Redner(in): Monika Grütters
Datum: 15. März 2015
Untertitel: "Es gibt wohl kaum ein anderes Museum von Weltrang in Deutschland, das über so viele Jahrzehnte vom Bürgersinn kunstbegeisterter Zeitgenossen getragen und davon so sehr durchdrungen ist wie dieses Schmuckstück am Main, auf das nicht nur Frankfurt, sondern ganz Deutschland stolz sein kann", betonte Monika Grütters in ihrer Rede.
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2015/03/2015-03-15-gruetters-staedel-museum.html
Es gibt wohl kaum ein anderes Museum von Weltrang in Deutschland, das über so viele Jahrzehnte vom Bürgersinn kunstbegeisterter Zeitgenossen getragen und davon so sehr durchdrungen ist wie dieses Schmuckstück am Main, auf das nicht nur Frankfurt, sondern ganz Deutschland stolz sein kann ", betonte Monika Grütters in ihrer Rede.
Anrede,
Am 14. Oktober des Jahres 1814 empfing Johann Friedrich Städel einen Freund zum Mittagessen. Niemand Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe schaute vorbei - und blieb ein bisschen länger als nur zum Essen. Jedenfalls vermerkte er später in seinem Reisebericht, dass Städel in seinem Haus "Gemälde aller Schulen" aufbewahre, dazu in vielen Schränken Handzeichnungen und Kupferstiche, kurz: eine Sammlung, die jeden Kunstfreund in Erstaunen versetze. Goethe pries denn auch die Großzügigkeit des "vaterländisch denkenden, trefflichen Mannes", der seine Kunstschätze der Öffentlichkeit zugänglich machte, wodurch "Kunstfreude und Kunstsinn hier für ewige Zeiten die gewisseste Anregung und die sicherste Bildung hoffen können".
Goethe hat mit seinen Worten Recht behalten. Und so ist es eine schöne Fügung der Geschichte, dass es sich beim wohl berühmtesten Bild, das im Städel-Museum "für ewige Zeiten" Kunstfreude und Kunstsinn nährt, ausgerechnet um Tischbeins Gemälde "Goethe in der römischen Campagna" handelt - eine Schenkung der Familie Rothschild im Jahre 1887, das bis heute im wahrsten Sinne des Wortes unser Bild von Goethe prägt.
Goethe hat mit seinen anerkennenden Worten allerdings auch dafür gesorgt, dass Johann Friedrich Städel "auf ewige Zeiten" vermutlich nicht mehr damit rechnen kann, Lob aus noch berufenerem Munde zu bekommen. Dennoch - ich freue mich über die große Ehre, dem Städel-Museum zum 200. Jubiläum gratulieren zu dürfen einem Haus, das nicht nur eine Sammlung mit klingenden Namen aus allen Epochen und Ländern sein eigen nennt und mit ambitionierten Ausstellungen begeistert, sondern das darüber hinaus auch so überzeugend für all das steht, was Museen in einer pluralistischen Gesellschaft zu identitätsstiftenden gemeinsamen Bezugspunkten macht: zu "geistigen Ankerpunkten", wie der ehemalige Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Prof. Lehmann, das einmal formuliert hat zu Orten, die für das Miteinander in unserer Gesellschaft eine so wesentliche Rolle spielen können.
Das Miteinander zieht sich ja von Anfang an wie ein roter Faden durch die Geschichte des Städel. Es gibt wohl kaum ein anderes Museum von Weltrang in Deutschland, das über so viele Jahrzehnte vom Bürgersinn kunstbegeisterter Zeitgenossen getragen und davon so sehr durchdrungen ist wie dieses Schmuckstück am Main, auf das nicht nur Frankfurt, sondern ganz Deutschland stolz sein kann.
Es ist die Tradition des bürgerschaftlichen Engagements und des Mäzenatentums in Frankfurt, die bis heute einlöst, was Johann Friedrich Städel bei der Niederschrift seines endgültigen Testaments am 15. März 1815 am Herzen lag, als er sein gesamtes Vermögen und seine umfangreiche Kunstsammlung einer eigens gegründeten Stiftung "Städelsches Kunstinstitut" vermachte - dass diese seine Stiftung die Frankfurter Bürgerschaft "zieren und ihr nützlich werden" möge.
Nicht nur in dieser Hinsicht erwies sich Johann Friedrich Städel im Nachhinein als Visionär. Visionär war auch sein Wunsch, allen Bürgerinnen und Bürgern Zugang zu seiner Kunstsammlung und damit zu kultureller Bildung zu gewähren. Lange waren es ja überhaupt nur Könige und Hochadel, Päpste und hohe geistliche Würdenträger, die Kunstwerke sammelten. Erst seit dem 16. Jahrhundert entstanden zunehmend auch Sammlungen reicher Bürger und Gelehrter.
