Redner(in): Angela Merkel
Datum: 02. Mai 2012

Untertitel: in Berlin
Anrede: Liebe Finalisten des Wettbewerbs,sehr geehrte Frau Ministerin, liebe Kristina Schröder,liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag,meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2012/05/2012-05-02-merkel-familie.html


Jeder Mensch gehört zu einer Familie. Jeder weiß auch, dass wir alle Familie brauchen. Familien sind der Ort, an dem Kinder aufwachsen. Sie sind der wichtigste Ort für Beistand und Hilfe in der Not, in der Trauer, wenn Gebrechen des Alters überhandnehmen, aber auch für Stunden der Freude, des Entdeckens und des gemeinsamen Erlebens.

Familie ist das, was unsere Gesellschaft lebt, ohne dass der Staat es verordnen kann. Familienmitglieder stehen füreinander ein, ohne dass man dafür Gesetze machen muss. Jeder, der ein Unternehmen führt oder in einem Unternehmen tätig ist, weiß: Zufriedene Menschen, Menschen, die ihren Lebensentwurf leben können, sind auch gute Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Insofern brauchen Unternehmen nicht nur engagierte Arbeitskräfte, sondern auch Menschen, die mit ihrem Leben zufrieden sind. Deshalb ist es so wichtig, dass wir nach langer Zeit dieser Trennung hier die Familie und das private Leben und dort der Arbeitsplatz immer stärker beides als Einheit sehen. Die, die Sie heute hier sind, sind sozusagen Vorreiter auf diesem Weg. Familie ist nicht Störfaktor, sondern Familie ist Teil des Lebens.

Die ganzheitliche Betrachtung eines Menschen ist das, was in der Politik über viele Jahre ein bisschen vernachlässigt wurde. Unser föderales Staatsgebilde neigt sowieso dazu, dem Menschen unterschiedliche Zuständigkeiten zu verordnen, die der Mensch selber gar nicht kennt. Mal liegt der Aufgabenbereich bei der Kommune, wenn es um die Kita- oder Kindergartenbetreuung geht. Dann kommt ein Wechsel in den Aufgabenbereich des Kreises oder des Landes, wenn das Kind die Schule besucht. Plötzlich ist die Zuständigkeit wieder mehr dem Aufgabenbereich des Bundes zugeordnet, wenn es um eine Ausbildung geht und die Entwicklungen in Sachen Ausbildung von den Kammern begleitet werden. Die Menschen interessiert das alles gar nicht, sondern sie wollen ihr Leben leben. Politik hat die Aufgabe, dafür vernünftige Rahmenbedingungen zu schaffen. Deshalb ist das, was wir heute hier machen und deshalb habe ich so gerne die Schirmherrschaft übernommen, etwas, was einen Beitrag zu diesem ganzheitlichen Lebensentwurf darstellt.

Natürlich ist die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein Riesenthema, mit dem wir uns schon viele Jahre beschäftigen. Aber wir haben auch die Erfahrung gemacht, dass eben nicht alles am besten per Gesetz und über gleiche Anordnung für alle Menschen in Deutschland gelingt. Deshalb ist Raum für Freiwilligkeit so wichtig. Aber deshalb ist es auch so wichtig, dass wir als Politik in diesem Raum gute Beispiele finden, weil ansonsten der Druck, eine einheitliche Regelung, ein Gesetz zu schaffen und alles über einen Leisten zu scheren, immer wieder zunimmt.

Darin liegt auch die besondere Bedeutung, bei diesem Wettbewerb mitzumachen. Ich bin in meinem jüngsten Video-Podcast gefragt worden, ob er überhaupt bei so vielen Unternehmen in Deutschland eine relevante Größe sei. Ich habe mich gefreut, sagen zu können, dass sich in dem ganzen Netzwerk zum Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie schon über 4.000 Unternehmen engagieren. Ich glaube, das ist eine sehr, sehr gute Sache.

Es geht um die Bedürfnisse von Familien. Deshalb ist die einheitliche rechtliche Regelung auch nicht immer der richtige Weg. Es müssen natürlich die großen Leitplanken eingeschlagen werden. Ich will mich jetzt nicht etwa gegen den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz, den wir Gott sei Dank schon eine Weile haben, oder gegen den Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz für Kinder unter dreiJahren, an dessen Umsetzung wir arbeiten, aussprechen. Nicht alles, was das Leben zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie beinhaltet, kann aber über Gesetze entstehen, weil Familien ganz individuelle Bedürfnisse haben und Unternehmen im Übrigen auch ganz individuelle Anforderungen an ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben. Deshalb ist es wichtig, dass dieser Raum, etwas individuell zu regeln, ausgenutzt wird.

Sie, die Sie hier als Teilnehmer des Wettbewerbs sitzen, zeigen, in welch vielfältiger Weise man Lösungen finden kann und wie Modelle entstehen. Ich hoffe natürlich, dass sich eine Beispielfunktion, eine Vorbildfunktion aus diesem Wettbewerb heraus entwickelt und dass sich Menschen in anderen Unternehmen anschauen, was möglich ist und wie sie vielleicht einen ähnlichen Weg gehen können.

