Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 09.02.2001

Untertitel: Ich habe mich wirklich über eure Einladung gefreut, weil ich zu jenen gehöre, die das, was sie politisch entscheiden, ganz gerne direkt erläutern und darstellen.
Anrede: Liebe Ute Vogt, lieber Peter, lieber Berthold, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/59/31359/multi.htm


Ich habe mich wirklich über eure Einladung gefreut, weil ich zu jenen gehöre, die das, was sie politisch entscheiden, ganz gerne direkt erläutern und darstellen, auch dann, wenn man nicht hundertprozentig übereinstimmt, vielleicht sogar gerade dann. Ich denke, dass wir von Berthold eine ebenso selbstbewusste wie faire Auseinandersetzung mit der Politik der Bundesregierung gehört haben. Dieses Selbstbewusstsein und die Fairness ist eine Mischung, lieber Berthold, die dich zum Glücksfall für die IG Metall macht. Das sage ich nicht, weil ich erwarten würde, dass in der Auseinandersetzung mit uns und mit dem, was wir politisch tun, deshalb Rücksicht genommen wird. Das kann die IG Metall gar nicht, das wissen wir. Was Berthold getan hat, war nicht kritisieren um der Kritik willen, sondern er hat auch anerkannt, was die Bundesregierung gut gemacht hat, was alles positiv ist.

Ich will das noch einmal unterstreichen: Wir regieren jetzt seit zweieinviertel Jahren. Man glaubt es kaum, aber länger ist es noch nicht her. Zweieinviertel Jahre sind eine relativ kurze Zeit, und in dieser Zeit haben wir wirklich eine Menge miteinander erreicht. Wir haben dabei begriffen, dass Politik nicht mit dem Wahltag zu Ende ist, sondern dass man kritische Solidarität auch in der Zeit zwischen den Wahlen braucht. Wir haben sie erfahren, wenn auch manchmal vielleicht ein bisschen zu viel Kritik und zu wenig Solidarität, aber das kann sich ja noch ändern.

Wir haben den Kündigungsschutz, den die Kohl-Regierung so sehr eingeschränkt hatte, insbesondere in kleinen und mittleren Betrieben, wiederhergestellt. Das war keine einfache Sache. Wir haben es gegen gesellschaftlichen Widerstand gemacht, der nicht unerheblich war. Wir haben etwas gemacht, was natürlich nicht in erster Linie die IG Metall in Baden-Württemberg interessiert hat, denn die hatte das längst tarifvertraglich vereinbart. Aber in manchem kleinen und mittleren Betrieb war das wichtig. Wir haben die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall voll wiederhergestellt. Das hattet ihr erkämpft und in Tarifverträgen abgesichert. Aber in vielen anderen Bereichen war das nicht so. Wir haben euch das vor der Wahl versprochen und haben das Versprechen gehalten.

Wir haben eine lange Debatte über die Frage hinter uns: Wie soll das eigentlich mit der Teilzeitarbeit gehen? Kommen wir da weiter? Es betrifft, ob man das will und gut findet oder nicht, vor allem Frauen. Eine uralte Forderung der Gewerkschaften war: Stellt es nicht in das Belieben des einen oder anderen, sondern gebt den Arbeitnehmern, soweit es die betrieblichen Möglichkeiten zulassen, auch einen Anspruch auf Teilzeitarbeit, damit wir da endlich einmal weiterkommen. Die Holländer haben uns das längst vorgemacht. Wir haben das jetzt miteinander beschlossen. Ich denke, das ist ein Fortschritt.

Berthold hat auf die Programme, die wir zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit gemacht haben, hingewiesen. Das sind Programme, die für uns wichtig waren und im Übrigen dazu geführt haben, leider zunächst nur im Westen unseres Landes, im Osten noch nicht, dass das Angebot an Ausbildungsplätzen heuer die Nachfrage übersteigt. Das ist etwas, wofür wir lange gekämpft haben. Wir haben das jetzt erreicht, natürlich in erster Linie durch die Ausbildungsbereitschaft in den Betrieben, auch gedrängt durch Betriebsräte, aber nicht zuletzt auch durch das, was wir politisch dafür getan haben.

