Redner(in): Monika Grütters
Datum: 16. März 2015

Untertitel: "Das Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes sorgt für Wertschätzung, indem es uns bewusst macht, dass unser Reichtum nicht allein in unserem Wohlstand begründet liegt, sondern auch in der Vielfalt unserer Kultur", so Kulturstaatsministerin Grütters in ihrer Rede.
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2015/03/2015-03-16-gruetters-imma-kulturerbe.html


Das Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes sorgt für Wertschätzung, indem es uns bewusst macht, dass unser Reichtum nicht allein in unserem Wohlstand begründet liegt, sondern auch in der Vielfalt unserer Kultur ", so Kulturstaatsministerin Grütters in ihrer Rede.

Anrede,

Herzlich willkommen in Berlin! Was für eine wunderbare, bunte Truppe, die sich hier versammelt hat! Wenn man in deutschen Städten durch die Fußgängerzone geht und - in welcher Stadt auch immer man sich aufhält - überall Menschen mit H & M-Tüten herumlaufen sieht, ist man ja manchmal geneigt zu befürchten, dass von kultureller Vielfalt im Alltag nicht mehr viel übrig ist. Umso mehr freut es mich, Sie - die Trägergruppen der 27 erfolgreichen Nominierungen für das Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes in Deutschland - zur heutigen Auszeichnungsveranstaltung begrüßen zu dürfen.

Deutschland, meine Damen und Herren, ist zu Recht stolz auf seine Baudenkmäler, auf seine Schlösser, Burgen und Kirchen, auf seine historischen Stadtkerne und auch auf die Kunstschätze in seinen Museen.

Aber wenn man Sie oder mich fragte, was typisch ist für uns, was uns prägt, womit wir uns identifizieren, dann würde wohl keiner von uns zuallererst an die Berliner Museumsinsel oder an die Lutherstadt Wittenberg denken. Dann ist man viel eher sofort bei Traditionen, Ritualen, Gewohnheiten, Bräuchen und Kunstfertigkeiten - bei Eigenheiten also, die im Alltag lebendig sind.

Insofern ist es auch gar kein Wunder, dass fast alle der heute vertretenen Trägergruppen für regionale Besonderheiten in Deutschland stehen. Denn nur, was viele Generationen gepflegt haben, was in den Familien von Generation zu Generation weiter gegeben wurde, hat als immaterielles Kulturerbe Bestand, und dieses Weitergeben zeichnet vor allem Gemeinschaften aus. Es ist das Verdienst von Menschen wie Ihnen, die sich fest in ihrer Heimat verwurzelt fühlen.

Das UNESCO-Übereinkommen kann uns dabei unterstützen, unsere Eigenheiten zu bewahren, indem es zu Respekt, Anerkennung und Wertschätzung beiträgt. Das Bewusstsein für den Wert unseres immateriellen Kulturerbes soll auf lokaler, auf nationaler, auf internationaler Ebene gefördert werden. Das liegt uns natürlich auch in Deutschland am Herzen, und deshalb bin ich froh, dass die Bedenken berücksichtigt wurden, die wir zunächst insbesondere angesichts der weit gefassten Definition des "immateriellen Kulturerbes" in der Konvention hatten.

Gerade für Deutschland, das zuerst eine Kulturnation und erst dann eine politische Nation war und deshalb historisch bedingt so reich ist an unterschiedlichen Traditionen und Bräuchen, gerade für Deutschland bietet die Aufnahme von Kulturformen in das Verzeichnis des immateriellen Weltkulturerbes eine Menge Chancen - allein schon deshalb, weil es Menschen in der ganzen Welt neugierig auf unser Land und seine Regionen macht.

Hinzu kommt, dass die Wertschätzung, die die Aufnahme in das UNESCO-Verzeichnis ausdrückt, für den Erhalt des immateriellen Kulturerbes noch wichtiger ist als für den Erhalt des materiellen Kulturerbes. Bauwerke kann man mit Geld erhalten. Das lassen Bund, Länder und Kommunen sich in Deutschland ja auch viel kosten. Das immaterielle Kulturerbe aber muss in den Köpfen und Herzen fortbestehen, um erhalten zu bleiben. Das lässt sich weder staatlich verordnen noch über ein Denkmalpflegeprogramm organisieren. Ohne Menschen, die Traditionen leben, geht es nicht - und ohne gesellschaftliche Wertschätzung für diejenigen, die diese - unsere - Traditionen leben, werden es immer weniger. Das Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes sorgt für Wertschätzung, indem es uns bewusst macht, dass unser Reichtum nicht allein in unserem Wohlstand begründet liegt, sondern auch in der Vielfalt unserer Kultur.

Deshalb finde ich aus kulturpolitischer Sicht allein schon den Auswahlprozess für das Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes wichtig: die öffentliche Debatte darüber, was unsere kulturelle Identität ausmacht und mit welchen Traditionen wir uns selbst und unser Land so sehr identifizieren, dass wir sie auf die Liste des weltweiten immateriellen Kulturerbes bringen wollen - allein diese Debatte schärft das Bewusstsein für den enormen Wert all ‘ unserer kulturellen Ausdrucksformen - und für unsere Identität.

Schon das Nachdenken darüber schärft das gemeinsame Bewusstsein für die Bedeutung unserer Eigenheiten - und motiviert vielleicht auch noch mehr Menschen, kulturelle Eigenheiten bewusst zu pflegen.

Wie wichtig das ist, erleben wir - wie ich finde - gerade auch angesichts aktueller gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen. In Dresden und anderen Städten sind über viele Wochen Tausende von Menschen gegen eine angebliche "Islamisierung des Abendlandes", gegen die vermeintliche Bedrohung unserer Kultur durch Zuwanderung im Allgemeinen und den Islam im Besonderen auf die Straße gegangen. Wenn die diffuse Angst vor der vermeintlich drohenden Dominanz kultureller Minderheiten so groß ist, stellt sich die Frage umso dringlicher, wie es eigentlich um unsere eigene kulturelle Identität bestellt ist. Heimat ist da, wo ich verstehe und verstanden werde " hat ein deutscher Philosoph ( Karl Jaspers ) einmal gesagt. Ich bin überzeugt: Eine Gesellschaft, die mit ihren kulturellen Eigenheiten ihre eigene Identität und ihr Selbstverständnis pflegt, kann dem Anderen, dem Fremden, dem Unverständlichen Raum geben, ohne sich dadurch bedroht zu fühlen. Wo es dagegen keinen kulturellen Kern mehr gibt, braucht es Feindbilder, um sich der eigenen Identität zu vergewissern. Dass Sie dem entgegen wirken, ist großartig. Es ist notwendig und wichtig.

Herzlichen Dank in diesem Sinne Ihnen allen, die Sie unsere kulturellen Eigenheiten lebendig halten - herzlichen Dank, dass Sie auf diese Weise eine Heimat erhalten, in der Menschen verstehen und verstanden werden!