Zweifelsohne ist die Frage "Wo sind die Kinder?" ein zentrales Thema Frau Hahlweg hat das ja eben anhand ihres Beispiels schon aufgezählt. Der Arztbesuch ohne den fürsorgenden Vater wäre vielleicht nicht möglich gewesen, und den können wir auch nicht staatlich verordnen. Insofern sind die Fragen der Kinderbetreuung immer wieder breit zu betrachten. Letztlich Kristina Schröder weist darauf immer wieder hin geht es um Zeit. Es geht um die Verfügbarkeit von Zeit sowohl für Arbeit als auch für Familie und darum, wie wir das am besten hinbekommen können.

Wir gehen als Bundesregierung von dem Modell aus, dass Eltern Wahlfreiheit brauchen. Wir wissen auch, dass Eltern die volle Wahlfreiheit über viele Jahre hinweg nicht hatten und auch heute noch nicht haben. Das hängt zum einen mit der materiellen Situation einer Familie zusammen, aber das hängt zum anderen auch mit der Verfügbarkeit von Kinderbetreuungsangeboten zusammen. Deshalb ist der Kita-Ausbau, also der Ausbau der Betreuung für die unter Dreijährigen, im Augenblick unser Schwerpunkt. Kristina Schröder hat richtigerweise gesagt und sagt es immer wieder: Wir fühlen uns als Bund, obwohl wir nach dem Grundgesetz gar nicht dafür zuständig sind, doch mitverantwortlich dafür und haben uns deshalb auch materiell an dieser Stelle engagiert. Wir werden auch dauerhaft einen Anteil an den Betriebskosten der Kinderbetreuungseinrichtungen für die unter Dreijährigen leisten.

Das Betreuungsgeld, über das im Augenblick diskutiert wird, reiht sich im Übrigen in das Thema Wahlfreiheit ein. Es geht dabei nämlich keineswegs darum, ob ein Elternteil berufstätig ist oder nicht, sondern nur um die Frage, ob eine staatlich geförderte Kinderbetreuungseinrichtung in Anspruch genommen wird.

Die ganze Diskussion über die Betreuung von unter Dreijährigen ist allerdings auch deshalb so virulent, weil Eltern heute unentwegt spüren, dass entweder keine Betreuungsplätze vorhanden sind weder bei einer Tagesmutter noch in einer Einrichtung oder aber dass die Zeiten, innerhalb derer sie zur Verfügung stehen, noch nicht ausreichend zu den Erwartungen an die eigene Lebensgestaltung passen. Deshalb ist auch das Bild, das es hier gibt, so hübsch: Nämlich dass dort, wo es sich anbietet, auch der Betriebskindergarten eine gute Sache sein kann. Diese Frage reduziert sich sicherlich nicht nur auf die Parkplätze, aber wenn überall auch ein kleines Parkplatzschild für die jungen Anwesenden auf dem Betriebsgelände vorhanden ist, dann ist das sicherlich schön.

Meine Damen und Herren, wir wissen und Kristina Schröder hat das eben auch noch einmal gesagt dass die wesentliche Frage eigentlich lautet: Wie können wir die Zeit für Beruf und für Familie besser aufteilen? In dieser Hinsicht hat die Bundesfamilienministerin eben darauf hingewiesen: Die Väter sind eher und verstärkt gefordert, wenn es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu Hause geht. Die Vätermonate im Rahmen des Elterngeldes haben sich im Übrigen als ein wirklicher Renner erwiesen, und damit denkt natürlich auch der Betrieb um. Denn wenn plötzlich nicht mehr sicher ist, wer wann welche Auszeit von der beruflichen Tätigkeit nimmt, dann kann die Karriereplanung von Frauen und Männern auch nicht mehr so unterschiedlich angegangen werden. Und die Themen Frauen in Führungspositionen bzw. Aufstiegsmöglichkeiten sind natürlich auf der anderen Seite auch ganz wesentliche Themen.

Ich finde es sehr wichtig, dass die Bundesfamilienministerin immer wieder Wert darauf legt, die Dinge flexibler zu gestalten und eben auch eine Großelternzeit ins Gespräch zu bringen. Es ist nämlich keineswegs immer so, dass sich Eltern, wenn die Kinder einmal aus der Betreuungsphase heraus sind, völlig aus der Familienverantwortung verabschieden wollen, sondern im Gegenteil: Großeltern sind oft auch gerne bereit, sich um die kleineren Kinder zu kümmern das sehen wir auch genauso im Pflegebereich und versuchen, möglichst vielfältige Modelle anzubieten.