Wir haben eine Steuerreform gemacht, die keineswegs nur den Großen unter den Unternehmen genutzt hat - ihnen auch, soweit sie um Wettbewerbsfähigkeit kämpfen. Wir haben sie aber vor allen Dingen für die aktiv Beschäftigten in den Betrieben gemacht. Wir haben zum Beispiel zum 1. Januar 2001 den Eingangssteuersatz von 25,9 auf 19,9 Prozent gesenkt. Das hat Folgen für die Progression. Wir haben bisher zweimal das Kindergeld erhöht. Ist das alles nichts? Das kann man doch nicht sagen.

Wir haben durch unsere Politik nicht nur die Steuern für die Beschäftigten gesenkt, und zwar deutlich, sondern wir haben auch die Abgaben gesenkt. Die Rentenbeiträge, die euch zur Hälfte vom Lohn abgezogen werden, haben wir um 1,2 Prozentpunkte senken können, zum ersten Mal seit sehr, sehr langer Zeit. Das bedeutet, dass dadurch von dem, was verdient wird, netto mehr in der Kasse ist. Es mag ja sein, dass alle Leute sagen, das reicht uns aber nicht - wann reicht es schon einmal? - , aber es sind wichtige Schritte, die wir gemacht haben. Das ist arbeitnehmerorientierte Steuer- und Kindergeldpolitik gewesen und nichts anderes. Wir werden auf diesem Wege auch weitergehen.

Ich denke, dass jeder einzelne der Punkte, die ich genannt habe, deutlich macht, dass in den zweieinviertel Jahren eine Menge bewegt worden ist, und zwar in eine Richtung, für die viele von euch mit uns zusammen aktiv eingetreten sind und aktiv gekämpft haben. Wir werden das nicht vergessen.

Wir haben aber nicht nur das zuwege gebracht, sondern wenn man sich einmal anschaut, was wir etwa auf dem Gebiet der Bildungspolitik getan haben, dann kann sich auch das sehen lassen. Berthold hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass von Sozialdemokraten eines verlangt werden kann, ja eines verlangt werden muss: dass sie in der Bildungspolitik den Aspekt der Gerechtigkeit ganz oben ansetzen. Gerechtigkeit heißt hier, dass es in diesem Land nicht so sein darf, dass die Frage, ob jemand zu Deutschlands höheren oder hohen Schulen gehen kann, gehen darf, von Mamas und Papas Geldbeutel abhängt.

Wenn ich eine Bemerkung dazu machen darf, was in den zweieinviertel Jahren geschehen ist - das hat etwas mit den materiellen Möglichkeiten von Kindern aus Arbeiterfamilien zu tun, zu Deutschlands hohen und höchsten Schulen zu gehen - , dann muss ich darauf hinweisen, dass wir 1,2 Milliarden DM ausgegeben haben, um das Bafög so zu erhöhen, damit endlich wieder mehr Kinder aus Arbeitnehmerfamilien das in Anspruch nehmen und auf diese Weise ihre Bildungschancen nutzen können. Das ist alles kein Pappenstil. Das ist gelaufen, und zwar von uns politisch veranlasst. Ich denke, das kann sich sehen lassen. Übrigens: Den Gerechtigkeitsaspekt in der Bildungspolitik zu betonen, ist richtig. Dafür haben wir immer gekämpft. Ich weiß ein bisschen aus eigener, sehr persönlicher Erfahrung, wovon dabei die Rede ist. Es gibt aber auch noch einen anderen Aspekt, nämlich den der wirtschaftlichen Notwendigkeiten.

Wenn es wahr ist - und es ist wahr - , dass noch mehr als gegenwärtig und erst recht mehr als je in der Vergangenheit in Zukunft die Produkte, die wir herstellen, die wir auf den internationalen Märkten verkaufen wollen und müssen, Produkte sind und sein werden, die auf Wissen basieren, dann vertreten wir Sozialdemokraten in der Bildungspolitik neben dem Gerechtigkeitsargument ein zweites, nämlich das der ganz schnöden wirtschaftlichen Vernunft und Nutzbarkeit. Dieses Volk kann es sich buchstäblich nicht mehr leisten, auch nur eine einzige Begabungsreserve nicht auszunutzen. Hier, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist übrigens der Grund zu finden, warum wir im Bereich von Bildung, Wissenschaft und Forschung den Haushalt teilweise zweistellig gesteigert haben, obwohl wir in allen anderen Bereichen gespart haben, weil wir sparen mussten.

