Redner(in): Monika Grütters
Datum: 20. Januar 2015

Untertitel: Im Rahmen der Veranstaltung zum 73. Jahrestag der Wannsee-Konferenz betonte Monika Grütters: "Heute fällt die Erinnerung an Auschwitz leichter und zugleich schwerer. Bleiben aber wird die moralische Pflicht, die Erinnerung an Auschwitz und an die Opfer des nationalsozialistischen Terrorregimes wach und lebendig zu halten."
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2015/01/2015-01-20-gruetters-wannsee.html


Im Rahmen der Veranstaltung zum 73. Jahrestag der Wannsee-Konferenz betonte Monika Grütters: "Heute fällt die Erinnerung an Auschwitz leichter und zugleich schwerer. Bleiben aber wird die moralische Pflicht, die Erinnerung an Auschwitz und an die Opfer des nationalsozialistischen Terrorregimes wach und lebendig zu halten."

Anrede,

Auschwitz - dieses Wort ist Synonym geworden für den dunkelsten Abgrund in der deutschen und der europäischen Geschichte, ja für einen Zivilisationsbruch in der Geschichte der Menschheit. Auschwitz steht für unvorstellbar grausame Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Auschwitz steht für den millionenfachen Mord an Frauen, Männern und Kindern durch Deutsche - eine Todesfabrik, in der mindestens 1,1 Millionen Menschen starben, darunter eine Million Juden. Auschwitz steht insbesondere für die systematische Auslöschung jüdischen Lebens, wie sie vor 73 Jahren hier im Rahmen der Wannsee-Konferenz vereinbart wurde.

Im immerwährenden, dunklen Schatten dieser Schuld haben wir nichts als unseren tief empfunden Wunsch, die Erinnerung wach und lebendig zu halten - indem wir authentische Orte wie das Haus der Wannsee-Konferenz bewahren, aber auch, indem wir uns der Eindringlichkeit persönlicher Berichte der Überlebenden aussetzen. Deshalb, lieber Herr Bartoszewski, bedeutet es uns Deutschen viel, dass Sie die Kraft gefunden haben, Ihre Erinnerungen aufzuschreiben - zumal Sie uns damit das weniger bekannte Schicksal der nichtjüdischen, polnischen Gefangenen in Auschwitz ins Gedächtnis rufen. Mein Auschwitz "macht uns zu Zeugen Ihrer Verhaftung als 18-jähriger in Warschau, Ihrer Deportation nach Auschwitz, Ihres täglichen Überlebenskampfs im Vernichtungslager, Ihres Leidens unter den Schikanen der SS-Wachmannschaften und nicht zuletzt Ihres verzweifelten Bemühens, im Angesicht schlimmster Menschenverachtung ein Mensch zu bleiben." Mein Auschwitz "formuliert den Anspruch, Mensch zu sein in einer Hölle, in der der einzelne keinen Namen und damit keine eigene Identität mehr hatte, sondern nur noch eine Häftlingsnummer auf dem Unterarm." Mein Auschwitz "beschreibt subjektive Eindrücke, Erlebnisse und Empfindungen und beharrt damit auf der Einzigartigkeit jedes Menschen selbst an einem Ort, wo der einzelne Mensch nichts wert war. Im Vorwort zur 2010 erschienen polnischen Ausgabe heißt es:" Alle Häftlinge waren in ein- und demselben Auschwitz, aber zugleich war jeder Häftling in seinem Auschwitz. Unterschiedlich waren die Kreise der Hölle, unterschiedlich waren die Erfahrungen. Deshalb müssen wir uns bewusst sein, dass die Geschichte von Auschwitz die Summe individueller Schicksale, individuellen Leidens und individueller Erinnerung ist."

Wir können nur erahnen, wie viel Kraft es kostet, als Auschwitz-Überlebender "mein Auschwitz" zu sagen und damit - so empfinde ich es jedenfalls - all das, wofür Auschwitz steht, als Teil der eigenen Vergangenheit anzunehmen. Sie, lieber Herr Bartoszewski, haben in diesem Sinne nicht nur für sich selbst Frieden mit der Vergangenheit geschlossen.