Diese Sammlungen waren privat und nur einem relativ kleinen Kreis privilegierter Personen zugänglich. Das änderte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts. Die Schatzkammern und Sammlungsräume in den Schlössern und Adelssitzen öffneten ihre Türen zunächst zwar nur für Personen von Stand, dann aber auch für das Bürgertum. Doch erst um und nach 1800, nicht zuletzt unter dem gewaltigen Modernisierungsschub der Französischen Revolution, setzte sich allmählich die Auffassung durch, dass die Sammlungen der Öffentlichkeit nicht nur zugänglich sein, sondern ihr auch im juristischen Sinne "gehören" sollten.
Hier hat Johann Friedrich Städel mit seiner Bürgerstiftung Pionierarbeit geleistet. Was für eine Demonstration bürgerlichen Selbstbewusstseins in einer Zeit, in der der Wiener Kongress sich anschickte, die alten Machtverhältnisse zu zementieren und den Geist der Aufklärung zurück zu drängen!
Viele andere taten es ihm in den folgenden Jahrzehnten im Rahmen ihrer Möglichkeiten gleich: Das von ihm mitgestiftete Haus war bald zu klein für die zahllosen Schenkungen, die der Stiftung zuteil wurden. Bis heute sind ein Drittel der Gemälde des Städel Museums Stiftungen und Schenkungen kunstinteressierter Bürgerinnen und Bürger, die seit 1899 im Städelschen Museumsverein organisiert sind. Und nicht zu vergessen: Das Städel ist zu mehr als 80 Prozent eigenfinanziert, und der 2012 eröffnete Erweiterungsbau wurde zur Hälfte aus privaten Spendengeldern finanziert - ein kleines Wunder und eine Großtat - gerade heutzutage.
So erinnert die Geschichte des Städel auch daran, dass Deutschland seine im europäischen Vergleich einmalige Dichte kultureller Einrichtungen nicht nur der großen Zahl ehemals fürstlicher Residenzen verdankt, und nicht allein einer im Vergleich zu anderen Ländern relativ großzügigen staatlichen Kulturfinanzierung, sondern auch einer beträchtlichen Zahl wohlhabender Bürgerinnen und Bürger, denen es ein Herzensanliegen war und ist, unserem Staat und unserer Gesellschaft etwas zurück zu geben.
Dieses Selbstverständnis, meine Damen und Herren, - dieser rote Faden des Bürgersinns - spiegelt sich auch in der Offenheit des Städel Museums für Menschen unterschiedlichster Herkunft. Auch hier ist das Städel dem Willen seines Gründers treu geblieben, der ja keinen elitären Tempel der Hochkultur errichten wollte, ganz im Gegenteil. Was schon Johann Wolfgang von Goethe an der Städelschen Sammlung bewunderte - die Anregung zu Kunstfreude und Kunstsinn - , das sollte allen Bürgerinnen und Bürgern zuteil werden. Damit hat Johann Friedrich Städel für seine Stiftung ein Kulturverständnis vorweggenommen, das erst ab den 1970er Jahren Breitenwirkung entfaltete.
Der damalige Frankfurter Kulturdezernent Hilmar Hoffmann war es, der damals mit dem Schlachtruf "Kultur für alle" in den Kampf gegen einen elitären Kulturbegriff der Wohlhabenden und Gebildeten zog und einem exklusiven, auf Abgrenzung und Ausgrenzung zielenden Kulturverständnis seine Auffassung von Kultur als "langfristigen Beitrag zur Selbstfindung des Menschen" entgegen setzte - ein Anspruch, der mittlerweile immerhin breite Zustimmung findet, der aber trotzdem vielfach bis heute kaum eingelöst ist, jedenfalls nicht in den Stellenplänen der Museen, die in der Regel fünf mal so viele Kuratoren wie Pädagogen ausweisen …
Umso beeindruckender ist das Engagement, mit dem man sich im Städel-Museum bemüht,"Angebote für alle" zu machen, wie es auf der Website heißt. Mehr als 40 unterschiedliche Vermittlungsformate haben meine Mitarbeiter im Jahresbericht des Museums gezählt. Da gibt es nicht nur Kinderführungen, Familienführungen, Fremdsprachenführungen und Atelierkurse für Groß und Klein, sondern auch spezielle Angebote wie "Art after Work" - die entspannte Abendführung mit anschließendem Drink. Ein "barrierefreies Kunsterlebnis" verspricht das Städel als eigenes Angebot für Menschen mit Behinderungen,"Kunst verbindet Kulturen" erfahren Kinder in Gruppenführungen, und in Zusammenarbeit mit der Stiftung "Leben mit Krebs" gibt es Führungen unter dem Motto "Kunst zum Leben" für schwer kranke Menschen.