Meine Damen und Herren, natürlich ist gerade auch das Thema Wiedereinstieg wichtig. Bei den Diskussionen, die wir führen, neigen wir in Deutschland manchmal sehr dazu, einen einzelnen Aspekt in den Vordergrund zu stellen. Viele Jahre lang haben wir uns über die Betreuung der unter Dreijährigen relativ wenig Gedanken gemacht öffentlich jedenfalls. Dann haben wir endlich gehandelt das war in der Zeit der Großen Koalition ein ganz wichtiger Schritt. Jetzt setzen wir unser Ziel um. Wir vergessen manchmal, dass es vielleicht ab und zu auch Eltern gibt, die ein einjähriges Kind noch ein wenig zu Hause behalten möchten. Bis zum 15. Monat führt ohnehin das Elterngeld einschließlich der Vätermonate. Aber auch danach kann manch einer vielleicht noch eine Lösung suchen, bei der er noch nicht mit dem vollen Berufseinstieg wieder dabei ist. Das muss nicht sein, aber die Eltern sollen es wählen können.

Es ist wichtig, dass wir auch das mit Leben erfüllen, was schon seit Langem gilt, nämlich dass Frauen meistens sind es die Frauen einen Rechtsanspruch haben, in den Beruf zurückzukehren, und zwar drei Jahre lang. Sie müssen gute Wiedereinstiegsmöglichkeiten bekommen, egal ob sie nach einem Jahr, anderthalb Jahren, zwei Jahren oder drei Jahren zurückkommen. Auch hier hapert es an vielen Stellen durchaus noch immer.

Meine Bitte ist auch, die gesamte Karriereplanung, die in Betrieben gemacht wird, etwas flexibler zu sehen, denn sie ist an vielen Stellen ob in den Hochschulen oder in den Unternehmen sehr männlich ausgerichtet. Ich sage Ihnen: Mancher Stresstest kann auch in der Familie absolviert werden und muss nicht extra in Ermangelung der Erfahrung in der Familie in einem Crashkurs des Unternehmens gemacht werden. Flexibilität, Improvisationskunst, Spontaneität all das können Sie in der Familie haben. Ich sage nicht, dass, wer Führungsverantwortung haben will, eigentlich ein Praktikum in der Familie absolviert haben muss, aber es ist fast so, meine Damen und Herren. Wir könnten uns viele Kosten sparen, indem wir die Führungskräfte einfach einmal eine Weile zu Hause lassen und sich um ihre Kinder oder vielleicht die älteren Eltern kümmern lassen. Was ich sagen möchte, ist: Lebenserfahrungen aus den verschiedenen Bereichen des Lebens sind bereichernd. Wenn dieses Denken in Deutschland mehr Einzug erhält, und nicht das Spartendenken, das Sektorendenken hier die Berufswelt, dort die Familie, dann haben wir viel gewonnen.

Wenn wir ganz ehrlich sind, so ist diese extrem strenge Aufteilung zwischen Arbeitswelt und Familienwelt historisch gesehen eine Aufteilung der Industriegesellschaft, in der aus den schweren Arbeitsbedingungen heraus eines Tages der Wohlstandsgedanke mit dem "Du musst nicht mehr arbeiten" verbunden wurde, sozusagen als höchste Erfahrung des Wohlstandes, der Lebensqualität, des Lebensstandards. Das hat sich dann ein bisschen dahingehend verselbstständigt, dass es für den einen Teil der Familie extrem bequem war, immer in einen gemachten Haushalt zurückzukehren, während der andere Teil der Familie, der sich um die Kinder und den Haushalt kümmern musste, eigentlich eine große Enttäuschung erlebte, weil trotz guter Bildung die Berufschancen nicht ergriffen werden konnten.

Diese Trennung in unserer modernen Dienstleistungsgesellschaft mit einem guten und wichtigen industriellen Unterbau aufzuheben, ist die Aufgabe der Stunde. Wenn wir uns einmal das Handwerk anschauen, wenn wir uns die landwirtschaftlichen Betriebe anschauen, dann sehen wir doch, dass dort ganz selbstverständlich die Frauen immer auch eine Rolle im Unternehmen gespielt haben. Das weiter auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer herunterzubrechen, ist ein ganz wichtiger Beitrag.

Ich habe neulich in anderem Zusammenhang, nämlich im Zusammenhang des demografischen Wandels, das Beispiel eines Automobilunternehmens gebracht. Dort hat man versucht, mit älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eine Produktionsstraße zu betreiben. Die Taktfrequenz wurde dadurch etwas verlangsamt, aber das Ergebnis war zum Schluss genauso gut oder besser, weil die Zuverlässigkeit, die Routine, die Erfahrung einfach für die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gesprochen hat. Genau solche Versuche könnte man meiner festen Überzeugung nach auch mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern machen, die Familie und Beruf zusammenbringen wollen. Sie konzentrieren sich oft ganz gewaltig auf die jeweilige Aufgabe und haben ein sehr gutes Zeitmanagement. Deshalb sage ich: Gebt Familien eine Chance, auch im Berufsleben.

Bevor wir zu viel über Fachkräftemangel jammern, schauen wir erst einmal, dass wir Familie und Beruf besser zusammenbringen. Ich predige wie immer in der falschen Kirche, denn alle, die hier sind, machen das. Deshalb: Danke schön dafür. Sagen Sie es weiter. Und jetzt bin auch ich gespannt, was bei der Entscheidung der Jury herausgekommen ist.

Herzlichen Dank, dass ich hier sein darf.