Redner(in): Monika Grütters
Datum: 11. September 2014

Untertitel: Unter dem Motte "Konkurrierende Erinnerung?" warf die Stiftung die Frage auf, in welchem Verhältnis unterschiedliche nationale Geschichtsbilder zueinander stehen. Wichtig sei, die verschiedenen Erfahrungen und unterschiedlichen Perspektiven innerhalb Europas bewusst zu machen, betonte Kulturstaatsministerin Grütters.
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2014/09/2014-09-15-kulturstaatsministerin-stiftung-aufarbeitung.html


Unter dem Motte "Konkurrierende Erinnerung?" warf die Stiftung die Frage auf, in welchem Verhältnis unterschiedliche nationale Geschichtsbilder zueinander stehen. Wichtig sei, die verschiedenen Erfahrungen und unterschiedlichen Perspektiven innerhalb Europas bewusst zu machen, betonte Kulturstaatsministerin Grütters.

Anrede,

Es ist eine provozierende Frage, mit der uns die Stiftung Aufarbeitung in dieser 11. Zeitgeschichtlichen Sommernacht konfrontiert: "Konkurrierende Erinnerung", heißt es, mit einem Fragezeichen versehen, auf der Einladung, der wir heute Abend gefolgt sind. Sind wir, die wir aus unterschiedlichen Herkunftsländern kommen, die wir unterschiedlichen Generationen angehören, die wir also im wahrsten Sinne des Wortes unterschiedliche Stand-Punkte haben, von denen aus wir auf die europäische Geschichte schauen … - sind wir Konkurrenten? Rivalen? Und wenn ja, worum konkurrieren wir? Um Aufmerksamkeit? Um Wahrheitsansprüche? Um die Deutungshoheit?

In der Regel, meine Damen und Herren, konkurriert man bei Sommerfesten im politischen Berlin allenfalls um die beste Startposition für die Schlacht am Buffet. Doch die Stiftung Aufarbeitung wäre nicht die Stiftung Aufarbeitung, wenn Sie uns heute Abend nicht wieder einmal zum Nachdenken brächte - so wie wir das von den vielen großartigen Ausstellungen, Konferenzen, Publikationen und Veranstaltungen gewohnt sind, die mit bisher insgesamt rund 37 Millionen Euro an ausgereichten Fördermitteln realisiert werden konnten. Konkurrierende Erinnerung? ", das fragende Motto dieses Abends, ist für das Nachdenken über nationale und europäische Erinnerungskultur jedenfalls ein gut gewählter, vielversprechender Ausgangspunkt: Man kann es zunächst einmal auf die ungewöhnliche Dichte an Gedenktagen in diesem Jahr beziehen: einem Jahr, in dem Licht und Dunkel des letzten Jahrhunderts so dicht beieinander liegen, in dem aber auch - man muss es angesichts der politischen Entwicklungen in der Ukraine leider sagen - plötzlich wieder in Gefahr scheint, was vor 25 Jahren für Freiheit, Frieden und Demokratie erreicht wurde.

Dass es, was die öffentliche Aufmerksamkeit betrifft, durchaus eine Konkurrenz des Erinnerns geben kann, können wir übrigens an diesem heutigen 11. September gut nachvollziehen: "9/11" ist nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center 2001 zum Synonym geworden für den Angriff auf unsere Freiheit und auf die Werte der westlichen Welt. Die Bilder der brennenden Zwillingstürme haben sich tief eingebrannt ins kollektive Gedächtnis und lassen die Erinnerung an andere historische Ereignisse in den Hintergrund treten: die Erinnerung an den 11. September 1914 zum Beispiel, an dem im Ersten Weltkrieg die Schlacht von Lemberg zwischen russischen und österreichisch-ungarischen Einheiten mit einer entscheidenden Niederlage für die Truppen der Habsburger endete; die Erinnerung an den 11. September 1944, als im Zweiten Weltkrieg alliierte Truppen bei Trier erstmals die deutsche Reichsgrenze überschritten; die Erinnerung an den 11. September 1989, als Ungarn seine Grenze zu Österreich öffnete und Tausenden DDR-Bürgern die Flucht in den Westen ermöglichte; die Erinnerung an den 11. September 1991, als der blutige Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien Dalmatien und die bosnisch-kroatische Grenze erreichte. Wenn wir im Zusammenhang mit dem 11. September von "konkurrierender Erinnerung" sprechen wollen, dann hat der 11. September 2001 diese Konkurrenz durch die Macht der Bilder wohl auf traurige Weise für sich entschieden.