Beeindruckt hat mich auch, wie das Städel neue, innovative Möglichkeiten der digitalen Bildungsvermittlung nutzt. ARTONAUT fürs iPad nimmt Kinder mit auf eine interaktive Bilderreise, mit dem "Digitorial" auf der Website kann man sich von zuhause oder unterwegs auf die aktuelle Monet-Jubiläums-Ausstellung einstimmen, und das Städelblog spricht mit gut aufbereiteten, aktuellen Informationen und Tipps rund um das Museum junge Leute an - gerade diejenigen vielleicht, die die ehrfürchtige Stille und die verstaubt anmutenden Prunksäle der großen Museen eher "upturned" - um es mal in den Worten meiner elf Neffen zu sagen, die ich bei ihren Besuchen in Berlin doch eher mehr zum Ausstellungsbesuch überreden muss.
Ein eigener Twitter-Account mit über 10.500 Followern gehört seit einigen Jahren ebenfalls zum Erweiterungsbau des Städel Museums in der digitalen Welt - Städel-Neuigkeiten in 140 Zeichen-Tweets, sei es die Ankündigung der nächsten Ausstellung, sei es der Link zum Interview mit Max Hollein.
So ist es kein Wunder, dass sich unter den üppigen Lorbeeren, mit denen das altehrwürdige Städel Museum in seiner Geschichte immer wieder öffentlich bekränzt wurde, nicht nur Feuilleton-Perlen, sondern auch Twitter-Perlen finden - in vielen Sprachen verfasste Lobesworte und persönliche Empfehlungen einzelner Besucherinnen und Besucher, die in den digitalen Weiten des Netzes in kürzester Zeit weltweit Zehntausende erreichen."Die Natur ist der größte Meister. Alle anderen trifft man im #staedelmuseum", heißt es da zum Beispiel.
Für diese Zukunftsorientierung können wir dem Städelmuseum ebenso dankbar sein wie für den Beitrag seiner großartigen Sammlung zum kulturellen Gedächtnis unseres Landes. Viele Menschen unterschiedler Herkunft, Bildung und Altersgruppen anzusprechen, stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Ich bin überzeugt, dass der kulturellen Integration eine enorme Bedeutung bei der gesellschaftlichen Integration zukommt. Ohne ein Minimum an kulturellen Referenzen, die allgemein als bekannt vorauszusetzen sind und auch anerkannt werden, kann ich mir nicht vorstellen, wie sich in unserem Land dauerhaft gemeinschaftsstiftende Kräfte halten oder entfalten können.
Kulturelle Bildung wird damit im wahrsten Sinne des Wortes zu einer staatstragenden Aufgabe. Sie beschert individuelle Erfahrungen, die das Bewusstsein schärfen für das, was uns als pluralistische Gesellschaft ausmacht. Dazu muss sie Menschen in ihrer Lebenswelt erreichen - mag diese auch noch so weit weg sein von öffentlich geförderten kulturellen Angeboten. Das ist anspruchsvoll, aber es ist das Mindeste, was wir von der viel beschworenen Kulturnation Deutschland erwarten können und sollten, und deshalb verdient das herausragende Engagement des Städel Museums in der kulturellen Vermittlung heute, an diesem Jubiläumstag, nicht nur würdigende Worte, sondern auch einen kräftigen Applaus.
Nicht zuletzt deshalb freut es mich sehr, lieber Herr Hollein, dass Sie im Sommer - wie vor wenigen Tagen bekannt wurde - den diesjährigen Binding-Kulturpreis erhalten werden, einen der höchstdotierten Kulturpreise Deutschlands. In der Begründung des Kuratoriums heißt es, ich zitiere: "Mit Hollein wird ein Museumsdirektor ausgezeichnet, dessen Einsatz der Kunststadt Frankfurt einen Glanz verliehen hat, der weit über Deutschland hinausstrahlt." Es gelinge ihm, ich zitiere weiter,"mit einem abwechslungsreichen Programm das Fachpublikum und die breite Bevölkerung für die Kunst aller Epochen zu begeistern."
Seiner gesellschaftlichen Verantwortung, meine Damen und Herren, wird das Städel im Übrigen auch in der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und der seiner Sammlung auf vorbildliche Weise gerecht. Spätestens seit dem Fall "Gurlitt" werden Museen nicht nur an ihrer Ankaufs- und Ausstellungspolitik gemessen, sondern auch daran, wie sie ihre Geschichte und die ihrer Sammlungen aufarbeiten.
