Redner(in): Joschka Fischer
Datum: 03.02.2001

Untertitel: Wenn sich Europa heute als ein Kontinent der Freiheit, des Friedens und der Sicherheit präsentiert, so ist dies auch ein Ergebnis weitsichtiger amerikanischer Außenpolitik.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/36/30336/multi.htm


Redemanuskript

wenn sich Europa heute als ein Kontinent der Freiheit, des Friedens und der Sicherheit präsentiert, so ist dies auch ein Ergebnis weitsichtiger amerikanischer Außenpolitik. Ohne die Präsenz der Vereinigten Staaten in Europa, ohne ihren jahrzehntelangen Einsatz für ein freies, demokratisches Europa wäre das historische Projekt der europäischen Einigung niemals Realität geworden. Und gewiß wäre auch die Wiedervereinigung Deutschands nicht gelungen, wenn sich die USA nicht so vorbehaltlos und geradlinig für das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen eingesetzt hätte. Die USA sind bis heute in Europa präsent, sie sind eine "europäische Macht". Und dies sollte auch für die Zukunft gelten. Dies ist deshalb von so grundlegender politischer Bedeutung, weil die doppelte - europäische und transatlantische - Verankerung Deutschlands in unserem dauerhaften Interesse ist und bleibt.

Das transatlantische Verhältnis verändert sich und dies muß auch geschehen, denn nur so kann es seine Vitalität erhalten. Angesichts der großen Veränderungen der Weltpolitik mit dem Ende des Kalten Krieges müssen wir unsere Ziele, Interessen und Prioritätensetzungen neu justieren. Hierzu zwingt uns die Globalisierung und das Aufkommen von neuartigen Sicherheitsrisiken. Wir sollten aber in diesen Veränderungen nicht nur die Probleme sehen, sondern viel eher eine Gestaltungschance, von der unsere Länder unter der Starre des Kalten Krieges nur hätten träumen können.

Die USA verfügen heute über einen in der Weltgeschichte einzigartigen globalen Einfluß und eine entsprechende Verantwortung. Die Debatte in den USA darüber, wie das Land mit dieser Verantwortung am besten umgehen sollte, verfolgen wir mit großem Interesse, denn sie ist für uns alle von überragender Bedeutung. Aber auch der alte Kontinent Europa hat sich in den vergangenen zehn Jahren dramatisch verändert, bedingt durch das Ende des Kalten Krieges und der Teilung Europas. Und er wird sich in den vor uns liegenden Jahren durch die Osterweiterung und die Vertiefung der politischen Integration der EU noch weitaus dramatischer verändern. Am Ende wird eine nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch geeinte Europäische Union stehen. Ein solches politisch handlungsfähiges, geeintes Europa bietet den USA die Chance einer echten globalen Partnerschaft, wie sie kein nationaler Partner in Europa jemals wird leisten können.

Anrede,

die Vorstellung, dass sich Europa mit dem Ende der Sowjetunion von seinem amerikanischen Partner verabschieden könnte, ist ein großer Irrtum. Die blutigen Kriege auf dem Balkan haben uns auf bittere Art und Weise eines Besseren gelehrt. Die demokratische Selbstbefreiung des serbischen Volkes wäre ohne die Unterstützung Amerikas und Europas und die konsequente Haltung der NATO nicht möglich gewesen. Aber auch nach der Wende in Belgrad bleibt das amerikanische Engagement im Bündnis und im Stabilitätspakt unverzichtbar, um Südosteuropa eine friedliche europäische Perspektive zu geben. Eine Politik des langen Atems ist hier gefordert, die wir nur gemeinsam zum Erfolg führen können.

Europa bleibt auch künftig für den Erhalt seiner Sicherheit auf die USA angewiesen. Und umgekehrt gilt: Ein friedliches, prosperierendes Europa liegt im fundamentalen Interesse der USA.

Die Europäische Union hat aus der Erfahrung im Kosovo die Lehre gezogen, daß sie auch selbst in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik handlungsfähig werden muß. Dies liegt auch in der Konsequenz des europäischen Einigungsprozesses. Er gewinnt damit eine völlig neue Dimension.

Die wirksame Verbindung ziviler und militärischer Mittel wird im 21. Jahrhundert zu einem Markenzeichen der EU werden. Die ESVP wird ihre neuen Mittel militärische Krisenbewältigung einbetten in den erprobten, umfassenden Rahmen von Konfliktprävention und ziviler Krisen bewältigung. Die EU wird damit künftig über alle Ebenen politischer Einwirkung von der Frühdiagnose entstehender Konflikte bis hin zum Einsatz militärischer Mittel verfügen. Wenn wir das, was jetzt in Brüssel auf die Beine gestellt wird, richtig nutzen, wird ein neuer Mechanismus zu einer flexiblen, integrierten und umfassenden Bewältigung von Krisen entstehen. Der Einsatz von Gewalt wird dabei immer nur die ultima ratio bleiben.

