Redner(in): Angela Merkel
Datum: 09. April 2014

Untertitel: in Berlin
Anrede: Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Erika Steinbach,liebe Mitglieder des Präsidiums des BdV, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2014/04/2014-04-09-merkel-bdv.html


Exzellenzen, insbesondere der neue Doyen des Diplomatischen Korps, der Apostolische Nuntius, sehr geehrte, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Bundes- und Landesparlamenten und natürlich auch aus dem Kabinett,

Lieber Herr Knopp, auch ich möchte Ihnen ganz herzlich gratulieren. Ich halte es für eine wunderbare Idee nicht nur für eine Idee, sondern auch für ein einlösbares Versprechen, dass die Dokumente in einem "Sichtbaren Zeichen", im Zentrum gegen Vertreibungen, ihren Platz haben werden und, wie ich denke, sehr viel Interesse finden werden. Liebe Frau Steinbach, ich verspreche, dass wir alles tun werden, damit das Tempo zur Fertigstellung des Dokumentationszentrums nicht nachlässt. Ich gebe zu, dass ich vor lauter Koalitionsverhandlungen und anderen Dingen seit der Grundsteinlegung kein unmittelbares Augenmerk mehr auf die Sache gelenkt habe. Aber, meine Damen und Herren, der Empfang des BdV ist ja auch dazu da, wieder in Erinnerung zu rufen, was man sonst noch zu tun hat.

Sie überschreiben das Jahr 2014 Frau Steinbach hat eben darüber gesprochen mit dem Motto "Deutschland geht nicht ohne uns". Ob das nun als reine Feststellung oder als Aufforderung gemeint ist, sich für das Wohl des Landes einzubringen in jedem Fall regt dieses Leitwort zum Nachdenken an; und zwar über die Namen, die Erika Steinbach hier für uns noch einmal zum Revuepassieren sehr interessant vorgetragen hat, aber auch zum Nachdenken über die eigene Identität, über unsere Geschichte und auch über unsere heutige Realität.

Ihr Leitwort provoziert geradezu die Gegenfrage: Wie sollte es auch ohne Sie gehen? Flucht und Vertreibung sind Teil unserer Geschichte. In Deutschland leben Millionen Menschen, die entweder selbst flüchten mussten, vertrieben wurden oder Angehörige jener sind, die dieses Schicksal erlitten haben. Wer kann schon ohne Vergangenheit leben? Herkunft und Geschichte der Familie und erst recht das selbst Erlebte hinterlassen immer Spuren. Das gilt gerade auch für leidvolle Erfahrungen. Wir alle wissen: Verdrängen hilft da überhaupt nicht.

In der ehemaligen DDR war Verdrängen Teil der staatlichen Vorgaben. Die Gründung landsmannschaftlicher Organisationen war untersagt. Das Vertreibungsschicksal war jahrzehntelang tabu. Erst nach dem Fall der Mauer vor 25 Jahren konnten die Vertriebenen auch im Osten unseres Landes und damit in ganz Deutschland endlich offen und öffentlich über ihre schrecklichen Erfahrungen sprechen. Wenn man heute darüber spricht, was seit der Wiederherstellung der Deutschen Einheit geleistet oder nicht geleistet wurde, dann kommen aber Fragen über die eigene Identität und eigene Wurzeln in unseren Wertungen dennoch zu kurz.

Leid und Unrecht verschweigen zu müssen oder gar missachtet zu sehen das sorgt für Verbitterung. Geschichte anzunehmen, wie sie war und ist das vermag den Weg zur Versöhnung zu ebnen. Daher ist Erinnerung auch in der Öffentlichkeit angemessen Raum zu geben. Dies bedeutet, Erlebtes zu benennen, ohne es gegeneinander aufzurechnen. Denn an das Leid des einen zu erinnern, heißt keineswegs, das Leid des anderen zu vergessen. Leid lässt sich ebenso wenig wie Unrecht relativieren. Erlittenes Unrecht ist nie relativ, sondern immer persönlich. Unrecht bleibt Unrecht und ist als solches auch zu benennen. Dabei wissen wir ganz genau, dass das Leid, das Deutschland mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust über Millionen Menschen gebracht hat, zum Ende des Krieges letztlich auf uns Deutsche zurückschlug. Wir verwechseln Ursache und Wirkung nicht. Gedenken im Geiste der Versöhnung nimmt beides in den Blick.

