Redner(in): Monika Grütters
Datum: 15. Oktober 2014
Untertitel: "Steht auf gegen Antisemitismus und Judenhass, wo immer Ihr ihn erlebt!" so Monika Grütters in ihrer Rede.
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2014/10/2014-10-15-gruetters-gedenkveranstaltung-gleis17.html
Steht auf gegen Antisemitismus und Judenhass, wo immer Ihr ihn erlebt! " so Monika Grütters in ihrer Rede.
Anrede,
zu den über 50.000 Berliner Jüdinnen und Juden, die zwischen 1941 und 1945 in die Vernichtungslager außerhalb des Deutschen Reiches deportiert wurden, gehörte die Dichterin Gertrud Kolmar. 1938 erschien ihr Gedichtband "Die Frau und die Tiere", der nach der Reichspogromnacht von den Nationalsozialisten eingestampft wurde."Die Sinnende" heißt ein Gedicht darin; es beginnt mit folgenden Zeilen:
Wenn ich tot bin, wird mein Name schweben
Eine kleine Weile ob der Welt.
Wenn ich tot bin, mag es mich noch geben
Irgendwo an Zäunen hinterm Feld.
Doch ich werde bald verlorengehn,
Wie das Wasser fließt aus narbigem Krug,
Wie geheim verwirkte Gabe der Feen
Und ein Wölkchen Rauch am rasenden Zug.
Gertrud Kolmar, meine Damen und Herren, hatte in den 1930er Jahre darüber nachgedacht zu emigrieren, blieb dann aber bei ihrem alten, gebrechlichen Vater in Berlin. Er wurde im September 1942 nach Theresienstadt deportiert - sie am 2. März 1943 nach Auschwitz. Den Zeitpunkt und die Umstände ihres Todes kennen wir nicht. Wir wissen nicht, wie sie den wohl etwa 20stündigen Transport im unbeheizten Viehwaggon, eingepfercht mit 80, 90, vielleicht auch 100 anderen Menschen, überstanden hat. Wir wissen nicht, welcher Gruppe man sie bei der Selektion an der Entladerampe zuordnete: den Schwachen, Alten und Kranken, die sofort in die Gaskammern geführt wurden, oder den Arbeitsfähigen, deren Leidensweg zunächst ins Lager und erst später in den Tod führte.
Doch eines wissen wir: Wir werden Gertrud Kolmar nicht "verlorengehn" lassen wie "ein Wölkchen Rauch am rasenden Zug", mit dem sie Berlin vor 71 Jahren Richtung Auschwitz verlassen hat. Sie alle, die Sie heute an den Ort gekommen sind, an dem vor ziemlich genau 73 Jahren, am 18. Oktober 1941, die systematische Deportation der Berliner Jüdinnen und Juden begonnen hat, Sie alle stehen für unseren gemeinsamen Willen, die Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen wach zu halten. Gleis 17 "ist heute ein stiller Ort: Nur einhundert Meter vom S-Bahnhof Grunewald entfernt, wo im Zehnminutentakt die Züge nach Potsdam oder Westkreuz fahren und Snacks, Coffee to go und Zeitungen verkauft werden, und doch der Wirklichkeit des alltäglichen Lebens weit entrückt. So bleibt gegenwärtig, was dieser Ort einmal war: ein Verladebahnhof für menschliche" Fracht " in der Vernichtungslogistik der Nationalsozialisten zur Auslöschung jüdischen Lebens in Deutschland.
Woche für Woche, zeitweise auch Tag für Tag rollten von hier aus die Züge zu den Gaskammern. Wo wir heute stehen, standen damals dicht gedrängt Frauen, Männer und Kinder voller Angst und Abschiedsschmerz in ihren Herzen, in der Hand ein paar letzte Habseligkeiten. Was ihnen angetan wurde, tragen wir in unserem Herzen: als tief empfundenen Wunsch, den barbarischen Vernichtungs-feldzügen der Nationalsozialisten gegen jüdische Mitmenschen die Kraft und Lebendigkeit unserer Erinnerung entgegen zu setzen. Das bleibt unsere immerwährende Verpflichtung.
Dabei vertrauen wir auch auf Euch und Eure Generation, liebe Schülerinnen und Schüler. Setzt Euch mit unserer Vergangenheit auseinander, wo immer Ihr die Gelegenheit dazu habt! Besucht unsere Gedenkorte, unsere Museen! Informiert Euch nicht nur über die historischen Fakten, sondern auch über die Lebenswege und Schicksale einzelner Menschen! Hört den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu: Noch sind einige von ihnen unter uns, die an Leib und Seele erlebt haben, was es bedeutet hat, im Dritten Reich Jude oder Jüdin in Deutschland zu sein - so wie zum Beispiel Margot Friedländer, die heute hier ist und die mit bewundernswerter Kraft und Größe und mit berührendem Engagement für die demokratische Zukunft unseres Landes ihre Erfahrungen teilt und weiter gibt! Sie ist nicht nur mir, sondern vielen von uns eine liebe Freundin geworden - wir sind ihr zutiefst dankbar, dass sie im hohen Alter aus Amerika nach Berlin zurückgekehrt ist.
Vor allem aber: Steht auf gegen Antisemitismus und Judenhass, wo immer Ihr ihn erlebt! Zieht Euch niemals zurück auf die ebenso bequeme wie verantwortungslose Haltung, dass es auf Eure Stimme, auf Euer Handeln nicht ankommt! Das Gegenteil ist richtig: Auf jeden einzelnen von Euch kommt es an! Vergesst nicht: Hundertausende Berlinerinnen und Berliner haben zugelassen, dass ihre jüdischen Freunde, Nachbarn und Bekannten erst beschimpft und gedemütigt, dann Schritt für Schritt ihrer Rechte beraubt und aus dem gesellschaftlichen Leben gedrängt wurden, bis man sie schließlich in den Tod schickte. Das Schweigen der Mehrheit ließ die Züge hier auf Gleis 17 rollen - das beherzte Engagement einiger weniger dagegen hat Leben gerettet und in einem geistig und moralisch verwüsteten Land Inseln der Menschlichkeit bewahrt. Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt! ", heißt es in einem Flugblatt der Münchner Widerstandsgruppe" Weiße Rose ". Auch daran erinnern wir, wenn wir heute weiße Rosen auf Gleis 17 legen - in der Hoffnung, dass unser Herz sich niemals möge umhüllen und einschließen lassen von Gleichgültigkeit gegenüber Antisemitismus und Judenhass!