Redner(in): Angela Merkel
Datum: 23. April 2014
Untertitel: In Heidelberg
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2014/04/2014-04-23-merkel-dkfz.html
In Heidelberg
Sehr geehrter Herr Professor Wiestler,
Herr Professor Puchta,
Herr Professor zur Hausen,
Frau Ministerin,
liebe Kollegen aus dem Bundestag und vielleicht auch aus dem Landtag,
liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Deutschen Krebsforschungszentrums,
liebe Partner, Freunde und Förderer des Forschungszentrums, die ich jetzt nicht alle aufzählen kann,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
50 Jahre DKFZ das sind 50 Jahre Spitzenforschung. Daher bin ich sehr gerne in diesem bemerkenswerten Jubiläumsjahr hierhergekommen. Ich habe anlässlich meines heutigen Besuchs nicht zum ersten Mal von dieser Einrichtung gehört, freue mich aber, zum ersten Mal hier zu sein.
Das Thema, das Sie bearbeiten und dafür einen guten Teil Ihres Lebens und Ihrer Leidenschaft einbringen, ist ein Thema, das die Menschen im ganzen Land und auf der ganzen Welt umtreibt: Krebs. Krebsfälle in der eigenen Familie, im Bekanntenkreis jeder kennt sie. Jeder weiß, was es für eine Schocknachricht ist, wenn Krebs diagnostiziert wird. Sie haben es auch gesagt, Herr Professor Wiestler: Etwa eine halbe Million Menschen in Deutschland erkranken jährlich an Krebs. Es ist ein so einfaches und kurzes Wort und doch eine Krankheit, die in der Entstehung und im Verlauf kaum komplexer sein könnte. Es ist sozusagen eine der Volkskrankheiten, wobei ich heute gelernt habe, dass andere Volkskrankheiten darauf einwirken, dass diese Volkskrankheit zunimmt.
Hier finden Sie Antworten auf drängende Fragen: Wie entsteht Krebs? Worin liegen die Risiken? Was ist daraus für Prävention und patientenspezifischen Behandlungsmethoden abzuleiten? Ich bin ja keine Forscherin in Ihrem Bereich, aber ich vermute, über die 50 Jahre hinweg ist Ihre Arbeit nicht uninteressanter und nicht unspektakulärer geworden. Denn mit der Entwicklung der Computer, mit der Möglichkeit, Daten zu verarbeiten, sind ja Dinge in Gang gekommen, von denen man bei der Gründung dieses Zentrums nichts ahnen konnte. Die Tatsache, dass man heute für einige tausend Euro das Genom jedes Patienten entschlüsseln kann, dass man in die Zellstrukturen sozusagen hineingehen kann, dass man die Zellen einzeln behandeln kann das sind ja eigentlich wunderbare Entwicklungen. Insofern sind Sie alle hier auch gar nicht irgendwie zu bemitleiden, sondern Sie haben eine tolle Arbeit jeden Tag etwas Neues und dazu auch noch die richtigen Instrumente.
Ich vermute, Krebsforschung in der heutigen Zeit ist eine sehr dynamische Sache. Es stellt sich eher die Frage, wie viele Ressourcen die Gesellschaft bereit ist, in diese Entwicklung oder in die Vorentwicklungen zu investieren, als die Frage, ob man nichts Neues entdecken könnte. Ich durfte mich an zwei Beispielen davon überzeugen lassen, wie motiviert, wie passioniert, auf welch hohem Niveau hier gearbeitet wird und mit welch unterschiedlichen Fragestellungen Sie sich hier befassen. Ich konnte mich im Gespräch mit jungen Wissenschaftlern auch noch einmal davon überzeugen, wie lebenswichtig und wie wunderbar die Kooperation hier auf dem Campus ist und wie sehr sich die Arbeiten in den Klinika und in der Forschung gegenseitig befruchten. Deshalb ist das DKFZ sicherlich nicht nur eine nationale Größe, sondern auch international eine anerkannte und hochgelobte Institution.
Forschung auf internationalem Spitzenniveau das ist ein Markenzeichen des DKFZ, das auch Bindekräfte für gute Wissenschaftler entwickelt: erfahrene Wissenschaftler, die gerne hier arbeiten, genauso wie Nachwuchskräfte. Ich darf vielleicht noch hinzufügen: Auch das Lebensumfeld hier im Heidelberger Raum ich sage das als Norddeutsche, die sehr wohl auch die Vorzüge des Nordens kennt ist ja nicht so, dass man auf der Welt nicht noch schlechtere Orte finden würde. Es ist echt etwas Gutes hier.