Die USA haben immer wieder die Stärkung des "europäischen Pfeilers" im Bündnis gefordert. Genau dieses Ziel verfolgt die ESVP. Sie ist als Ergänzung der NATO und nicht als Konkurrenz zu ihr gedacht. Sie soll das Bündnis ausgewogener und dadurch noch stärker machen. Wir wissen, daß der Erfolg der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik entscheidend davon abhängen wird, daß sie in einer für die USA transparenten Weise und kompatibel zur NATO aufgebaut wird. Wir wollen die NATO nutzen, um ihre Ressourcen auch der EU zu erschliessen. Umgekehrt werden die neuen Fähigkeiten, die eine glaubwürdige ESVP erfordern wird, zugleich der NATO zur Verfügung stehen. Keine Duplizierung der Institutionen und Fähigkeiten also, sondern eine Vermehrung des Nutzens, keine gegenseitige Schwächung, sondern neue Stärke durch Synergie und enge Verbindungen. Den EU-Beitrittskandidaten und gerade denjenigen europäischen NATO-Verbündeten, die nicht der EU angehören, werden im übrigen Konsultations- und Mitwirkungsrechte offenstehen, wie sie keine andere internationale Organisation bisher Nichtmitgliedern angeboten hat.

Meine Damen und Herren,

am Ende des Kalten Krieges stand die große transatlantische Vision eines "Europe whole and free". Die Vollendung dieses historischen Projekts bleibt unser wichtigstes gemeinsames Ziel. Wie weit sind wir gekommen? Mit der Aufnahme Polens, Ungarns und der Tschechischen Republik hat das Atlantische Bündnis einen bedeutenden Schritt hin zur endgültigen Überwindung der Teilung Europas getan. Die neuen Mitglieder haben einen wichtigen und verantwortlichen Part in dem Engagement der NATO in Südosteuropa übernommen. Ihr Beitritt hat sich als ein großer Gewinn für das Bündnis und für die europäische Sicherheit erwiesen.

Das Bündnis bleibt offen für weitere Mitglieder. Ausgangspunkt bleibt der Beschluß des Washingtoner Gipfels, nach dem das Bündnis seine Tür offen hält. Wir haben nie einen Zweifel daran gelassen, daß das Recht der freien Bündniswahl für alle Staaten in Europa gelten muß. Es darf kein Veto Dritter akzeptiert werden. Es liegt aber ebenso im Interesse sowohl der Allianz wie der Beitrittsaspiranten, die Aufnahmefähigkeit, Leistungsstärke und den Zusammenhalt des Bündnisses nicht zu überfordern.

Diese sensible Frage der weiteren NATO-Öffnung bedarf intensiver Konsultationen und sorgsamer Abwägung in der Allianz. Aus unserer Sicht spricht einiges dafür, den bisherigen Kurs einer Öffnung in maßvollen Schritten klug und bedacht fortzusetzen.

Die Frage einer europäischen Friedensordnung ist aber nicht allein Sache der NATO. Die Osterweiterung der Europäischen Union ist ein in seiner Bedeutung kaum zu überschätzender Beitrag zur euro-atlantischen Sicherheit, der in den USA manchmal nicht von allen angemessen bewertet zu werden scheint.

Vergessen wir nicht: Die EU-Osterweiterung ist eine historische Investition in eine langfristig angelegte, präventive Sicherheits- und Friedenspolitik, die auf die innere Stabilität dieser Staaten und Gesellschaften einen stärkeren und nachhaltigeren Einfluss ausüben wird als die NATO-Öffnung. Schon heute greifen die Standards der Union auf die Nachbarstaaten über und haben bereits zahlreiche, in der Vergangenheit durchaus blutig ausgetragene Konflikte, auflösen können. Und es ist noch aus einem anderen Grund wichtig, die Erweiterungen der NATO und der EU im Zusammenhang zu sehen, weil nämlich die nächste Erweiterungsrunde der EU auch eine sicherheitspolitische Dimension besitzt. Eine erweiterte EU der 27 wird ebenfalls ein wesentlich positiveres Umfeld von Sicherheit in Europa schaffen.

Der Zusammenhang mit der EU ist zudem wichtig, wenn wir über den fairen Ausgleich der Lasten der gemeinsamen Sicherheit im Bündnis diskutieren. Auch hier brauchen wir das volle Bild und nicht nur den klassischen verteidigungspolitischen Ausschnitt, zumal man einen Euro nur einmal wird ausgeben können. Für die Entwicklung der Zivilgesellschaften in den Beitrittsländern, für die Angleichung von Wettbewerbs- , Umwelt- und Sozialstandards wendet die EU jährlich Milliardensummen auf. Insgesamt werden es im Zeitraum von 1990 bis 2006 für Mittel- , Ost- und Südosteuropa einschließlich der GUS-Staaten 136 Mrd. Euro sein - wahrhaft ein europäischer Marshallplan. Und auch mit ihrem Engagement auf dem Balkan brauchen sich die Europäer weder zivil noch militärisch zu verstecken. Die EU-Mitglieder in der NATO haben heute mit über 40.000 Soldaten viermal mehr Soldaten dort als die USA.