Die gerade mit Blick auf die Zukunft Europas interessanteste Frage, die das Motto dieser Zeitgeschichtlichen Sommernacht aufwirft, ist aber zweifellos die Frage nach dem Verhältnis, in dem unterschiedliche nationale Geschichtsbilder stehen. Geschichte vergeht ja nicht einfach - die Art und Weise, wie wir sie erzählend vergegenwärtigen, prägt unsere Sicht auf die Gegenwart und damit auch unser Bild von uns selbst und unsere Zukunft. Max Weber hat moderne Nationen deshalb einmal als "Erinnerungsgemeinschaften!" bezeichnet. Was bedeutet das für Europa? Wie viel Gegensätzlichkeit der Erinnerungen kann Europa aushalten? Welche gemeinsamen Bezugspunkte gibt es für eine europäische Identität? Die 11. Zeitgeschichtliche Sommernacht wird diese Fragen sicher nicht abschließend beantworten, aber wir können uns auf spannende und sicher auch hier und da kontroverse Diskussionen freuen!

Ich persönlich bin der Überzeugung, dass gerade in der Nachzeichnung der gewachsenen Freiheitstraditionen Europas Ankerpunkte des Erinnerns sichtbar werden, auf die sich Menschen aus allen europäischen Ländern gemeinsam beziehen können. Der Fall der Berliner Mauer beispielsweise wäre ohne die Demokratisierungs- und Befreiungsbewegungen in Mittel- und Osteuropa undenkbar gewesen.

Gemeinsames Erinnern lässt sich natürlich nicht amtlich verordnen oder behördlich regeln, und doch ist die Entwicklung einer europäischen Erinnerungskultur nicht rein bürgerschaftlich zu bewältigen. Erinnern ist immer auch eine öffentliche Angelegenheit - und das heißt in staatlicher Verantwortung. Das schließt auch und insbesondere den Anspruch ein, moralisch angemessen mit den Abgründen der eigenen Geschichte umzugehen und auch dadurch ein identitätsstiftendes Fundament für die Gegenwart und Zukunft zu legen.

Unter anderem aus diesen Überlegungen heraus hat der Deutsche Bundestag vor 16 Jahren die Bundesstiftung Aufarbeitung ins Leben gerufen und mit der Aufgabe betraut, deutschlandweit die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Diktatur und der deutschen und europäischen Teilung zu fördern. Genau das leistet die Stiftung Aufarbeitung mit der Förderung von jährlich etwa 150 Projekten und Vorhaben auf hervorragende Weise. Dabei geht es nicht nur um den Blick zurück. Es geht auch darum, in lebendigen und kontroversen Diskussionen darüber zu streiten, was Deutschland und Europa, was unsere Demokratie ausmacht und welche Erfahrungen aus der Vergangenheit uns heute helfen, das Zusammenleben in unserem Land, in Europa und die Partnerschaft mit anderen Ländern zu gestalten. Beeindruckend ist da zum Beispiel der Erfolg der Plakatausstellungen, zuletzt über "Diktatur und Demokratie im Zeitalter der Extreme", die über 2. 000mal an Schulen, in Museen, in Rathäusern und Kirchengemeinden gezeigt wurde, und zwar nicht nur in ganz Deutschland, sondern -übersetzt in 13 Sprachen - unter anderem auch in Belgrad, Bogota, Hongkong, Kiew oder Montreal. So pflegt man über Grenzen hinweg die Erinnerungskultur!

