Redner(in): Monika Grütters
Datum: 05. Dezember 2014

Untertitel: "Ihre subtile literarische Auseinandersetzung mit der Freiheit als Conditio humana, ist für mich unter all den guten Gründen für die Auszeichnung mit dem Kunst- und Kulturpreis der deutschen Katholiken der gewichtigste.", sagte Grütters in ihrer Laudatio auf den Schriftsteller Ralf Rothmann.
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2014/12/2014-12-05-gruetters-katholischer-kunstpreis.html


Ihre subtile literarische Auseinandersetzung mit der Freiheit als Conditio humana, ist für mich unter all den guten Gründen für die Auszeichnung mit dem Kunst- und Kulturpreis der deutschen Katholiken der gewichtigste.", sagte Grütters in ihrer Laudatio auf den Schriftsteller Ralf Rothmann.

Anrede,

Wenn Jesus zurück auf die Erde käme... eine Gedankenspielerei, die zur Vorweihnachtszeit gehört wie Stollen und Spekulatius. Der große russische Schriftsteller Fjodor Dostojewskij hat daraus vor über 130 Jahren in seinem Roman "Die Brüder Karamasow" ein Stück Weltliteratur gemacht. In der Legende vom Großinquisitor, die der leidenschaftliche Atheist Iwan Karamasow seinem gläubigen Bruder Aljoscha erzählt, mischt Jesus sich zur Zeit der Inquisition im spanischen Sevilla unter die Menschen. Man erkennt ihn sofort, und man jubelt ihm zu, bis der greise Kardinal-Großinquisitor ihn verhaften lässt. Jesus, so der Großinquisitor, habe kein Recht, zurück zu kehren und die Ordnung der römisch-katholischen Kirche zu stören eine Ordnung, die die Menschheit erlöse von den Bürden der Freiheit."Ich sage Dir, der Mensch kennt keine quälendere Sorge als die, einen zu finden, dem er möglichst schnell jenes Geschenk der Freiheit, mit dem er als unglückliches Geschöpf geboren wird, übergeben kann", zürnt der Großinquisitor."Nichts als Unruhe, Verwirrung und Unglück [ist] den Menschen zuteil geworden, nachdem Du soviel für ihre Freiheit gelitten hast!"

Gibt es jemanden, der grandioser gescheitert ist als Jesus? Diese Frage haben Sie einmal beiläufig in einem Interview fallen lassen, lieber Herr Rothmann, angesprochen auf das Scheitern Ihrer Figuren, für die das hehre Ideal der Freiheit beinahe unerreichbar scheint: Menschen, die unter der Last ihres Lebens ächzen, wie die Malocher, die sich den Ruhrgebietsboden unter den Füßen weggraben für das bisschen Glück eines bescheidenen Lebensstandards in der Trostlosigkeit der Eckkneipen, Imbissbuden und Schrebergärten. Kinder an der Schwelle zum Erwachsenwerden, die wie der Bergarbeitersohn Julian in Junges Licht - plötzlich auf eigenen Beinen stehen müssen und keinen Halt finden in einer Erwachsenenwelt unverständlicher Zumutungen. Frauen und Männer, die sich mit der Enge und Ausweglosigkeit ihrer Existenz abgefunden haben - schicksalsergeben wie der abgehalfterte Zirkus-Tiger in der Erzählung "Der ganze Weg", ich zitiere: "Er hatte sein Leben im Käfig verbracht und hielt die Stäbe für seine Streifen, oder umgekehrt." So kläglich, so erbärmlich, so brutal es dabei oft zugeht, so zart, so anrührend, so wundervoll zeichnet sich die Größe kleiner Leute manchmal, in lichten Momenten, in Ihrer Prosa ab wie ein langer Abendschatten auf dem staubigen Weg des Lebens. Ihre subtile literarische Auseinandersetzung mit der Freiheit als Conditio humana, lieber Herr Rothmann, ist für mich unter all den guten Gründen für die Auszeichnung mit dem Kunst- und Kulturpreis der deutschen Katholiken der gewichtigste.