Spannend ist, dass mehr als ein Drittel der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen nichtdeutschen Hintergrund hat. Das heißt, die internationale Ausrichtung wird hier gelebt und bürgt für die anerkannte Exzellenz. Ein herausragendes Beispiel ist natürlich der Nobelpreis, den Herr Professor zur Hausen im Jahr 2008 bekommen hat. Ich glaube, dass man sagen darf, lieber Herr Professor zur Hausen, dass das DKFZ und der Wissenschaftsstandort Deutschland und viele, viele Frauen, deren Krankheit des Gebärmutterhalskrebses heute besser geheilt werden kann, Ihnen viel zu verdanken haben. Danke für Ihre Arbeit, die Ihrer Schüler und aller, die dazu beigetragen haben. Nachwuchsförderung wird hier ja auch großgeschrieben.
Ich darf sagen, dass ein solcher Besuch mich auch davon überzeugt, dass das, was wir in der Forschungspolitik im Bund und auch in Kooperation mit den Ländern auf den Weg bringen, hier nicht nur eine gute Anwendung findet, sondern dass man an der Anwendung auch erkennen kann, dass die jeweiligen Bemühungen in eine vernünftige Richtung zusammenfließen. Es ist ja wichtig, dass Politik sich für Wissenschaft interessiert, aber nicht so, dass sie auch noch vorgibt, was die Wissenschaftler machen sollen. Sie soll also dafür sorgen, dass im Budget der jeweiligen Ebene von Bund und Ländern finanzielle Mittel ausreichend vorhanden sind und dass man Strukturen schafft, in denen die wissenschaftliche Exzellenz selbst die Verwaltung übernehmen und für die notwendige Erneuerung sorgen kann.
Wenn ich mir das deutsche System anschaue, dann würde ich sagen: Es gibt ein breites Spektrum guter Organisationen von den verschiedenen Institutionen wie der Helmholtz-Gemeinschaft, der Leibniz-Gemeinschaft, der Max-Planck-Gesellschaft, der Fraunhofer-Gesellschaft bis hin zu Kooperationen von Bund und Ländern, wobei wir im internationalen Wettbewerb sicherlich darauf achten müssen, den Föderalismus als Chance zu sehen und nicht als Hemmschuh. Daran arbeiten wir, auch wenn das nicht in jedem Moment trivial ist.
Ich glaube, wir haben mit dem Einschwenken auf das Prinzip der Exzellenz in den letzten Jahren viel bewegen können. Das hat schon vor 2005 begonnen. Das ist systematisch fortgeführt worden. Das Prinzip haben wir mit dem European Research Council auch in Europa gut verankern können. Deutschland profitiert ja auch von diesen Institutionen. Auf diesem Weg sind wir ein Land, von dem wir auch sagen können: Es gibt hier Berechenbarkeit. Sie haben klare Ansagen für die zukünftigen Finanzierungen zunächst bis 2015 die fünfprozentigen Steigerungen für außeruniversitäre Forschungseinrichtungen und danach, wenn wir als Bund den Länderanteil übernehmen, eine jährlich dreiprozentige Steigerung. Berechenbarkeit und Verlässlichkeit sind also auch Ausdruck der Attraktivität unserer Forschungsstandorte. Das ist mir auch hier gesagt worden. Diese Planbarkeit müssen wir fortentwickeln und dabei Ihnen zutrauen, dass Sie die entsprechenden Schwerpunkte so setzen, wie es für unsere Exzellenz in Deutschland gut ist.
Was wichtig ist und was man hier ja sozusagen mit Händen greifen kann, das ist die Tatsache, dass die Nachwuchsförderung eine Riesenbedeutung hat und dass vor allen Dingen auch Frauen hier Chancen haben. Ich habe schon gefragt, ob man mir nur die herausragendsten Beispiele gezeigt habe und alles andere viel schlechter aussehe. Aber es wurde beteuert, dass Männer und Frauen gleichermaßen hier sehr gute Chancen haben. Das ist auch dringend notwendig, denn wir sehen: Es beenden mehr Frauen als Männer ein Studium; noch 45 Prozent derer, die promovieren, sind Frauen; es sind aber nur noch 27 Prozent bei der Habilitation und dann nur noch 20 Prozent bei den Professuren. An dieser Zahlenfolge ein bisschen etwas in Richtung Homogenisierung zu ändern, ist eine wichtige Aufgabe. Wir brauchen hochqualifizierte Männer und Frauen gleichermaßen. Hierbei bedarf es erst einmal einer gewissen Grundeinstellung. Und diese scheint mir hier vorhanden zu sein. Dafür sage ich einfach danke, denn in Deutschland ist es relativ weit verbreitet, in der Vereinbarkeit von Beruf und Familie unüberbrückbare Schwierigkeiten zu sehen, die international gar nicht so gesehen werden.