Das Jahr 2014 mahnt uns ja dazu, denn es ist wirklich ein großes Gedenkjahr. Wir denken an den Beginn des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren und an den Beginn des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren. Im November erinnern wir an den Fall der Berliner Mauer vor 25 Jahren. Diese Gedenktage bieten die Chance, besonders auch Jüngere anzusprechen und ihr Geschichtsbewusstsein zu schärfen durch Berichte, durch Erzählungen, durch Möglichkeiten, sich zu vergegenwärtigen, wie es in den Zeiten vor dem eigenen Leben war. Die junge Generation wächst ja heute in einem Europa mit offenen Grenzen auf in Frieden und Freiheit; Gott sei Dank. Wenn junge Menschen heute ihre Heimat verlassen, dann jedenfalls in Europa in der Regel aus freiem Entschluss. Sie ziehen von sich aus an einen anderen Ort, um dort zu leben, wo sie sich wohlfühlen, und dort zu arbeiten, wo sie die besten Chancen für sich sehen. Den allermeisten steht es auch frei, jederzeit wieder zurückzukehren.

Deshalb ist es so wichtig, dass wir immer wieder daran erinnern: Menschen mit einem Vertreibungsschicksal hatten und haben keine Wahl. Sie wurden und werden gegen ihren Willen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen häufig über Nacht; zumeist nur mit den notwendigsten Habseligkeiten. Wir sehen uns auch heute mit Flucht und Vertreibung konfrontiert. Ich erinnere nur an Syrien, wo in diesen Tagen Hunderttausende vor dem grausamen Bürgerkrieg fliehen, um die Chance auf ein Überleben zu wahren. Ich kann mir vorstellen, dass gerade die Älteren unter Ihnen hier besonders mitfühlen, denn sie haben als junge Menschen erfahren, was es heißt, Angst um das eigene Leben zu haben. Sie wissen, was es bedeutet, sich auf den Weg ins völlig Ungewisse machen zu müssen.

Das tiefe Gefühl des Verlusts können jüngere Generationen ja allenfalls nachempfinden. Das aber zumindest zu versuchen das ist absolut notwendig. Denn so lässt sich unser aller Auftrag wirklich verinnerlichen, alles dafür zu tun, dass es auf unserem Kontinent nie wieder zu Flucht und Vertreibung kommt. Das Dokumentationszentrum der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung ist dabei ein wichtiger Ort, um Geschichtsbewusstsein und Verantwortungsbewusstsein für die Zukunft zu schärfen.

Wer die Geschichte unseres Kontinents kennt, dem erschließt sich das große Geschenk der europäischen Einigung. Es ist das große Versprechen von Frieden, von Freiheit, von Wohlstand in Europa; und das seit mehr als einem halben Jahrhundert. Wie kostbar dieses Geschenk ist, sehen wir in diesen Tagen und Wochen an den Ereignissen in der Ukraine, nur wenige Flugstunden von hier entfernt. Es ist ein Geschenk, das wir schützen und stets aufs Neue verteidigen müssen. Den deutschen Minderheiten in Osteuropa kommt dabei eine wichtige Brückenfunktion zwischen unseren Völkern und Nationen zu. Auch deshalb bekennt sich die Bundesregierung weiterhin zur Verantwortung für die deutschen Minderheiten. Ich danke allen, die diese Brückenfunktion im Alltag lebendig halten. Danke für Ihren Einsatz.

Und so, meine Damen und Herren, komme ich auf Ihr diesjähriges Leitwort "Deutschland geht nicht ohne uns" wieder zurück, über das ich schon zu Beginn gesprochen habe. Wir spüren, wie wichtig, wie aktuell dieses Leitwort ist und wie treffend es das Selbstverständnis der Vertriebenen zum Ausdruck bringt. Die Vertriebenen haben Deutschland mit aufgebaut. Sie haben neue Brücken zu unseren Nachbarn geschlagen. Sie haben großen Anteil daran, dass Deutschland seinen Platz in der Weltgemeinschaft gefunden hat.

Deutschland ging in der Vergangenheit nicht ohne die Heimatvertriebenen und es wird auch in Zukunft nicht ohne sie und ihre Familien gehen. Denn sie leben mit dem Wissen, wie kostbar, aber auch wie verletzlich das hohe Gut eines friedlichen und freiheitlichen Miteinanders der Völker Europas ist. Dieses aus persönlicher Betroffenheit genährte Wissen macht Vertriebene und ihre Familien zu überzeugenden Botschaftern eines geeinten Europas, das sein Versprechen von Frieden, Freiheit und Wohlstand auch in Zukunft erfüllen kann. Dafür möchte ich Ihnen und dem gesamten Bund der Vertriebenen an dieser Stelle meinen aufrichtigen Dank sagen. Sie verwalten einen Schatz, teilweise einen traurigen Schatz von Erlebnissen, der unwiederbringlich ist und der deshalb gepflegt, geachtet und bewahrt werden muss.

Herzlichen Dank.