Redner(in): Julian Nida-Rümelin
Datum: 08.02.2001
Untertitel: Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin hat am 8. Februar 2001 in Berlin den Deutschen Drehbuchpreis 2001 verliehen. Im Rahmen der 51. Internationalen Filmfestspiele ehrte Nida-Rümelin die Preisträger Clemens Murath und Natja Brunckhorst für ihre Arbeiten.
Anrede: Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Preisträger,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/16/31116/multi.htm
wenn sich die runde Spule des Films im Projektor dreht, zeichnen sich im Kino-Dunkel leuchtende Bilder auf dem Rechteck der Leinwand ab. Das könnte uns in der Hoffnung bestärken, dass man diesem Medium sogar die Quadratur des Kreises zutrauen kann. Umso mehr, als sich die Filmrolle bereits in einer - wie Sie wissen sehr komplexen - Metamorphose aus einem zweifingerdicken, rechteckigen Stapel Papier entwickelt hat: dem Drehbuch. Das sollte auch in der Öffentlichkeit gebührend gewürdigt werden.
In diesem Sinne: Herzlich willkommen zur Verleihung des Deutschen Drehbuchpreises!
Das Erzählen für den Film ist ein schwieriger Akt der Balance zwischen sehr unterschiedlichen Herausforderungen: denen der Ökonomie, der Unterhaltung, der Kunst und der Gesellschaft. Als Wirtschaftsunternehmen muss die Filmproduktion auf Rentabilität bedacht sein. Die Zuschauer erwarten mit dem größten Recht, bewegt und unterhalten zu werden, ein intensives Erlebnis zu haben."Film is - in one word - emotion", verkündet Samuel Fuller in Godards "Pierrot le fou" apodiktisch. Diese Emotionalität soll aber auf künstlerisch möglichst anspruchsvolle, ästhetisch gelungene Weise erreicht werden. Und gerade deshalb, weil Spielfilme emotional und intuitiv wirken, gehören sie zu den einflussreichsten Formen des Erzählens. Daraus erwächst den Filmemachern eine genuine kulturelle Verantwortung.
Das Kino trägt dazu bei, Identitäten zu konstituieren - auf individueller wie kollektiver Ebene. Es trägt dazu bei, uns zu dem zu machen, was wir sind, indem es Weltmodelle und Menschenbilder kommuniziert, aber auch spezifische Themen und Probleme anspricht, die unsere Gesellschaft beschäftigen. Filme prägen Wahrnehmungen und Gefühle, Werte und Meinungen, Wünsche und Ängste. Sie bieten Orientierungen an, modellieren Verhaltensweisen, stiften Sinn und entwickeln Zukunftsvisionen. Film-Erzählungen bilden also eine wesentliche gesellschaftliche Kraft, ziehen einen roten Faden durch das Gewebe der Kultur. Sie sind Mittel der Verständigung miteinander und übereinander, Mittel sozialer Integration und kollektiver Erinnerung. Erzählungen weben, wie Homi Bhabha sagt, das Netz der Geschichte.
Der Anspruch, mit einem Film "nur" zu unterhalten, ist deshalb zu bescheiden. Er verkennt, dass alle Unterhaltung etwas über die Welt aussagt und dadurch, in den Worten von Winfried Fluck, das "kulturelle Imaginäre" einer Gesellschaft beeinflusst. Gerade in unserer hochdifferenzierten Gesellschaft, in der viele Traditionen - zum Teil aus gutem Grund - fragwürdig geworden sind, in der sich alte Rollenmuster aufgelöst haben und ein Pluralismus der Lebenswelten entstanden ist, gewinnen Erzählungen als Mittel der Herstellung von Öffentlichkeit an Relevanz.
Ich drücke nur aus, was Sie aus der Praxis genau kennen, wenn ich sage, dass in dieser Verantwortung, in dieser Aufgabe auch eine große Chance liegt. Filme haben nicht nur die Macht, zumindest für kurze Zeit Träume zu erfüllen und Traumata zu bewältigen. Sie bieten die Chance, über die eigene Situation und die anderer zu reflektieren; die Perspektiven und Lebensweisen anderer Menschen zu imaginieren, ihre Ängste und Wünsche kennen zu lernen - und dadurch auch die eigenen besser zu verstehen.
Das Drehbuch legt das Fundament, auf dem jeder Film aufbaut, bildet den Kern, aus dem sich das Gesamtkunstwerk Film entwickelt. Themen, Stoffe, Geschichten werden durch das Drehbuch gesetzt. Das Bewusstsein für die Bedeutung des Drehbuchs ist innerhalb der letzten Jahre gewachsen, zumindest in der Fachöffentlichkeit. Ausbildungsgänge, Agenturen und Script-Consulting-Firmen wurden gegründet, zahlreiche Ratgeber veröffentlicht. Im Internet sind Foren des Austauschs entstanden. Die Zahl der eingereichten Bücher steigt.
Man kann vielleicht sogar davon sprechen, dass es eine Tendenz zu einer höheren Professionalität gibt. Nicht nur bei den Autoren selbst, sondern auch bei den Produzenten, mit denen sie zusammenarbeiten. Dabei heißt Professionalität hier nicht, sich an dramaturgische Regeln zu klammern, sondern sie bewusst und flexibel zu gebrauchen.