Denn die Kehrseite der Politik, die wir im Bereich von arbeitnehmerorientierter Steuerpolitik, wenn ihr so wollt: von nachfrageorientierter Steuerpolitik gemacht haben, ist, die Schulden des Staates zu drücken. 1,5 Billionen DM Schulden hat uns Kohl nach 16 Jahren hinterlassen. Wir zahlen dafür jährlich 82 Milliarden DM allein an Zinsen, übrigens nicht an euch, sondern an das, was man vornehm Kapitalsammelstellen nennt. Man kann auch "Banken und Versicherungen" sagen.

Anders ausgedrückt: Wir hatten uns angewöhnt, das zu verfrühstücken, wovon unsere Kinder und Enkelkinder leben sollen. Das ist nicht fair. Nachhaltigkeit in der Politik betrifft nicht nur ökologische, sondern auch finanzpolitische Fragen. Wir haben bei strikter Sparsamkeit dafür gesorgt, dass im Bereich von Bildung, Wissenschaft und Forschung nicht weniger, sondern deutlich mehr investiert wird. Ich kann nur alle auffordern, im Land, in den Kommunen, da mitzumachen, denn über unsere Zukunftsfähigkeit wird in der Tat auf diesem Feld entschieden, auch über unsere Konkurrenzfähigkeit gegenüber anderen, die in der Welt auf den Märkten, die wir für unsere Produkte brauchen, auch etwas zu sagen haben wollen.

Wenn man also nach zweieinviertel Jahren eine Bilanz zieht - mehr sind es wirklich noch nicht gewesen; ich räume ein, dass das erste Jahr, ich bin fast versucht zu sagen: noch besser hätte laufen können, aber das wäre schon übertrieben - wenn man also eine faire Bilanz zieht, dann kann man sagen: Da ist vieles in die richtige Richtung bewegt worden.

Wir haben seinerzeit mit Euer aller Zustimmung gesagt: Die Massenarbeitslosigkeit muss abgebaut, die Zahl der Arbeitsplätze muss erhöht werden. Das war ja wohl insbesondere die Erwartung der Gewerkschaften, der IG Metall vorneweg. Ich habe seinerzeit gesagt: Eine neue Regierung wird nach vier Jahren nur dann als erfolgreich gelten können, wenn es ihr wirklich gelingt, die Zahl der Arbeitslosen deutlich zu reduzieren.

Wie ist nach zweieinviertel Jahren also die Lage auf diesem Sektor? Das muss man sich einmal ganz nüchtern anschauen. 1997/98, also im letzten Jahr der Kohl-Regierung, hatten wir im Jahresdurchschnitt über 4,5 Millionen, zum Teil mehr als 4,8 Millionen Arbeitslose. Im Jahr 2000 dagegen hatten wir im Jahresdurchschnitt 3,8 Millionen Arbeitslose. Das ist eine Million arbeitsloser Menschen in Deutschland weniger. Ich weiß, dass das noch nicht reicht. Aber wir werden es schaffen, in dieser einen Legislaturperiode - die anderen sollen sich nichts vormachen: es werden weitere folgen - die Zahl der Arbeitslosen unter 3,5 Millionen zu drücken. Auch das ist nur eine Etappe hin zu dem Ziel, Arbeitslosigkeit in Deutschland, und zwar in ganz Deutschland, immer weiter herunterzubringen, aber eine wichtige Etappe.

Ich habe die Häme meiner politischen Gegner noch im Ohr, die mir einen schweren Fehler unterstellten, als ich gesagt habe: An der Arbeitslosigkeit und deren Reduzierung will ich gemessen werden. Ich will das wirklich, und ich bin ziemlich sicher: Wenn im nächsten Jahr abgerechnet wird, werden die Reduzierungen der Arbeitslosigkeit im Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger deutlich ins Gewicht fallen. Und noch etwas wird ins Gewicht fallen: In den zweieinviertel Jahren, die wir regieren, ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, nicht etwa der Jobs, die so nebenbei gemacht werden, um rund eine Million gestiegen. Wir rechnen damit, dass sie auch in diesem Jahr in etwa in der Größenordnung vom letzten Jahr, also um rund eine halbe Million, steigen wird.

