hier die Gelegenheit nutzen, um Alexander Lukaschenko, den Präsidenten von Weißrussland, aufzufordern, endlich auch für seine Bürgerinnen und Bürger die Freiheiten zu gewährleisten, die in Europa für die allermeisten Menschen gelten. Historische Entwicklungen können Stoff für abstrakte Geschichtsschreibung sein. Heute haben wir die Möglichkeit, lebendige Geschichte zu sehen und Eindrücke zu gewinnen. Jedes Bild erzählt im Grunde eine Geschichte, die unsere Erinnerungen auffrischt, die uns Einblicke in Facetten unseres eigenen Lebens gibt und die den jüngeren Ausstellungsbesuchern vor Augen führt, was vor 20Jahren geschehen ist. Ich gehöre wie die beiden Fotografen zu einer Generation, die einfach unglaublich Geschichtliches erlebt hat nicht schreckliche Geschichte, sondern erfreuliche Geschichte. Das war in Deutschland ja nicht immer so. Ich sage herzlichen Dank, dass Sie, lieber Herr Hoepker und lieber Herr Biskup, Ihre Bilder für diese Ausstellung zur Verfügung gestellt haben. Herzlichen Dank denen, die die Ausstellung ermöglicht haben. Und Ihnen allen, die Sie heute hier sind, wünsche ich viel Spaß und viel Freude beim Betrachten. Sagen Sie es weiter und laden Sie viele ein, diese Ausstellung zu besuchen. Herzlichen Dank, dass ich dabei sein darf.