Redner(in): Angela Merkel
Datum: 18. April 2013
Untertitel: in Berlin
Anrede: Sehr geehrter Herr Erzbischof Zollitsch,sehr geehrter Herr Prälat Neher,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2013/04/2013-04-18-merkel-caritas.html
Liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Kabinett und aus dem Deutschen Bundestag und vor allen Dingen Sie alle, die Sie heute hier bei der Caritas sind, für die Caritas arbeiten und zu dieser Tagung gekommen sind,
Ich freue mich sehr, heute bei Ihnen zu sein. Mit Ihrem Jahresempfang und Ihrer diesjährigen Kampagne rücken Sie die Familie dorthin, wo sie hingehört: in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit gebührt ihr nicht nur in der Politik, sondern eben auch in der Gesellschaft. Ich bin sehr dankbar dafür, Herr Prälat Neher, dass Sie das Motto "Familie schaffen wir nur gemeinsam" gewählt haben.
Die Familie ist die Keimzelle unserer Gesellschaft so wurde es heute Abend schon gesagt. In der Familie entsteht etwas das ist vor allen Dingen für uns als Politiker wichtig, das wir durch kein Gesetz verordnen können. Wir können Rahmenbedingungen schaffen wie wir so schön sagen, wir können Maßnahmen ergreifen, aber wir haben keine Garantie, dass dies bei den Menschen auch das auslöst, was wir uns wünschen, nämlich dass Menschen für andere Menschen dauerhaft Verantwortung übernehmen. Der Erzbischof hat soeben gesagt: Diese dauerhafte Verantwortung ist unkündbar. Das gilt für die Verantwortung der Eltern für ihre Kinder, das gilt ebenso für die Verantwortung der Kinder für ihre Eltern, das gilt über Generationen hinweg. Familien haben, glaube ich, auch immer ein Geheimnis, weil sie uns ein wenig davon mitteilen, woher wir kommen und was nach uns kommen wird, was natürlich auch immer eine spannungsgeladene Sache ist. Familie schaffen wir nur gemeinsam " das ist richtig. Dennoch haben schon die Väter und Mütter des Grundgesetzes darauf geachtet, dass Familien unter den besonderen Schutz des Grundgesetzes gestellt wurden. Der Staat kann die Leistungen von Familien niemals vollständig ersetzen. Er kann versuchen, Teilaufgaben zu delegieren, damit etwas Ähnliches wie in einer Familie entsteht. Aber ersetzen kann er ihre Leistungen nicht. Deshalb ist es so wichtig, dass wir auf der einen Seite politisch alles tun, um Familien zu unterstützen. Wir müssen sie als Teil unserer Gesellschaft stärken und kräftigen. Auf der anderen Seite müssen wir sie trotzdem in ihrer Einzigartigkeit respektieren.
Jede familienpolitische Diskussion ist davon geprägt, dass jeder dazu eine Meinung beizutragen hat. Jeder kommt aus einer Familie, jeder lebt in einer Familie, wie auch immer sie gestaltet ist. Wie schnell ist man der Meinung, dass man seine eigene Überzeugung oder die seiner Bekannten zum Allgemeinmaßstab erklären sollte? Deshalb rate ich dazu, dass wir bei allen kontroversen Auseinandersetzungen sehr respektvoll mit den Lebenswünschen von Familien umgehen und alles dafür tun, dass sich die verschiedensten Lebenswünsche von Familien in unserer Gesellschaft auch realisieren lassen.
Wenn ich einmal freimütig aus meiner eigenen Partei plaudere: Als ich nach dem Fall der Mauer Frauenministerin wurde, habe ich mich erst einmal selber in die Nesseln gesetzt, weil ich in Pulheim in Nordrhein-Westfalen auf die strenge Frage einer Frau aus Nordrhein-Westfalen, warum die Frauen im Osten so viel Rente bekämen, geantwortet habe, sie hätten eben auch gearbeitet. Daraufhin gab es einen entsetzten Aufschrei. Ich habe dann sofort erklärt, dass ich eine etwas eindimensionale Vorstellung von Arbeit hätte und dass Arbeit selbstverständlich umfassend zu verstehen sei wie auch die Familienarbeit. Damit habe ich wieder einigermaßen Frieden im Saal hergestellt.