Es bedarf hoher Flexibilität, um beiden Ehepartnern oder Partnern, Eltern in einem bewegten Wissenschaftlerleben Berufschancen einzuräumen. Das Wissenschaftlerleben wird immer mobiler sein als das anderer Berufsgruppen. Aber wenn man Kinder und Beruf und Karriere, also Mann- und Frau-Karriere, gleichermaßen zusammenbringen will, dann bedarf es eines gewissen Grundverständnisses. Es geht natürlich um familienfreundliche Strukturen, aber es geht auch um Zeithorizonte, in denen man sich zutraut, eine Familie zu gründen und nicht schon wieder den nächsten Karriereschritt zu leisten. So müssen Sie nicht nur Krebsforschung individualisiert an der Persönlichkeit ausrichten, sondern auch die Forscherkarrieren individualisiert planen. Das ist ja auch eine moderne Herangehensweise.
Wir haben in den letzten Jahren eine interessante Sache eingeführt: die sogenannten Vätermonate beim Elterngeld, womit auch Väter Erziehungszeiten nehmen können. Das führt dazu das ist sozusagen mein Traumziel, dass ein Arbeitgeber nicht mehr weiß egal, ob er die Frau oder den Mann einstellt, wie sich das Paar dann in der Aufteilung der Erziehungspflichten entscheidet. Wenn das erreicht ist, dann werden die Frauen auch gute Chancen haben und die Männer mehr Freude an den Kinderchen. Ich sage in anderem Zusammenhang oft: Es muss ja nicht immer so lange dauern, bis jemand Großvater wird, dass er die Freude am Baby entdeckt, sondern es kann ja durchaus auch beim Vater schon so sein. Das ist jetzt aber an die Älteren hier gerichtet; die jüngeren Väter sind heute in diesen Dingen schon ganz anders dabei.
Meine Damen und Herren, wir haben gewaltige Fortschritte bei dem, was an Grundlagenforschung und ihrer Verbindung mit der Praxisanwendung möglich ist. Deshalb will ich hier einmal Hermann von Helmholtz zitieren, der schon gesagt hat: "Wissen allein ist nicht Zweck des Menschen auf der Erde. Das Wissen muss sich im Leben auch betätigen." Das hier ist eigentlich gelebte Helmholtzsche Ideenkultur. Und deshalb sind Sie auch ein wichtiger Bestandteil der Helmholtz-Gemeinschaft, kooperierend mit vielen anderen Institutionen. Es sind von Ihnen, Herr Professor Wiestler, ja schon viele genannt worden. Ich will nur noch sagen, dass wir in Deutschland offen sein sollten, auch gerade was die Krebsinformationen anbelangt, was das Erfassen von Daten anbelangt und damit auch die Möglichkeit, auf einen Fundus zurückzugreifen. All das wird hier getan, zusammen mit vielen anderen Organisationen, denen ich für ihre Arbeit in diesem Rahmen natürlich auch danken möchte.
Für mich ist die Tatsache, dass das DKFZ eine Perle in der deutschen Forschungslandschaft ist, ein ganz wichtiges Symbol auch deshalb, weil man eines nicht unterschätzen darf: Es gibt viele Forscher, die in Gebieten arbeiten, die durch die normale Bevölkerung nicht so schnell erschlossen werden können, wie das bei der Krebsforschung der Fall ist. Die Gesundheitsforschung hat natürlich ein gewisses Prä , weil die Menschen sagen: Ja, dafür zu forschen, das ist ganz klar sinnvoll, das ist ganz selbstverständlich. Allerdings kann die Gesundheitsforschung alleine als Forschung nicht Weltspitze sein, wenn sie nicht einen Unterbau hat. Das heißt, meine Bitte an Sie, die Sie relativ einfach erklären können, was Sie tun und wofür Sie es tun, ist auch: Vergessen Sie nie diejenigen, die Ihnen das Rüstzeug dazu geben, und sorgen Sie dafür, dass auch sie ein gutes Forschungsauskommen haben.
Jede Hierarchisierung unter den Wissenschaften ob nun Physik wichtiger als Chemie und Chemie wichtiger oder weniger wichtig als Biologie und Informatik vielleicht nur eine Dienstleistung oder die Krone für die Medizin sei würde in die Irre führen. Es geht heute vielmehr um Kooperationen in den Wissenschaften, die weit über das eigene Spezialfeld hinaus gehen. Das finde ich auch wiederum spannend an unserer Zeit, nämlich dass wir von einer sehr strengen Form der immer weiteren Spezialisierung auch wieder mehr in die Breite, in eine über einzelne Bereiche hinaus reichende Kooperation gehen.