Als eines der ersten deutschen Museen hat das Städel Museum bereits 2002 begonnen, seine Bestände systematisch zu erforschen, um Werke, die ihren rechtmäßigen Eigentümern während der Zeit des Nationalsozialismus entzogen wurden, zu identifizieren und zurück zu geben. Mit der Provenienz eines entzogenen, geraubten, abgepressten Kunstwerks ist ja immer auch das individuelle Schicksal eines Menschen verbunden.
Es gehört deshalb zu unserer großen, historisch begründeten Verantwortung, dass unser Land - Staat und Verwaltungen genauso wie Organisationen, Einrichtungen und Privatpersonen - keinen Zweifel daran lässt, welche immense Bedeutung für uns alle die rückhaltlose Aufarbeitung des nationalsozialistischen Kunstraubs hat. Es geht dabei weniger um materiellen Ausgleich als vielmehr noch um die Anerkennung der Opferbiografien. Das Staedel Museum wird dieser Verantwortung in vorbildlicher Weise gerecht.
So ist das Städel Museum nicht nur ein "Schmuckstück" der deutschen Museumslandschaft, sondern auch ein Paradebeispiel dafür, was Museen als Wegmarken unserer Gesellschaft, was jedes einzelne Museum zu leisten imstande ist. Es macht unser kulturelles Gedächtnis sichtbar. Es spiegelt unsere Identität. Es führt unterschiedliche Perspektiven auf die Welt zusammen. Es stiftet Identifikation. Es öffnet Räume für Verständnis und Verständigung.
Andere Häuser fordern dafür öffentliche Gelder. Das Städel Museum dagegen zehrt vom bürgerschaftlichen Engagement. Insofern ist es eine sehr schöne zeitliche Koinzidenz, dass Johann Wolfgang von Goethe just fast zur selben Zeit, als Johann Friedrich Städel die erste bürgerliche Museumsstiftung gründete, eine dazu passende Metapher in unserem Vokabular hinterlassen hat.
In seinem 1809 erschienen Roman "Die Wahlverwandtschaften" heißt es, ich zitiere: "Wir hören von einer besonderen Einrichtung bei der englischen Marine. Sämtliche Tauwerke der königlichen Flotte, vom stärksten bis zum schwächsten, sind dergestalt gesponnen, dass ein roter Faden durch das Ganze durchgeht, den man nicht herauswinden kann, ohne alles aufzulösen ( … ) ."
Auch das Städel Museum hat einen solchen roten Faden, den man nicht herauswinden kann, ohne alles aufzulösen. Es ist das Bewusstsein gesellschaftlicher Verantwortung, das Johann Friedrich Städel dem Haus mit seiner Stiftung eingeimpft hat. Es ist dieser rote Faden, den Sie mit Ihrer Arbeit heute weiter knüpfen, verehrter Herr Hollein, verehrter Herr Prof. Schweickart - zusammen mit Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und nicht zuletzt natürlich mit den weit über 7.000 Mitgliedern des Städelschen Museumsvereins unter Ihrer Führung, liebe Frau von Metzler.
Der rote Faden des Bürgersinns ist eingewebt in die beeindruckende Sammlung, die in weiten Teilen von Bürgerinnen und Bürger bestückt wurde. Der rote Faden des Bürgersinns leuchtet im Veranstaltungsprogramm, das sich um alle Bürgerinnen und Bürger bemüht. Der rote Faden des Bürgersinns durchzieht das robuste Gewebe einer Kultur der Unabhängigkeit von öffentlichen Geldgebern, auf die man im Städel - zu Recht - stolz ist. Und nicht zuletzt steckt der rote Faden des Bürgersinns auch in der liebevollen Frankfurter Redewendung "unser Städel".
So sind es nicht in erster Linie die glänzenden Zahlen, zu denen wir dem Städel-Museum heute gratulieren dürfen:
700 Jahre europäische Kunstgeschichte in rund 3.000 Gemälden, 1.600 Fotografien, 100.000 Zeichnungen und Druckgrafiken, 600 Skulpturen, bestaunt von 423.000 Besucherinnen und Besuchern im Jahr 2014. All das ist beeindruckend. Schier überwältigend aber ist die im Städel Museum erfahrbare und spürbare Überzeugung unzähliger Bürgerinnen und Bürger, dass Kunst von unschätzbarem Wert ist für eine humane Gesellschaft und eine lebendige Demokratie.
Dafür bin ich dankbar! Herzlichen Glückwunsch zum 200. Jubiläum!