Sie haben trotz Ihrer Erlebnisse in Auschwitz den Mut und die Kraft gefunden, weiter gegen den nationalsozialistischen Terror zu kämpfen. Sie haben 1942 eine Organisation mitbegründet, die Tausenden Juden in Polen das Leben gerettet hat. Sie waren 1944 am Warschauer Aufstand beteiligt, der größten bewaffneten Erhebung im besetzten Europa, und erlebten dessen brutale Niederschlagung durch die deutschen Besatzer. Darüber hinaus sind Sie bis heute ein engagierter Friedenstifter zwischen Deutschland und Polen, zwischen deutschen und polnischen Bürgern. Schon in den 1960er Jahren haben Sie - was für eine Geste menschlicher Größe! - Kontakte nach Ost- und Westdeutschland geknüpft und maßgeblich dazu beigetragen, dass Deutsche und Polen einander wieder vertrauen lernten. Nicht zuletzt haben Sie den Aufbau eines "Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität" vorangetrieben - eines Netzwerks, das mit der Unterstützung auch meines Hauses Verständnis für und Verständigung über die leidvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts fördert.

Dass die deutsch-polnischen Beziehungen, die Deutschland mit den nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen in Polen auf das Schwerste beschädigt hatte, nach 1990 zu einem tragenden Pfeiler eines geeinten, demokratischen Europas werden konnten, lieber Herr Bartoszewski, das ist auch Ihr Verdienst. Für Ihr unermüdliches Engagement für Demokratie, Freiheit, Toleranz und Versöhnung werden Sie nicht umsonst auch außerhalb Europas hoch geschätzt: Als einziger Politiker weltweit sind Sie Ehrenbürger des Staates Israel.

Meine Damen und Herren, 70 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz gehören die offene und schonungslose Auseinandersetzung mit den Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten und das breite gesellschaftliche Bewusstsein für die Verantwortung, die daraus erwächst, zu den hart erkämpften, moralischen Errungenschaften unseres Landes. Das war und ist keineswegs selbstverständlich. Vielleicht haben einige von Ihnen, so wie ich, kürzlich den Film "Im Labyrinth des Schweigens" über die Vorgeschichte der Frankfurter Auschwitzprozesse gesehen, der im November in die deutschen Kinos kam. Er spielt 1958, in der Zeit des Wirtschaftswunders, in der nach den Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre zusammen mit Petticoats und Schlagermusik bescheidener Wohlstand aufkam - eine Zeit, in der Auschwitz, so ungeheuerlich das aus heutiger Sicht klingt, den Deutschen noch kein Begriff war, schon gar nicht der Inbegriff barbarischer Menschheitsverbrechen und deutscher Schuld.

Es geht darin um einen jungen Staatsanwalt, dem ein sonderbarer Vorfall zu Ohren kommt: Ein Mann will einen ehemaligen KZ-Aufseher wieder erkannt haben, der ihn in Auschwitz fast zu Tode gequält hat. Der aufstrebende Jung-Staatsanwalt nimmt die Ermittlungen auf - gegen den Willen seines direkten Vorgesetzten und trotz der Mauern des Schweigens und Leugnens, auf die er stößt, wohin auch immer er sich wendet. Einzig der jüdische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer - gespielt von einem großartigen Gert Voss in seiner letzten Rolle - unterstützt ihn.