Wenn man sich internationale Institutionen wie das MIT oder andere anschaut, in welcher Weise sie auch Geisteswissenschaften mit den Naturwissenschaften verbinden, so glaube ich, dass ein ganzheitlicher Ansatz eigentlich das ist, was auch in Zukunft gelebt werden muss, um zum Schluss die individualisierte Betrachtung des einzelnen Menschen möglich zu machen. Damit sind wir dann wieder auf einem sehr verzweigten Wissenschaftsweg, der ja von der Universität als einer Generallehrinstitution ausging, hin zu immer mehr Spezialisierung. So kommen wir im Grunde im Blick auf den einzelnen Menschen wieder zu einer Gesamt- und ganzheitlichen Betrachtung. Ich finde es auf eine sehr gute Art sehr beruhigend, dass dies so ist. Deshalb wünsche ich Ihnen allen sehr, sehr viel Erfolg dabei.
Wir in der Politik können nur dafür sorgen, dass Sie in Ruhe weiterarbeiten können, dass wir Ihnen auf der einen Seite nicht zu viele Vorschriften machen und auf der anderen Seite nicht zu wenig Aufmerksamkeit widmen. Mein Besuch hier hat mich davon überzeugt, dass mir um den Nachwuchs, um die jungen Leute überhaupt nicht bange sein muss. Die Entdeckerfreude, die Bereitschaft, sich einzubringen, auch für die gemeinsamen wissenschaftlichen Erfolge zu leben das alles ist da.
Wir haben eine große Zunahme der Zahl der Studienanfänger in Deutschland. 2005, als ich Bundeskanzlerin wurde, hat gut ein Drittel eines Jahrgangs ein Studium begonnen; heute sind es ungefähr 50 Prozent. Ich mache mir im Augenblick mehr Sorgen um die zweite Säule unseres Ausbildungssystems, das duale Berufsausbildungssystem, als um die Frage, wie es im Hochschulbereich weitergeht. Die Anfängerquoten sind gut. Die Abschlussquoten sind allerdings noch nicht da, wo wir sie eigentlich haben wollen. Gerade deshalb ist es ganz wichtig, dass diejenigen, die ein Hochschulstudium nicht abschließen, nicht sozusagen als Menschen ohne Abschluss ihr weiteres Leben fristen müssen, sondern dass wir sie vielleicht zu einer mehr praktischen Tätigkeit hinführen können. Auch das zeigt ja die Forschung: Ohne die entsprechenden Berufe im biologisch-medizinischen Bereich ich weiß nicht genau, wie hier die Technischen Assistenten heißen geht die beste Forschung nicht.
Meine Damen und Herren, wir haben in den letzten Jahren vieles bewegt. Wir finanzieren im Rahmen des Hochschulpakts zwischen Bund und Ländern 625.000 zusätzliche Studienplätze. Wir haben in den letzten Jahren deutlich mehr Geld für Forschung und Bildung ausgegeben. Wir haben das Ziel eines Drei-Prozent-Anteils der Forschungs- und Entwicklungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt so gut wie erreicht. Das ist auch Ausdruck des wirtschaftlichen Erfolgs, den Deutschland hat, weil diese Mittel nur zu einem Drittel von den staatlichen Institutionen und zu zwei Dritteln von den Unternehmen gegeben werden. Aber ein Gespräch mit der südkoreanischen Präsidentin hat mir gezeigt, dass man dort vier Prozent ausgibt. Wenn man sich anschaut, wie Unternehmen wie Samsung und andere innerhalb weniger Jahre erfolgreich geworden sind, dann weiß man: Jeder Tag muss genutzt werden, um für den eigenen Erfolg weiter zu kämpfen.
In diesem Sinne richte ich einen Dank an jeden einzelnen Mitarbeiter, an jede einzelne Mitarbeiterin und an die vielen Freunde dieser Institution; Professor Hopp ist einer von vielen. War "Professor" übertrieben? Es war gut gemeint. Ich glaube,"Herr Hopp" ist genauso nützlich wie "Professor Hopp". Jedenfalls danke ich allen, die in den Beratungsgremien mitarbeiten. Der Besuch hier war für mich eine große Freude. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg auch in der Zukunft und werde mich weiter dafür einsetzen, dass die Rahmenbedingungen gelingen. Damit Sie Ihr Jubiläumsjahr nicht unbeobachtet verbringen können, kommt am Ende Frau Professor Wanka als Forschungsministerin und wird sich dann anschauen, was Sie in diesem Jahr Besonderes geschafft haben. Herzlichen Dank, alles Gute.