Wir haben also einen Rahmen gesetzt, der sich nun wirklich sehen lassen kann, und einen Weg zurückgelegt, den es lohnt weiterzugehen. Aber das war ja nicht alles, was wir bewerkstelligt haben. Wir haben nicht nur die harten Fakten des finanz- und wirtschaftspolitischen Lebens in unserer Republik zum Positiven verändert. Wir haben auch ein paar Dinge auf den Weg gebracht, die nicht einfach weggelassen werden dürfen, auch und gerade in Konferenzen der IG Metall nicht. Wir haben unter großen Mühen ein Jahrhunderte altes, nicht mehr europataugliches Staatsbürgerschaftsrecht verändert - eine Forderung, die auch immer von den Gewerkschaften gekommen ist. Diejenigen, die aus dem Ausland kamen, deren Kinder hier geboren sind, können tatsächlich leichter Deutsche werden, als das vorher der Fall war.

Wir haben aber auch in den Bereichen, auf die ihr besonders angewiesen seid, wichtige Veränderungen erreicht oder wichtige Veränderungen vor. Berthold hat die Rentenfrage erwähnt. Ich will diesem Thema überhaupt nicht ausweichen. Es gibt da harte Auseinandersetzungen, auch zwischen uns und der IG Metall und den Gewerkschaften. Harte, bestimmte Auseinandersetzungen um unterschiedliche Positionen. Aber ich denke, was wir im Ergebnis dann miteinander hinbekommen haben, das ist ein Stück mehr Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Warum? Über Demographie hat Berthold Huber geredet."Demographie" ist das schöne Fremdwort dafür, dass die Menschen in unserem Land älter werden, als sie jemals in der Geschichte zuvor geworden sind und der Anteil der älteren Menschen insgesamt zunimmt. Wenn aber eine Gesellschaft immer älter wird, dann führt dies ganz konsequent dazu, dass die Rentenbezugsdauer länger wird, und wenn sie länger wird, weil die Menschen älter werden, kommt das Finanzierungssystem unter Druck.

Wir haben ein zweites Problem, das noch nicht erwähnt wurde: Wir stellen unser Bruttoinlandsprodukt, die Summe der Güter und Dienstleistungen also, mit immer weniger Vollerwerbsarbeitsverhältnissen her. Das heißt, wenn die Renten vor allen Dingen an Vollerwerbsverhältnisse geknüpft sind, aber ein wachsendes Inlandsprodukt mit weniger Vollerwerbsarbeitsverhältnissen hergestellt wird, dann kommt das Finanzierungssystem auch von dort unter Druck.

Wir wollten zum Dritten auch im Interesse der aktiv Beschäftigten sicherstellen, dass die Beiträge nicht ständig steigen, denn zur Hälfte werden sie ja von euch und euren Kolleginnen und Kollegen bezahlt. Also auch das war kein Ausweg. Deswegen haben wir gesagt: Das bewährte System der umlagefinanzierten Rente wird nicht abgeschafft, wie uns unterstellt worden ist. Es wird ergänzt, und zwar durch das Prinzip, das man Kapitaldeckung nennt. Kapitaldeckung heißt, dass wir, der Staat - wir haben das zu machen, und Hans Eichel hat es zu finanzieren - in den nächsten acht Jahren 20 Milliarden DM bereitstellen werden, um jenen, die ihr in den Betrieben vertretet, den Aufbau von Kapitaldeckung materiell zu ermöglichen. Wir wissen natürlich, dass es viele Menschen gibt, die aus dem, was sie verdienen, nicht noch private Vorsorge aufbauen können. Deswegen wollen wir sie stützen und ihnen helfen. Ich bin sehr gespannt, ob in diesem Februar die amtierende Landesregierung in diesem Land hergeht und sagt: Den Menschen wollen wir die 20 Milliarden DM zum Aufbau privater Kapitaldeckung vorenthalten. Wir stimmen im Bundesrat dagegen.