Aber, meine Damen und Herren, die Tatsache, dass wir heute immer noch scharfe politische Diskussionen über die Frage führen, wie denn nun die Erziehungszeiten von Kindern im Rentenrecht anerkannt werden sollen, zeigt, dass der spitze Aufschrei das eine und die Frage, wie wir Arbeit in unserer Gesellschaft bewerten, das andere ist. Da ist es ja nun nicht ganz unstrittig Sie werden hier ja noch zwei Tage diskutieren, Herr Prälat Neher, wie schmal denn die Gratwanderung ist zwischen dem Sich-Einbringen in eine Familie als ein natürliches menschliches Verhalten auf der einen Seite und der Kommerzialisierung jeder Art von Tätigkeit in der Familie hin zu einer gerechten Behandlung auf der anderen Seite. Ich finde, diese Frage ist nicht abschließend gelöst; und sie wird wahrscheinlich noch viele Jahre Gegenstand der gesellschaftlichen Diskussion sein.
Man hat irgendwann Mitte der 80er Jahre das Zauberwort der Wahlfreiheit erfunden. Die Mehrheit zumindest derer, die damals die Entscheidung getroffen haben dachte, dass sie schon wisse, wie die Frauen wählen werden. Das Thema "Vereinbarkeit von Beruf und Familie" kam dabei nur zögerlich vor, weil man dachte, man interpretiere genau das, was die Frauen wollten. Dass Frauen Beruf und Familie miteinander vereinbaren wollen, wie sie es zumindest heute tun, hat man damals noch nicht gesehen. Deshalb sage ich wieder: Respekt vor den Entscheidungen der Familie.
Als ich vor etwa 20 Jahren Frauenministerin war, schaute man jedenfalls in einigen Teilen noch mit sehr großen Argusaugen auf die Frage, ob denn eine Betreuung für Kinder unter drei Jahren wirklich dringend notwendig sei. Inzwischen ist daraus nun fast eine andere Entwicklung geworden, sodass sich jeder rechtfertigen muss, der sagt: Ich möchte mein Kind im Alter von zwei und drei Jahren noch zuhause erziehen ob es nun der Vater, die Großmutter oder sonst wer ist. Ich weiß, dass ich damit keine Blumentöpfe gewinne, aber schon allein dadurch, dass diese Diskussion so vehement geführt wird, bin ich von einer sehr großen Skeptikerin, was das Betreuungsgeld anbelangt, zu einer Befürworterin geworden. Denn neben dem Rechtsanspruch auf den Kitaplatz, den wir dringend brauchen, weil eben mehr Frauen und Männer und Eltern Beruf und Familie miteinander vereinbaren wollen, sollte auch ein Signal an diejenigen gegeben werden, die die Entscheidung treffen, ihre zwei- und dreijährigen Kinder noch nicht betreuen zu lassen, sondern sagen: Wir sind als Eltern gern noch eine zeitlang mit unseren Kindern zuhause. Beides sollte möglich sein.
Die Vehemenz, mit der diese Diskussion geführt wird, zeigt natürlich, dass dahinter eine Diskussion über unterschiedliche Lebensentwürfe steht. Ich glaube, wir würden als Land vielleicht ein wenig familienfreundlicher sein, wenn nicht zu oft noch im Hinterkopf wäre, dass Familie etwas sehr Problematisches sei, insbesondere Familien mit kleinen Kindern. Manchmal werden sie wie eine Art Störfaktor aufgefasst in dem, was wir als einen reibungslosen Ablauf empfinden. Genau das darf nicht sein. Überall, wo Menschen arbeiten, leben und sich aufhalten, muss es eigentlich eine Freude sein, zumindest eine Normalität, wenn unter den Menschen, die uns begegnen, auch Menschen mit Kindern und Menschen mit kleinen Kindern sind.
Da scheint in Deutschland bereits in der Zeit der Industrialisierung etwas passiert zu sein. Solange wir in einer Agrargesellschaft gelebt haben, waren Arbeitsort und Familienort quasi identisch. Dann wurden durch die Industrialisierung Arbeitsort und Familienort zunehmend voneinander getrennt, zumindest wurde dadurch die Arbeitswelt von der Familienwelt entkoppelt.
Ich stimme der Ansicht zu, dass es jetzt nicht eine Familienpolitik geben darf, die sozusagen die 24-Stunden-Verfügbarkeit von Familien proklamiert, sondern es muss ideenreiche und kreative Antworten auf die Frage geben, wie wir Beruf und Familie so zusammenbringen, dass dies den Familien und vor allen Dingen auch den Kindern gerecht wird. Das ist einfacher gesagt als getan. Nun bin ich nicht hier, um nur philosophische oder halbphilosophische Abhandlungen zu halten, sondern Sie wollen auch wissen: Was haben wir getan?