Bei allem, was EU und NATO für die Verbesserung der europäischen Sicherheit unternehmen, suchen wir die Partnerschaft mit einem sich demokratisierenden Rußland. Hier liegt eine der großen transatlantischen Gestaltungsaufgaben im 21. Jahrhundert. Ein Land von der Geschichte, Größe und Bedeutung Rußlands muß bei der gestaltung der europäischen Sicherheit eine nicht unwesentliche Rolle zu spielen. Ein demokratisches, marktwirtschaftliches und modernes Rußland, voll eingebunden in das Netzwerk der europäischen Sicherheit, liegt gleichermaßen im fundamentalen Interesse der USA wie der Staaten der Europäischen Union. Wir müssen deshalb weiter alles daran setzen, Rußland zu überzeugen, daß die NATO nicht gegen Rußland gerichtet ist, daß es hier auch nicht um Hegemonialräume oder Einflußzonen geht, sondern allein um ein Mehr an Sicherheit, das gerade auch Rußland an seiner Westgrenze zugute kommen wird. Die sicherheitspolitischen Kooperation muß daher besonders im NATO-Rußland-Rat weiter ausgebaut werden.

Meine Damen und Herren,

die neue US-Regierung hat angekündigt, dass sie an dem Ziel einer Raketenabwehr festhält, ja sogar weiter gehende Versionen in Angriff nehmen will, die nach Übersee verlegte Truppen und auch befreundete und verbündete Staaten schützen kann. Wir wollen die daraus zu ziehenden Konsequenzen gemeinsam nüchtern analysieren und unvoreingenommen prüfen. Die NATO ist der richtige Ort, an dem wir dies bewerten und nach der richtigen Lösung suchen können.

Die Frage einer Raketenabwehr ist zuerst und vor allem eine nationale Entscheidung der USA, aber sie hat weitreichende internationale Auswirkungen. Wir nehmen daher das Angebot der USA gerne an, die vielfältigen Implikationen der Entwicklung, des Baus und der Stationierung eines Raketenabwehrsystems auf die Sicherheit im Bündnis und auf die Zukunft der internationalen Abrüstung und Rüstungskontrolle gemeinsam sorgfältig abzuwägen.

Aus Sicht der Bundesregierung kommt es auf drei Kernpunkte an:

Erstens: Sicherheit und Kohäsion im Atlantischen Bündniss müssen gewahrt und nach Möglichkeit gestärkt werden.

Zweitens: neue Rüstungswettläufe müssen vermieden und weitere Abrüstungsschritte eingeleitet werden.

Drittens: das dichte Vertragsnetz nuklearer Abrüstung und Nichtverbreitung muß erhalten, gestärkt und ausgebaut werden.

Wir begrüßen es, daß in den Vereinigten Staaten die Aufmerksamkeit dafür wächst, dass wichtige Nuklearwaffenstaaten ein Raketenabwehrsystem nicht als gegen sich gerichtet empfinden dürfen. Die Argumente, die insbeondere von russischer Seite in jüngster Zeit vorgebracht wurden, sind deshalb ernsthaft zu prüfen. Ein neues Wettrüsten, etwa in Asien oder im Weltraum, oder eine Beschleunigung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen würde weltweit weniger statt mehr Sicherheit schaffen. Dabei gilt es gewiß auch zu berücksichtigen, daß ein Rüstungsprojekt dieser Größe politische Wirkungen entfaltet schon lange bevor es realisiert ist.

Die Bundesregierung wird sich deshalb dafür einsetzen, daß es zu weiteren energischen nuklearen Abrüstungsschritten kommt, die von politischen Initiativen zur Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen begleitet werden. Hierzu wird Europa seinen Beitrag leisten, aber vor allem die USA und Russland tragen hierfür die maßgebliche Verantwortung. Für uns als Nichtatomwaffenstaat bleibt die Verhinderung der Proliferation durch politische und vor allem durch vertragliche Instrumente ein wesentlicher Eckpfeiler unserer Sicherheit.

Anrede,

das Verhältnis zwischen NATO und EU, die Vollendung einer gesamteuropäischen Friedensordung und die offenen Fragen eines möglichen Raketenabwehrsystems - dies sind die großen Sicherheitsfragen, die die transatlantische Agenda in den kommenden Jahren prägen werden. Wir haben in der NATO in nahezu allen wichtigen Fragen gleichgerichtete Interessen. Daß es aber auch unterschiedliche Meinungen gibt, ist für jedes Bündnis konstitutiv. Aber wenn wir weiter im Geist der transatlantischen Partnerschaft auf gegenseitiges Verständnis und und enge Konsultation setzen, dann sollte es uns gelingen, in diesen für uns alle so wichtigen Fragen zu gemeinsamen Entscheidungen zu gelangen.