Das mag Sie, verehrte Damen und Herren, insofern überraschen, als es offensichtlichere, sich geradezu aufdrängende religiöse Bezüge in den Büchern Ralf Rothmanns gibt, an die sich anknüpfen lässt für das Anliegen dieses Preises, das kulturelle Bewusstsein in der Kirche zu schärfen und die religiöse Dimension in der pluralistischen Kultur der Gegenwart zu stärken.

Tatsächlich sind biblische Motive und religiöse Sprachmuster in den Rothmannschen Texten allgegenwärtig, am deutlichsten sicherlich in seinem Gedichtband "Gebete in Ruinen" und in der Erzählung "Von Mond zu Mond". Es ist die einzige Erzählung, in der Ralf Rothmann eine biblische Geschichte neu interpretiert - die Wiedererweckung der Tochter des Zöllners Jairus. Rothmann erzählt sie uns aus der Perspektive eines Hirten namens Enosch. In wundersamen, ja mystischen Naturbildern werden Tiere - wie übrigens auch im Alten Testament - zu Mittlern einer göttlichen Offenbarung.

Biblische Bilder und Melodien aus einer Welt hinter unserer Lebenswirklichkeit klingen in vielen, allesamt auf ihre eigene Weise Herz ergreifenden Erzählungen Rothmanns an. In Gethsemane beispielsweise begegnet uns Raul, der zwischen den Besuchen im Krankenhaus in seinen Alltagsroutinen Halt findet, in den täglichen Runden im Schwimmbad, und der nur ahnt, dass die Frau, die er liebt, Marie, nach einer Operation gerade ihr Leben lässt, während er, ich zitiere,"am Ende seines langen Schattens ( eintaucht ) in das Wasser, das nicht kalt ist und nicht warm, nicht klar und nicht trüb, das überhaupt kein Wasser ist in diesem Moment, sondern irgendetwas Gleißendes, so wie der Schrei auf der anderen Seite nichts als die Stille im Herzinneren ist, sternweiter Raum, in dem eine zarte Stimme verklingt."

Das Transzendente ist bei Rothmann so sehr verwoben mit der Wirklichkeit seiner Figuren, ein feiner goldener Faden selbst in derben, rauen Erzählstoffen, dass sogar eine Darmspiegelung zum Offenbarungserlebnis werden kann, ich zitiere: "[...] in diesem verblüffenden, aus reinem Zartsinn geformten, bis in die kleinsten Schwünge und Krümmungen eleganten Kosmos drückt sich eine tiefe, sichtlich mehr als ihn und seinen Körper meinende Ordnung aus, ein fühlbares Wohlwollen, das auch deswegen so erschüttert, weil es ihm vor Augen führt, wie wenig würdig er sich ihm bisher erwiesen [...] hat." Der Mann, der hier in Entzücken gerät über die "Poesie des Unsichtbaren" ist Wolf, der Protagonist des Romans Feuer brennt nicht, ein Schriftsteller, der sich seiner katholischen Prägung bisher vor allem in seinen erotischen Eskapaden bewusst wurde wenn auch vielleicht nicht unbedingt im katholischen Sinne, ich zitiere: "Dank der katholischen Kirche und ihrer verlogenen Erziehung in der Schule und im Jugendheim ist er aufs herrlichste versaut und für beinahe alles bereit."

Wenn jedoch aus dem unerfüllten Begehren eines einsamen Halbwüchsigen plötzlich Empfindsamkeit für den Herzschlag der schlafenden Frau in seinen Armen wird - "als wäre da noch" ich zitiere "ein Puls unter ihrem Puls, ein zarterer, und auch der schien ein leises Echo zu haben" - , dann entsteht einer dieser Rothmannschen Augenblicke stillen Glücks, wie ein kurzes Aufreißen des Himmels zwischen dunklen Wolken. Die Erzählung Frischer Schnee endet mit dem Gedanken des Erzählers an die allmorgendliche Pflicht des Schneeräumens und an das Gedächtnis des Schnees, der die Spuren der Tiere unter jeder Decke Neuschnee bewahrt, bis einsetzendes Tauwetter sie Schicht um Schicht wieder zutage fördert, um sie in eben jenem Moment endgültig der Vergänglichkeit preis zu geben ein Aufscheinen des Lebens im Tod, das dem Erzähler mit der Hand auf dem Herzen der Schlafenden in den Sinn kommt.