Nachdem wir den Rechtsanspruch auf den Kindergartenplatz in den 90er Jahren eingeführt haben, führen wir jetzt den Rechtsanspruch auf den Kita-Platz ein. Der Bund hat, obwohl er für diese Aufgabe nicht verantwortlich ist, gesagt: Das ist eine gemeinsame gesellschaftliche Verantwortung; wir werden das finanziell unterstützen. Nicht jeder Bürgermeister ist begeistert. Aber das waren sie in den 90er Jahren auch nicht beim Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Das hat sich normalisiert. In zehn Jahren wird das mit den Kitaplätzen auch kein allzu großes Thema mehr sein. Der Rechtsanspruch gilt ab 01.08.2013. Das sage ich jetzt nur, damit man nicht sagt, Merkel habe das auf den Sankt-Nimmerleinstag verschoben. Trotz des Ärgers darüber, dass man das jetzt entschieden hat oder trotz der Unwilligkeit oder was auch immer, gibt es den Rechtsanspruch ab diesem Jahr.
Wir haben weiterhin gerade mit Blick auf Eltern und Kinder in der vorigen Legislaturperiode eine Sache gemacht, die sehr viele gute Wirkungen zeigt. Wir haben nämlich die Elternzeit mit den Väter-Monaten eingeführt. Zu Beginn wurden sie noch spöttisch als "Wickelvolontariate" bezeichnet. Inzwischen hat das Bundesland, aus dem der Zitatgeber herkommt, die meisten Väter-Monate; sie sind sozusagen gelebte Realität. Eigentlich ist das etwas Wunderbares. Denn seitdem sich die Väter auch im ersten Lebensjahr des Kindes häufiger mit dem täglichen Lebensablauf zuhause beschäftigen, ist sozusagen der Respekt vor der Erziehungstätigkeit gewachsen. Viele neue Erfahrungswerte werden gewonnen auch bei den Arbeitgebern, die plötzlich nicht nur bei Müttern damit rechnen müssen, dass eine gewisse Auszeit genommen wird, sondern auch bei Vätern. Genauso muss es sein. Nur wenn sich Männer und Frauen die Arbeit in der Familie teilen, wird es auch zu einer wirklich guten Teilung der Arbeit im Erwerbsleben kommen. Ich glaube wir wissen es ja auch, dass sich in diesem Bereich einiges getan hat, wenn man sich heute viele junge Väter ansieht. Und denken Sie auch an die Männer, die Erziehungstätigkeiten bislang oft erst dann kennenlernten, wenn sie Großväter geworden sind und Enkelkinder haben.
Meine Damen und Herren, wir haben gesagt, dass wir die Generationen angesichts des demografischen Wandels in unserer Gesellschaft wieder besser zusammenbringen müssen. Das Projekt der Mehrgenerationenhäuser ist sehr erfolgreich. Dabei hat sich in vielen Städten Deutschlands sehr viel Kreativität entwickelt, um Generationen wieder mehr zusammenzubringen.
Meine Damen und Herren, um nochmals auf die Kinder zurückzukommen: Ja, wir mussten das hätte ich mir als Bundesumweltministerin damals gar nicht träumen lassen das Bundesimmissionsschutzgesetz im Jahr 2011 ändern, um Kinderlärm zu privilegieren. Privilegierung von Kinderlärm bedeutet, dass er erlaubt ist. Ich glaube, es gibt auch keine Dezibel-Beschränkung wie bei Sportstätten, sondern Kinderlärm kann gewissermaßen unendlich sein. Wir haben auch das Bauplanungsrecht geändert. Auch das musste sein. Kitas sollen auch in reinen Wohngebieten künftig in einer Größe zulässig sein, die sich an den Bedürfnissen der Bewohner orientiert. Es ist eine gewisse Konditionierung. Also das heißt auf gut deutsch: Wo viele Kinder sind, darf im Wohngebiet auch ein Kindergarten größerer Art gebaut werden also dem logischen Menschenverstand folgend. Beides aber musste rechtlich geregelt werden, weil es so viele Klagen gab.