Ich danke Ihnen, liebe Frau Dr. Kaminsky, lieber Herr Meckel, stellvertretend für all jene, die sich mit viel Herzblut für die Aufarbeitung unserer Vergangenheit engagieren!

Welchen Weg zu einer europäischen Erinnerungskultur auch immer wir gehen, meine Damen und Herren - in jedem Fall beginnt dieser Weg damit, dass wir uns die verschiedenen Erfahrungen und unterschiedlichen Perspektiven innerhalb Europas bewusst machen. Dazu gehören neben den Perspektiven unterschiedlicher Nationen auch die Perspektiven unterschiedlicher Generationen! Deshalb freue ich mich ganz besonders, heute eine Gruppe junger Frauen und Männer aus 12 Ländern in Berlin willkommen zu heißen, die eine ganz besondere erinnerungskulturelle Reise hinter sich hat: von Danzig aus über Warschau, Budapest, Temeswar, Sopron, Bratislava und Prag bis hierher nach Berlin. Sie alle gehören zum "Freedom Express", einer Initiative des "Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität", in dem mein Ressort gemeinsam mit den Kulturressorts Polens, Rumäniens, der Slowakei und Ungarns die Aufarbeitung der Kriegs- und Gewalterfahrungen des 20. Jahrhunderts unterstützt.

Die Bundesstiftung Aufarbeitung ist Partner des Netzwerks und hat den "Freedom Express" ganz wesentlich mit organisiert. Seine Route steht beispielhaft für die Öffnung des "Eisernen Vorhangs" vor 25 Jahren, sie steht für den Freiheitswillen der Menschen und ihr mutiges Aufbegehren gegen die kommunistischen Machthaber. Wir alle hier sind gespannt auf Ihre Eindrücke, liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer des "Freedom Express", denn sie spiegeln die Perspektiven der ersten Generation, die mit einem wieder vereinten Deutschland und Europa aufgewachsen ist.

Vielleicht, meine Damen und Herren, liegt genau darin das Geheimnis der Entstehung einer europäischen Erinnerungskultur: im Ermöglichen eines länderübergreifenden, europäischen Vergangenheitsdiskurses, wie es der "Freedom Express" vormacht. Der Historiker Karl Schlögel jedenfalls hat, passend zum Titel der 11. Zeitgeschichtlichen Sommernacht, schon vor Jahren die Befürchtung relativiert, dass unterschiedliches Erinnern zwangsläufig "konkurrierendes Erinnern" sein muss. Ich zitiere: "Was könnte das positive Ergebnis einer dezidiert europäischen Gedächtniskultur sein? Kein europäisches Gedächtnis, kein homogenes Narrativ aus einem Guss, kein kurzer Lehrgang in europäischer Geschichte, sondern die Entstehung eines geschützten Raumes für den Strom der Erzählungen ( … ) . Für viele ist das zu wenig. In meinen Augen ist es das Schwierigste überhaupt. Denn es bedeutet die Verteidigung eines geschützten Raumes, einer Sphäre von Öffentlichkeit, die den Pressionen von außen, von gleich wem standhält, und sich die Freiheit bewahrt und die Zumutungen aushält, die in den Erzählungen präzedenzlosen Unglücks im Europa des 20. Jahrhunderts enthalten sind."

Zum Glück, meine Damen und Herren, entstehen - auch dank staatlicher Unterstützung - allmählich solche geschützten Räume "für den Strom der Erzählungen". Die Bundesstiftung Aufarbeitung leistet dazu einen wichtigen Beitrag, und die Zeitgeschichtliche Sommernacht mit der Ankunft des "Freedom Express" ist dafür ein schönes Beispiel. Ich wünsche uns allen in diesem Sinne einen inspirierenden Abend, der Lust macht, im Strom der Erzählungen gemeinsame Ankerpunkte zu finden!