Redner(in): Monika Grütters
Datum: 09. Februar 2015
Untertitel: In ihrer Rede ehrte Monika Grütters die Preisträgerinnen Christine Montalbetti und Esther Kinsky. Sie betonte "Ihre Auszeichnung mit dem Franz-Hessel-Preis soll dazu beitragen, dass Ihr Blick auf unsere Gegenwart nicht nur in Ihrem Heimatland, sondern auch im jeweiligen Nachbarland Aufmerksamkeit findet und damit zu einem Teil unseres gemeinsamen Horizonts werden kann.".
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2015/02/2015-02-09-gruetters-franz-hessel-preis-verleihung.html
In ihrer Rede ehrte Monika Grütters die Preisträgerinnen Christine Montalbetti und Esther Kinsky. Sie betonte "Ihre Auszeichnung mit dem Franz-Hessel-Preis soll dazu beitragen, dass Ihr Blick auf unsere Gegenwart nicht nur in Ihrem Heimatland, sondern auch im jeweiligen Nachbarland Aufmerksamkeit findet und damit zu einem Teil unseres gemeinsamen Horizonts werden kann.".
Anrede,
Es gibt wohl kaum einen zweiten Autor, der das ziellose Herumstreunen in der Großstadt auf so sinnliche Weise literarisch kultiviert hat wie der Namensgeber des Preises, den wir heute verleihen. Franz Hessel, in Berlin und Paris gleichermaßen zuhause, schrieb darüber wunderbare Feuilletons, gesammelt in seinem Buch "Spazieren in Berlin". Darin heißt es: "Flanieren ist eine Art Lektüre der Straße, wobei Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Café-Terrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze, Seiten eines immer neuen Buches ergeben." Die absichtslose Betrachtung des Flaneurs, davon war Franz Hessel überzeugt, hilft zu sehen,"was uns anschaut".
Zu sehen,"was uns anschaut" hinter den verspiegelten Oberflächen der Wirklichkeit - das ist vor allem ein Privileg von Künstlerinnen und Künstlern, von Dichterinnen und Dichtern, die auch uns, ihre Leser, zu Sehenden machen können. In diesem Sinne ziehen Sie uns mit Ihrem Roman "Am Fluss" in einen Strom der Erinnerungen, liebe Frau Kinsky, und lehren uns scheinbar Unbedeutendes neu zu sehen. Auch Sie, liebe Frau Montalbetti, öffnen uns mit Ihrem Roman "Nichts als Wellen und Wind" die Augen, nämlich für Bedrohungen unter der Oberfläche des aufgewühlt peitschenden Ozeans in Oregon.
So wie Franz Hessel den einzelnen Pixeln auf dem Bild seiner Gegenwart nachspürte, so widmen auch Sie sich mit poetischer Kraft und sprachlicher Präzision den einzelnen, kleinen Bildpunkten, die unseren Augen oft verborgen bleiben und die doch so viel erzählen über unsere Zeit. Ihre Auszeichnung mit dem Franz-Hessel-Preis soll dazu beitragen, dass Ihr Blick auf unsere Gegenwart nicht nur in Ihrem Heimatland, sondern auch im jeweiligen Nachbarland Aufmerksamkeit findet und damit zu einem Teil unseres gemeinsamen Horizonts werden kann.
Die feste Überzeugung, dass Kultur auf diese Weise Räume der Verständigung und des Verstehens eröffnen kann, oft auch dort, wo Politik an ihre Grenzen stößt - das ist das Vermächtnis Franz Hessels, dieses Grenzgängers und Mittlers zwischen Deutschland und Frankreich, der als Jude den Verlust der Heimat und die unmenschliche Lagerhaft hinnehmen musste, der sich aber nicht die Freiheit nehmen ließ, unsere humanistischen Werte zu verteidigen. Deshalb verbinden wir mit dem Franz-Hessel-Preis auch die Hoffnung, dass er Sie, liebe Preisträgerinnen, in Ihrer künstlerischen Freiheit unterstützen möge.
Die Liebe zu dieser Freiheit und die Entschlossenheit, Freiheit, Toleranz und Menschenrechte leidenschaftlich zu verteidigen, hat uns nach den furchtbaren Anschlägen von Paris im Echo eines millionenfachen "Je suis Charlie!" eng zusammenrücken lassen. Seien Sie versichert, liebe Fleur Pellerin, dass Deutschland an der Seite Frankreichs steht, wo immer es darum geht, unsere gemeinsamen Werte zu verteidigen. Unsere Haltung dabei hat vielleicht keiner so schön, so treffend formuliert wie Friedrich Schiller: "Die Kunst ist eine Tochter der Freiheit." Dafür einzustehen und zu kämpfen in aller Freiheit - das ist unser aller Anstrengung wert, und ich hoffe, dass dazu auch der deutsch-französische Franz-Hessel-Preis einen Beitrag leisten kann.
Herzlichen Glückwunsch, Christine Montalbetti und Esther Kinsky!