Es sind solche atmosphärischen Bilder für die unergründlichen Geheimnisse des Seins, eingewoben in feinsinnige Beobachtungen des scheinbar Banalen, die Ralf Rothmann nicht nur zu einem wahren Meister der Erzählkunst machen, sondern auch zu einem Künstler, der den Blick weitet und die Sinne schärft für religiöse Erfahrungen - für Erfahrungen, die im ratternden Hamsterrad unseres Alltags und im Lärmen medialer Dauerbeschallung oft keinen Raum mehr finden. Harald Martenstein hat die religiöse Blindheit des Zeitgeists kürzlich in seiner Kolumne im ZEIT-Magazin mit feiner Ironie auf den Punkt gebracht, als er über computergestützten Varianten der Suche nach Beweisen für die Existenz Gottes räsonierte. Ich zitiere: "Falls Gott ( … ) seine Existenz auf eine für Zeitungen und Fernsehen relevante Weise zu beweisen beabsichtigt, rate ich, ganz old school, zu einer Sintflut oder zu der Verwandlung von Maybrit Illner in eine Salzsäule. Am besten live."

Was Poesie der Sprache, dem menschlichen Verstand und erst recht der Rechenleistung von Computern voraus hat, haben Sie, lieber Herr Rothmann, in Ihrer Rede "Vollkommene Stille" zur Verleihung des Max-Frisch-Preises auf eine Weise beschrieben, die uns die fehlende Empfänglichkeit für das Poetische und das Religiöse als Verkümmerung des vielleicht Menschlichsten in uns erkennen lässt: "[…] denken und formulieren kann man immer nur das Denkbare; in der Dichtung aber scheint auf, was sich nicht sagen lässt. […] im poetischen Satz ist die Welt für einen kurzen Augenblick am rechten Fleck, und der kennt keine Dualität und damit keine Entfremdung. Darum ist Poesie die Grundverfassung, der Elementarzustand unseres Lebens, der Bereich, in dem sein Herz schlägt und nicht der flache Puls der Prinzipien. ( … ) man muss absehen von der Sprache, damit die Welt wieder zu einem spricht."

Die zentralen Figuren Ihrer Romane und Erzählungen, so bitter und grausam das Leben und die Mitmenschen ihnen auch mitgespielt haben mögen, sind unter all den Narben ihrer Seele empfindsam und empfänglich geblieben für das Unaussprechliche. Wie Sie Ihren Figuren aufs Maul schauen und Ihnen dabei im wahrsten Sinne des Wortes aus der Seele sprechen, wie Sie im Ungesagten die kleinen Wunden und Verletzungen zutage treten lassen, wie Sie enttäuschte Hoffnungen und unerfüllte Sehnsüchte anklingen lassen, das Suchen und Irren, das Zweifeln und Bangen, das Hoffen und den Trost, wenn plötzlich der Himmel aufreißt - all das offenbart einen so warmherzigen, einen so barmherzigen Blick auf den seiner eigenen Größe oft nicht gewachsenen Menschen, dass man ihn nicht allein durch lebenserfahrungsgesättigte Empathie erklären kann: durch Ihr Aufwachsen im Ruhrgebiet als Sohn eines Bergarbeiters, durch Ihre beruflichen Stationen als Maurer, Koch, Krankenpfleger und Drucker und durch Ihre persönliche Vertrautheit mit den Milieus, die Sie beschreiben.

Von Beth Gibbons gibt es ein zartes Lied,"Mysteries", das mit den Worten beginnt: "God knows how I adore life / When the wind turns on the shore lies another day / I cannot ask for more" - Worte, die Sie Ihrem Kurzgeschichtenband Rehe am Meer voran gestellt haben. Wenn der Wind dreht, liegt am Ufer ein neuer Tag: Dieser neue Tag, der Freiheitsraum des Möglichen, ist immer präsent in ihren Geschichten - in den Versuchen Ihrer Protagonisten, aus der beklemmenden Enge ihrer Welt heraus das Weite zu suchen und in der immer wieder leise anklingenden Zuversicht, dass der Mensch, so sehr er ein Suchender, Zweifelnder, ein Irrender, ein Scheiternder bleibt, an den Bürden der Freiheit wachsen und sich dem Geschenk der Freiheit vielleicht manchmal sogar als gewachsen erweisen kann.