Meine Damen und Herren, wir haben uns überlegt, wie wir auch andere Gesetze gestalten können, insbesondere mit Blick auf die Pflege älterer Menschen. Wir haben die Familienpflegezeit eingeführt. Wir haben ein Gesetz zur Neuausrichtung der Pflege verabschiedet, was ich für wichtig halte, was aber sicherlich nur ein Schritt auf dem richtigen Weg in der Pflegeversicherung ist. Ich habe in der vergangenen Woche im Rahmen meiner Demografiereise, auf der ich Mehrgenerationenhäuser sowie Kinder- und Familienzentren besucht habe, auch das Seniorenzentrum St. Konrad in Melle besucht eine Einrichtung der Caritas. Das war eine große Freude für mich, weil dieses Seniorenzentrum beispielhaft dafür steht, nach dem Prinzip "so viel Eigenverantwortlichkeit wie möglich und so viel Hilfe und Betreuung wie nötig" mit den Älteren zu arbeiten und zu leben.
Meine Damen und Herren, wir müssen lernen davon bin ich zutiefst überzeugt, das Leben als einen Spannungsbogen zu begreifen, aus dem wir keine Phase des Lebens und unserer gesellschaftlichen Öffentlichkeit ausschließen dürfen. Wenn die Kinder stören oder zum Schluss wieder die Älteren stören und wenn wir dazu neigen, Behinderte in irgendwelche Kategorien einzuordnen, dann ist das eine Gesellschaft, in der die vermeintlich Normalen zum Schluss auch nicht mehr normal sind, weil sie von dem wirklichen Leben nichts verstehen.
Deshalb möchte ich die Gelegenheit nutzen, um all denen, die mit Menschen arbeiten, die entweder klein und hilfsbedürftig oder neugierig sind und etwas wissen wollen, die mit Menschen arbeiten, die eine lange Lebenserfahrung haben und im Alter schutz- und hilfsbedürftig sind also Ihnen allen, die Sie das tun, ein Dankeschön zu sagen. Ihnen gebührt ein Dankeschön, weil in Ihrer Arbeit von Ihnen etwas erwartet wird, das man in kein Gesetz schreiben kann.
Wir haben in der Pflegepolitik vieles versucht immer aus Missständen heraus, die vereinzelt aufgetreten sind. Diese Vorschriften haben zum Teil viel Verdruss erzeugt, weil sie sofort verallgemeinert und auf alle bezogen wurden. Wir haben immer wieder versucht, mit Bürokratie, Abrechnung und Aufschreiben irgendetwas zu kompensieren oder uns zu versichern, dass auch alles mit rechten Dingen passiert. Wer die langen Listen sieht, wann man zum Beispiel etwas zu trinken gegeben hat, wann man dies und wann man jenes gemacht hat, der ahnt, dass viel Frust bei denen ist, die mit viel Bürokratie kämpfen müssen. Es ist aber wieder eine Frage an die ganze Gesellschaft: Wollen wir, weil wenige etwas falsch gemacht haben, alle bestrafen und ihnen Zeit wegnehmen, die sie sonst für ihre eigentliche Arbeit mit Menschen haben könnten, oder sind wir bereit, gemeinsam zu ertragen, dass menschliches Fehlverhalten in Einzelfällen vorkommen wird? Diese Debatte deshalb bin ich Ihnen so dankbar, Herr Neher muss auch von Ihnen geführt werden. Ihre Meinungsbildung muss auch in die Politik eingebracht werden. Denn solche Fragen dürfen wir nicht allein entscheiden. Die Antworten darauf müssen aus der gesamten Gesellschaft kommen.
Ein herzliches Dankeschön an Sie alle, die Sie für die Caritas arbeiten. Sie knüpfen an eine lange Tradition an. Zum Abschluss möchte ich an Prälat Georg Hüssler erinnern, der am vergangenen Sonntag verstorben ist. Er hat 22 Jahre lang als Präsident das Bild der Caritas wesentlich geprägt. Er hat sich hierzulande und international immer in den Dienst der tätigen Nächstenliebe gestellt.
Da sich viele von Ihnen auch in aller Welt engagieren, ist es mir ein wichtiges Anliegen, dass Sie auch außerhalb Deutschlands ohne Behinderungen, Einschüchterungen oder staatliche Repressionen Ihrer Arbeit nachgehen können. Denn die Würde des Menschen ist nicht nur in Deutschland unteilbar und unantastbar. Das gilt überall auf der Welt.
Nochmals ein herzliches Dankeschön an Sie. Ich wünsche Ihnen der Caritas wie auch allen Verbänden der freien Wohlfahrtspflege alles Gute und viel Kraft für das, was Sie täglich einbringen: Nächstenliebe, eine gelebte Freiheit in Verantwortung für andere Menschen.