Ich bin sehr gespannt, was Herr Teufel da tun wird. Ich kann ihm nur raten: Verwehren Sie den Menschen, auch in Ihrem eigenen Land, die Möglichkeit nicht, an dem, was der Bund an unglaublichen Finanzmitteln zur Verfügung stellt, teilzuhaben. Es wäre falsch, wenn Baden-Württemberg außen vor wäre. Das würde Ute Vogt nie tun.

Ich wollte mit diesem Hinweis deutlich machen, was wir getan haben, um ein einfaches Prinzip durchzusetzen. Ich unterstreiche doppelt, was Peter und Berthold gesagt haben: Die Menschen haben nach einem erfüllten Arbeitsleben ein Recht darauf, einen Lebensabend in hinreichender Sicherheit verbringen zu können. Das ist der eine Teil, weshalb wir diese Reform gemacht haben: Hinreichende Sicherheit für die Älteren.

Aber es gibt noch ein anderes Prinzip: Für die aufgrund der Demographie weniger werdenden Aktiven muss die Rente für die Älteren bezahlbar bleiben. Denn wenn das nicht der Fall ist, können wir uns so viel anstrengen, wie wir wollen: Sie werden uns in Scharen aus den Systemen davonlaufen. Das müssen wir auch verhindern. Deswegen galt das Prinzip, eine Reform auf den Weg zu bringen, bei der klar war und klar werden konnte: Es gilt, für die Alten hinreichende Sicherheit und für die Jungen Bezahlbarkeit durchzusetzen. Ich bin davon überzeugt, dass bei allem, was man in den Details kritisieren kann, wir das nur und wirklich nur mit diesem Reformschritt haben tun können. Übrigens auch nur auf diese Punkte bezog sich jenes berühmte "Basta!" und auf nichts anderes. Über Details war immer zu reden. Aber wir hätten unsere Verantwortung nicht wahrgenommen - und die müssen wir wahrnehmen - , wenn wir es zugelassen hätten, dass diese ergänzende zweite Säule, die künftig mit der anderen, der Beitragsfinanzierung, zusammen das System tragen soll, nicht aufgebaut wird.

Es gibt manchmal in der Politik Chancen, die sich nur einmal bieten, und die man deshalb schnell ergreifen muss. Dies war so eine Chance. Das hat Kraft, Auseinandersetzungen und Streit gekostet, auch mit jenen, mit denen man ungern Streit hat, nämlich mit euch und eurer Gewerkschaft, aber ich glaube, im Ergebnis muss man sagen: Es ist ein richtiger Schritt gewesen. Er wird helfen, diese beiden Ziele, hinreichende Sicherheit für die Älteren und Bezahlbarkeit für die Jüngeren, auch zu erreichen.

Lasst mich noch etwas zu den sehr, sehr aktuellen Fragen sagen, die hier auch angesprochen worden sind. Warum haben wir ein Teilzeitgesetz gemacht? Das muss ich nicht lange erklären. Zu uns sind Vertreter aus den Betrieben gekommen und haben gesagt: Mit dem Prinzip der Freiwilligkeit allein kommen wir auf Dauer nicht zurecht. Wir erkennen an, dass es betriebliche Gründe geben kann, die Teilzeitbeschäftigung nicht erlauben. Mit so etwas hat ein Betriebsrat noch nie ein Problem gehabt. Aber wir wollen, wenn es dem Unternehmen möglich ist, dass derjenige, der Teilzeit arbeiten möchte, nicht bitten und betteln muss, sondern selbstbewusst sagen kann: Ich würde gerne Teilzeit arbeiten. Geht das im Betrieb, oder geht es nicht? Wenn es geht, soll es auch gemacht werden.