Weil eine Auszeichnung nicht nur den Preisträger schmückt, sondern immer auch ein besonderes Licht auf die Preisverleiher wirft, empfehle ich uns - den Jurymitgliedern und den hier vertretenen Repräsentanten der katholischen Kirche - zum Schluss noch einen gemeinsamen, ehrlichen Blick in den Spiegel.

Wir sehen hier einerseits, wenig schmeichelhaft, eine Institution, die es in dem knappen Vierteljahrhundert, das dieser Preis mittlerweile auf dem Buckel hat, nicht geschafft hat, auch nur eine einzige Frau als Einzelpreisträgerin auszuzeichnen. Das ist - mit Verlaub - beschämend, offenbart es doch auch im Verhältnis zu Kunst und Kultur einen Mangel an Wertschätzung für die Leistung von Frauen, wie wir ihn leider innerkirchlich nur zu gut in Form hartnäckigen Widerstands gegen eine gleichwertige respektvolle Einbeziehung von Frauen, zum Beispiel gegen das so überfällige Diakonat der Frau kennen.

Was wir im Spiegel des Kunst- und Kulturpreises der deutschen Katholiken aber auch sehen, ist eine Kirche, die durchaus lernfähig ist, was gesellschaftliche Entwicklungen betrifft. Nach Jahrhunderten der Degradierung der Künste zu "Dienstmägden der Theologie" ( ursprünglich eine Formulierung Dantes für die Wissenschaften ) hat die Kirche nicht zuletzt auf der Grundlage des Zweiten Vatikanischen Konzils ein Kunstverständnis entwickelt, das einen Austausch auf Augenhöhe ermöglicht. Die Kunst, die in Europa aus dem Dienst an der Religion entstanden ist und immer auch in den Dienst der Verkündigung genommen wurde, hat sich im 20. Jahrhundert sowohl von den Auftraggebern der Kirche als auch von den Glaubensinhalten christlicher Überlieferung emanzipiert. Der Autonomieanspruch der Kunst, nichts als sie selbst zu sein, war dabei immer wieder der Grund vieler Konflikte, und noch heute fällt es der Kirche oft schwer, neue und ungewohnte Formen der Kunst zu akzeptieren. Dennoch schrieb Papst Johannes Paul II. vor zehn Jahren fast flehentlich in einem Brief an die Künstler: "Die Kirche braucht die Kunst. Aber braucht die Kunst auch die Kirche?"

Ihre Auszeichnung, lieber Herr Rothmann, ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass Religion eine unerschöpfliche Inspirationsquelle für Künstlerinnen und Künstler sein kann, und dass umgekehrt auch die Kunst innerkirchliche Diskussionen und Lernprozesse anstoßen kann. Dass Sie uns am Beispiel der Schwachen, der Abgehängten zeigen, was Menschsein und menschliche Würde ausmacht, am Beispiel derjenigen also, denen der Großinquisitor in Dostojewskijs Legende unterstellte, dem Geschenk der Freiheit nicht gewachsen zu sein, ist ein Aspekt Ihres literarischen Werks, über den es sich gerade für katholische Christen nachzudenken lohnt. Auch deshalb habe ich den Großinquisitor eingangs in den Zeugenstand gerufen: als Zeugen einer Zeit, in der die Kirche den eigenen Anspruch auf weltliche Macht und Autorität über die Botschaft der Liebe und Barmherzigkeit stellte, und als Zeugen einer Versuchung, die auch heute nicht aus der Welt ist. Häufig verhalten wir uns ", so hat es Papst Franziskus im Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium formuliert," wie Kontrolleure der Gnade und nicht wie ihre Förderer. Doch die Kirche ist keine Zollstation, sie ist das Vaterhaus, wo Platz ist für jeden mit seinem mühevollen Leben." In diesem Sinne, meine Damen und Herren, verbinde ich mit Ralf Rothmanns Auszeichnung die Hoffnung, dass seine warmherzigen Texte zu einem tieferen Verständnis des Menschlichen beitragen - so wie es ist und so wie es sein soll. Ich gratuliere Ihnen von Herzen zu diesem verdienten Preis, lieber Herr Rothmann, und ich gratuliere auch der katholischen Kirche zu diesem Preisträger!