Redner(in): Monika Grütters
Datum: 15. Oktober 2014
Untertitel: "Die unbegrenzte Welt der Fantasie als Ort, um Kraft und Inspiration zu schöpfen - sie lockt gerade dann, wenn man in der Welt des Wissens mit ihren Kriterien der Messbarkeit an Grenzen stößt." so Monika Grütters in ihrer Rede.
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2014/10/2014-10-15-gruetters-ausstellungseroeffnung-la-couleur-des-annees-1950.html
Die unbegrenzte Welt der Fantasie als Ort, um Kraft und Inspiration zu schöpfen - sie lockt gerade dann, wenn man in der Welt des Wissens mit ihren Kriterien der Messbarkeit an Grenzen stößt." so Monika Grütters in ihrer Rede.
Anrede,
Ausstellungen zu eröffnen, gehört zu den schönsten Pflichten im Amt der Kulturstaatsministerin, ich habe da also schon eine gewisse Übung. Trotzdem mache ich heute Abend eine ganz neue Erfahrung. Zum allerersten Mal muss ich zur Kenntnis nehmen, dass mir der Zugang zum bekanntesten Werk des Künstlers auf Dauer verschlossen bleiben wird. Damit bin ich vermutlich nicht allein. Oder gibt es jemanden, dem die Karplus-Beziehung ein Begriff ist, die - ich zitiere aus einer schnellen Google-Recherche - "in der NMR-Spektroskopie die Abhängigkeit der Kopplungskonstante vom Diederwinkel zwischen den koppelnden Kernen beschreibt" ? Professor Martin Karplus ist der Entdecker dieser Beziehung; er hat für die Entwicklung von Multiskalenmodellen für komplexe chemische Systeme letztes Jahr den Chemie-Nobelpreis erhalten.
Wir können angesichts der hier vermutlich nur rudimentär vorhandenen, naturwissenschaftlichen Kenntnisse wohl froh sein, dass bei dieser Ausstellung ausnahmsweise nicht im Mittelpunkt steht, was den Künstler bekannt gemacht hat. Umso mehr freuen wir uns, einen der bedeutendsten Naturwissenschaftler unserer Zeit von seiner künstlerischen Seite zu erleben. Herzlich willkommen in Berlin, lieber Herr Professor Karplus!
Es gibt in Berlin vielleicht kaum einen passenderen Ort zur öffentlichen Präsentation Ihrer Bilder als die Galerie im Café Einstein. Albert Einstein, der Namensgeber dieser Berliner Institution, war wie Sie Naturwissenschaftler und Nobelpreisträger mit ausgeprägter künstlerischer Ader. In seinen Berliner Jahren ( 1914 - 1933 ) beispielsweise traf er, der Geigenspieler, sich regelmäßig mit Max Planck, der Cello spielte, zur Hausmusik. Sein Sohn Hans Albert Einstein sagte über ihn: "Immer wenn er das Gefühl hatte, ans Ende eines Weges gekommen zu sein oder wenn er sich in der Arbeit einer wichtigen Herausforderung gegenüber sah, suchte er Zuflucht in der Kunst, und das löste all seine Schwierigkeiten".
Die unbegrenzte Welt der Fantasie als Ort, um Kraft und Inspiration zu schöpfen - sie lockt gerade dann, wenn man in der Welt des Wissens mit ihren Kriterien der Messbarkeit an Grenzen stößt. Aus Ihren wunderbaren Fotografien von Landschaften und Straßenszenen jedenfalls spricht die Sensibilität für die Geheimnisse der Natur und des Lebens.
Sensibel zu bleiben für diese Geheimnisse, für die Welt hinter dem Sichtbaren und Messbaren, das kann auch denen nicht schaden, die Ihre Bilder hier im Einstein in den nächsten Wochen zu sehen bekommen. Neben Berlin-Touristen aus aller Welt sind das vor allem Politiker, Journalisten und Lobbyisten - diejenigen also, die man so zur Berliner Politikszene zählt. Ich gehöre ja auch dazu, und darf deshalb sagen, dass die Inspiration durch Kunst und Kultur gerade dort nicht schaden kann, wo persönliche Eitelkeiten hin und wieder vielleicht etwas zu sehr den Ton angeben.
Man muss es ja nicht gleich so sarkastisch formulieren wie Albert Einstein: "Der Horizont vieler Menschen ist wie ein Kreis mit Radius Null. Und das nennen sie dann ihren Standpunkt." Gleichwohl wünsche ich Ihren beeindruckenden Fotografien, die zur Horizonterweiterung geradezu einladen, gerade hier im Einstein viele aufmerksame Blicke, lieber Herr Professor Karplus.
Mir liegt heute Abend aber noch etwas anderes auf dem Herzen, und ich hoffe, Sie erlauben mir diese persönliche Bemerkung zu Ihrer Lebensgeschichte. Es berührt mich sehr, dass Sie Ihre Bilder in der deutschen Hauptstadt präsentieren und dass Sie selbst heute auch in unserer Mitte sind.
Das ist keine Selbstverständlichkeit angesichts des Leids, dass Deutschland über Ihre Familie gebracht hat - so wie über unzählige andere jüdische Familien: Sie mussten 1938 aus Ihrer österreichischen Heimat Wien vor den Nationalsozialisten fliehen. Die traumatischen Erfahrungen, die Sie als Kind gemacht haben, werden Sie Ihr Leben lang begleitet haben, und ich kann gut verstehen, dass Sie Ihrer Heimat den Rücken gekehrt haben. Deshalb empfinde ich Ihre Ausstellung gleichermaßen als großes Geschenk und als Mahnung:
Zu den Lehren aus unserer Erfahrung mit der menschenverachtenden Diktatur des Nationalsozialismus gehört nicht zuletzt das Bewusstsein, dass wir die Künstler, die Kreativen, die Vor- und Querdenker als kritisches Korrektiv unserer Gesellschaft brauchen, als Stachel im Fleisch der Demokratie.
Sie sind es, die Horizonte erweitern, die Grenzen sprengen, die provozieren, die hinterfragen und die damit verhindern, dass intellektuelle Trägheit, argumentative Phantasielosigkeit und politische Bequemlichkeit die Demokratie einschläfern. Die Freiheit und Vielfalt der Kunst und Kultur zu sichern, ist deshalb oberster Grundsatz unserer Kulturpolitik - und so steht es uns gut zu Gesicht, der Kunst gerade auch im Herzen des politischen Berlin Raum zu geben.
Ich danke Ihnen von Herzen, dass Sie mit Ihren Bildern zu uns nach Deutschland gekommen sind, lieber Herr Professor Karplus. Ein herzliches Dankeschön auch an Sie, lieber Herr Uhlig, dass Sie diese besondere Ausstellung möglich gemacht haben!
Uns allen, meine Damen und Herren, wünsche ich einen schönen Abend mit viel Muße, um die wunderbaren Fotografien, die uns umgeben, wirken zu lassen und beim einen oder anderen Glas Wein miteinander ins Gespräch zu kommen.