Der Film ist aus zwei Gründen beklemmend und emotional aufwühlend: Zum einen, weil man als Zuschauer von Anfang an weiß, was der Staatsanwalt mühsam und mit wachsendem Entsetzen herausfinden muss: dass es Tausende von Tätern und über eine Million Opfer gibt - aber niemanden, der davon etwas gewusst haben will, und kaum jemanden, der darüber etwas erfahren will. Emotional aufwühlend ist der Film zum anderen deshalb, weil man versteht, welche zwischenmenschlichen Verwüstungen die Erkenntnis der Schuld geliebter Menschen hinterlässt. Dem Staatsanwalt, der seinen im Krieg gefallenen Vater als Helden verehrte, bleibt die Einsicht nicht erspart, dass auch sein Vater Nationalsozialist war und sich schuldig gemacht hat. Man will kein Mitleid empfinden in diesem Moment, wissend um die Ungeheuerlichkeit der Nazi-Verbrechen, und doch kommen einem die Tränen, als für den jungen Juristen mit dem Bild vom Vater eine ganze Welt zusammen bricht. Die allgegenwärtigen, nur unter Schmerzen frei zu legenden Verstrickungen in Schuld werden hier genauso spürbar wie die moralische Pflicht, diesen Schmerz auszuhalten.

Heute fällt die Erinnerung an Auschwitz leichter und zugleich schwerer: Leichter, weil die "Gnade der späten Geburt" - um einen umstrittenen Begriff des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl zu gebrauchen - den jüngeren Generationen die schmerzvolle Auseinandersetzung mit persönlicher Schuld erspart. Schwerer, weil es früher oder später keine Überlebenden mehr geben wird, die von ihren individuellen Schicksalen erzählen können. Bleiben aber wird die moralische Pflicht, die Erinnerung an Auschwitz und an die Opfer des nationalsozialistischen Terrorregimes wach und lebendig zu halten.

Das geht nur, wenn hinter den unfassbar hohen, abstrakt bleibenden Opferzahlen menschliche Gesichter sichtbar und menschliche Stimmen hörbar bleiben - sei es in Schulen, sei es an Gedenkorten und bei Gedenkveranstaltungen, sei es in Museen und Ausstellungen, sei es in Büchern und Zeitungen, sei es in öffentlichen Debatten und im politischen Engagement. Das Erbe der Zeitzeugen, ihre persönlichen Berichte, Dokumente und Aufzeichnungen, werden uns dabei helfen.

Zu einer lebendigen Erinnerungskultur gehört aber auch, aufzustehen gegen Antisemitismus und Fremdenhass, wo immer wir ihn erleben. Erinnern heißt, nicht schweigen können, wenn auf Deutschlands Straßen der Hass gegen Juden oder Moslems, gegen Flüchtlinge und Einwanderer geschürt wird. Erinnern heißt, sich niemals zurück zu ziehen auf die ebenso bequeme wie verantwortungslose Haltung, dass es auf die eigene Stimme, auf das eigene Handeln nicht ankommt! Das Gegenteil ist richtig: Auf jeden einzelnen kommt es an!

Vergessen wir nicht: Erst das Schweigen der Mehrheit machte die so genannte "Endlösung der Judenfrage" möglich, die europaweite, systematische Organisation des Völkermords, die hier in diesem Haus heute vor 73 Jahren im Rahmen der Wannsee-Konferenz besprochen und beschlossen wurde. Das mutige und beherzte Engagement einiger weniger hat Leben gerettet und in einem geistig und moralisch verwüsteten Land Inseln der Menschlichkeit bewahrt. Diese Menschlichkeit haben wir uns für unsere Gesellschaft mühsam zurück erkämpft. Lassen wir nicht zu, dass Hass, Ressentiments und Gleichgültigkeit diesen Kitt wieder porös werden lassen!

In diesem Sinne, lieber Herr Bartoszewski, wünsche ich Ihrem Buch viel öffentliche Aufmerksamkeit und viele interessierte, vor allem auch junge Leserinnen und Leser, die sich auf die Stimme eines so beeindruckenden Zeitzeugen einlassen! Vielen Dank, dass Sie an diesem symbolträchtigen Tag an diesen symbolträchtigen Ort gekommen sind, um "Ihr Auschwitz" gegen das Auschwitz der Täter zu stellen, das hier bei der Wannsee-Konferenz Gestalt annahm! Ich verneige mich vor Ihnen!