Das liegt im Übrigen wie so vieles, das sozialpolitisch erkämpft worden ist, im richtig verstandenen und damit auch wirtschaftlichen Interesse der meisten Betriebe. Wo es nicht im wirtschaftlichen Interesse liegt, ist Vorsorge dafür getroffen, dass man auch Nein sagen darf. Es ist also ein ausgewogenes System zwischen den Interessen der Beschäftigten auf der einen Seite und den Interessen der Unternehmen und ihrer Leitungen auf der anderen Seite. Das Gleiche haben wir in der Frage der befristeten Beschäftigung gemacht. Wir haben uns mit dem Problem der Kettenarbeitsverträge auseinander zu setzen gehabt. Früher war das so: Man vereinbarte viermal sechs Monate eine befristete Beschäftigung, ohne dass man einen sachlichen Grund angeben musste, machte dann eine befristete Beschäftigung mit sachlichem Grund, also eine Krankheits- oder Schwangerschaftsvertretung, und das Spielchen mit den viermal sechs Monaten Beschäftigung ging anschließend wieder los. Diese Form der Kettenarbeitsverträge haben wir unter dem Protest derer, die das missbräuchlich genutzt haben - so war es nämlich eigentlich nie gemeint - , abgeschafft.

Damit bin ich beim letzten Thema, das uns aufgegeben war: Neben der Frage einer vernünftigen Regelung der Befristung von Arbeitsverhältnissen und der Teilzeitarbeit war uns aus dem Koalitionsvertrag, aber auch aus unseren gemeinsamen Diskussionen heraus aufgegeben, eine zeitgemäße Reform des Betriebsverfassungsgesetzes durchzuführen. Das hatten wir angekündigt, und so steht es im Koalitionsvertrag. Aber nicht nur, weil wir es angekündigt haben und es im Koalitionsvertrag steht, sondern weil es richtig ist, das seit 1972 geltende Betriebsverfassungsgesetz zu modernisieren, werden wir es tun.

Jetzt will ich zunächst zu Berthold und Peter sagen: Ich war sehr froh darüber, dass ihr diese unselige Personalisierung in der Auseinandersetzung hier nicht mitgemacht habt. Man muss nicht Auseinandersetzungen nach dem Muster führen: Willst du nicht mein Bruder sein, schlag ich dir den Schädel ein. Das ist blödsinnig, finde ich jedenfalls. Ihr habt vielmehr Argumente vorgetragen, und mit diesen Argumenten wird man sich auseinander setzen müssen. Aber ich möchte gerne, dass Folgendes deutlich wird: Im Unterschied zu jenen, die mich von der Arbeitgeberseite her kritisieren oder auffordern, von den Bemühungen der Modernisierung des Betriebsverfassungsgesetzes Abstand zu nehmen, bin ich nicht nur vom programmatischen und moralischen, sondern auch vom ökonomischen Wert der Mitbestimmung überzeugt.

All diejenigen - das will ich wirklich sagen, und ich hoffe, es wird transportiert - , die meinen, die Mitbestimmung im Betrieb und die überbetriebliche Mitbestimmung seien im Grunde Relikte aus einer Zeit der zweiten industriellen Revolution, irren sich. All diejenigen, die meinen, Mitbestimmung habe für uns nur etwas mit aufrechtem Gang der Beschäftigten in den Betrieben zu tun - das hat es allemal auch - und nichts mit Ökonomie, irren ebenfalls.

Ich war acht Jahre lang Ministerpräsident, also acht Jahre das, was Ute werden wird. Ich habe mich in dieser Zeit viel damit beschäftigen müssen, wie man Betriebe saniert, weil wir Strukturprobleme in Niedersachsen hatten, mehr, als ihr sie in Baden-Württemberg habt. Ich habe dabei immer wieder erfahren, dass es häufig die Beschäftigten oder deren Betriebsräte gewesen sind, die entscheidende Beiträge zur Sanierung von Betrieben in der Krise geleistet haben. Wenn also Arbeitgeberfunktionäre - es sind ja nicht die Unternehmensleitungen; sie kommen mit ihren Betriebsräten gut aus, und das werden sie auch in Zukunft tun - behaupten, betriebliche Mitbestimmung sei gleichsam nur etwas, um Gewerkschaften zu befriedigen, und nur deshalb würden wir das Betriebsverfassungsgesetz modernisieren, dann irren sie gründlich. Betriebliche Mitbestimmung ist ein Standortvorteil und wird mehr und mehr einer sein. Das muss man einmal jenen ins Stammbuch schreiben, die von sich selber behaupten, sie verstünden etwas von Ökonomie.