Handwerkliche Sorgfalt ist aber nur eine Grundvoraussetzung für ein gelungenes Drehbuch. Leidenschaft, Neugier, Originalität, Lust am Spiel und Mut zum Risiko müssen hinzukommen. Und die Bereitschaft, auch die notwendigen Quälereien des Schreibprozesses bis zum Ende durchzustehen, wie es Patrick Süskind für das Buch zu "Rossini" beschrieben hat. Das Spannendste an Ihrer Arbeit ist für mich, wie Sie es immer wieder aufs Neue schaffen, die Balance zwischen Fiktion und Realität herzustellen, wesentliche Themen aufzugreifen oder neu zu entdecken, ungewohnte und vernachlässigte Perspektiven einzunehmen.
Der deutsche Film braucht gerade im Drehbuchbereich ein klares eigenes Profil, muss den Heimvorteil kultureller Spezifik nutzen, um gegen die finanzstarke Konkurrenz aus den USA bestehen zu können: Das seismographische Gespür für eigene Atmosphären, Rhythmen und Töne, für Nuancen des Humors und der Komik. Die präzise Kenntnis spezifischer Milieus, Schauplätze, Figuren, Themen und Konflikte. Trouble is the engine of narrative ", der Motor jeder Erzählung ist ein Problem, sagt die Psychologin Katherine Nelson. Es gilt, zentrale Probleme unserer Kultur aufzugreifen und nicht nur den Motor der Erzählung in Gang zu setzen, sondern auch den des gesellschaftlichen Diskurses.
Ich weiß, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass viele von Ihnen anlässlich dieser Preisverleihung nicht nur hören wollen, welche Erwartungen der Beauftragte der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien an den deutschen Film im allgemeinen und an die Drehbuchautoren im besonderen hat. Sie möchten erfahren, was die Bundesregierung tun wird, um Ihre Rechte als Autoren und Produzenten weiter zu stärken. Ich will mich kurz fassen - den anwesenden Vertretern der Filmbranche ist das Thema hinlänglich bekannt. Die widerstreitenden Interessen der Autoren und Produzenten sind in der Vergangenheit - man kann schon sagen: dramatisch - aufeinander geprallt. Meine Aufgabe sehe ich darin, maßgeblich daran mitzuwirken, einen vernünftigen, fairen Interessenausgleich zwischen allen Beteiligten herbeizuführen. In diesem Sinne bin ich mit der Bundesjustizministerin verblieben. Und ich bin zuversichtlich, dass die Lösung sowohl die Autoren als auch die Produzenten zufrieden stellen wird.
Die Bundesregierung wird engagierte Filme und Drehbücher, die den Balanceakt zwischen Ökonomie, Unterhaltung, Kunst und Kultur wagen, durch ihre Förderung weiter intensiv unterstützen. Der Deutsche Drehbuchpreis soll ein Anreiz sein, sich der Herausforderung zu stellen. Er ist eine Anerkennung für diejenigen, die dies so erfolgreich gewagt haben wie unsere Preisträger.
Dass der Preis in diesem Jahr erstmals in doppelter Ausführung vergeben werden kann - was meinem Vorgänger Michael Naumann zu danken ist - , macht es leichter, dem Wunsch nach einer möglichst großen Vielfalt von Geschichten zu entsprechen.
Die Jury hat sich für zwei Drehbücher entschieden, die in ihrer Unterschiedlichkeit eine solche Vielfalt widerspiegeln und den Anforderungen an Unterhaltungswert und gesellschaftliche Relevanz in hohem Maß gerecht werden. Clemens Murath gelingt es mit seinem Thriller "Der Schatten des Jaguar", einen spannenden Plot und exotische Reize eins werden zu lassen mit dem Thema wirtschaftlicher Einflussnahme im Ausland und einem Plädoyer für verantwortliches Handeln. In der aktuellen Diskussion um die Vereinigung kultureller Spezifik mit einer weltoffenen Perspektive entstand der Begriff der "Glokalisierung". Clemens Murath scheint diese Debatte intensiv verfolgt zu haben, denn sein Buch beschreibt eine lokale Situation in Deutschland und verbindet sie mit der Sicht auf die globalen Auswirkungen, die sich aus dieser Situation ergeben.
Natja Brunckhorst erzählt die ungewöhnliche Geschichte einer Liebe über die Berliner Mauer hinweg, die Ost- und Westberlin und die Liebenden in den 80er Jahren trennt. Damit greift sie ein Thema auf, das bei deutschen Filmemachern und ihrem Publikum in der letzten Zeit verstärkt auf Interesse gestoßen ist, und leistet einen Beitrag zur Selbstverständigung über unsere jüngste Vergangenheit.
Ich gratuliere den Preisträgern sehr herzlich, wünsche ihnen eine kongeniale Verfilmung ihrer Drehbücher - in einem Fall ist dies ja bereits geschehen - und einen großen Erfolg ihrer Filme bei Publikum und Kritik.
Uns allen wünsche ich - nicht nur im Rahmen dieser Berlinale - viele spannende, unterhaltsame und engagierte Filme, die überraschen, bewegen und einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Und das nicht zuletzt durch die Geschichten, die ihre Drehbuchautoren erzählen.
Zunächst aber: Herzlichen Dank und einen anregenden Abend!