Warum sage ich das so grundsätzlich und so dezidiert? Ich sage das deshalb, weil sich das in Vergangenheit und Gegenwart erwiesen hat, weil zum Beispiel die ungeheuren Produktivitätsfortschritte, die deutsche Unternehmen und damit unser Land auch im Vergleich zu anderen gemacht haben, nur durch das vertrauensvolle Zusammenwirken von Betriebsräten auf der einen und Unternehmensleitungen auf der anderen Seite erklärbar sind. Das gilt auch für die gewaltigen Leistungen bei der Umstrukturierung, die hinter uns liegen.

Ich habe es ja gelegentlich mit den Autos, wie man weiß. Übrigens: Ich habe, der Bitte von Jürgen Schrempp folgend, inzwischen auch einen Daimler im Fuhrpark. Einen Porsche kann ich leider nicht anschaffen lassen. Das würde man mir übel nehmen. Einen BMW nehme ich erst dann, wenn sie im Osten investieren. Zur Automobilindustrie: Wie war das in der Krise, vor allen Dingen im Jahr 1992/93, bis hinein ins Jahr 1994? Wie ist es denn geschafft worden, in sehr viel schnellerer Zeit die deutsche Automobilindustrie zu rekonstruieren als in Amerika? Dort hat es zehn Jahre gedauert, und inzwischen geht es schon wieder nicht so gut. Wie schnell ist das bei uns geschafft worden? Binnen drei Jahren war man über die Krise hinweg. Ich habe damals im Aufsichtsrat eines mittelständischen Automobilunternehmens in Wolfsburg gesessen, und ich weiß ganz genau, wie die betrieblichen Vertreter im Aufsichtsrat mitgezogen und gedrängt haben, die notwendigen Umstrukturierungsmaßnahmen zu machen, um konkurrenzfähig zu bleiben, wie sie das, was wir alle zusammen beschlossen - ich war damals auf der Kapitalseite tätig - über die Betriebsräte und Vertrauensleute in die Betriebe vermittelt haben. Sonst wäre das nämlich nicht so rasch und reibungslos gelaufen. Das sind Vorteile, und das müssen auch uneinsichtige Verbandsfunktionäre einmal begreifen.

Das ist der Grund, warum wir dieses Betriebsverfassungsgesetz von 1972, das Berthold damals irrtümlicherweise kritisiert hat, behutsam fortentwickeln werden. Wir brauchen angesichts veränderter Arbeitsbedingungen und veränderter Bedingungen, was die Struktur der Wirtschaft angeht, was die Globalisierungsfragen angeht, eine Modernisierung dieses Gesetzes, gar keine Frage. Es muss keiner Angst haben; ich werde hier jetzt nicht die Einzelheiten auspacken. Aber eines will ich sagen: Ich werde dafür sorgen, dass am nächsten Mittwoch ein Gesetzentwurf auf den Weg geht und damit sichergestellt ist, dass die nächste Betriebsratswahl, nämlich wahrscheinlich die im März 2002, auf der Basis des modernisierten Gesetzes stattfindet. Das will ich erreichen.

Also heißt das: Das muss, dem Zeitplan entsprechend, am nächsten Mittwoch im Kabinett beschlossen werden. Wie ich meine Pappenheimer kenne, werden wir uns sicher vorher einigen. Vielleicht muss ich an der einen oder anderen Stelle noch hilfreich sein; das will ich auch gerne werden. Aber ich denke, dass wir einen sehr vernünftigen Entwurf auf den Weg bringen, der genau diese Balance leistet, nämlich zwischen der notwendigen Teilhabe der Beschäftigten und ihrer Betriebsräte auf der einen Seite und den Notwendigkeiten, zu schnellen Entscheidungen, insbesondere Investitionsentscheidungen, auf der anderen Seite zu kommen. All diejenigen, die da hinten mit den Fernsehkameras stehen und mit den Blöcken sitzen und meinen, ich würde jetzt über den einen oder anderen Minister ein paar Bemerkungen machen, haben sich geirrt. Ich liebe sie beide.

Natürlich werden wir das eine oder andere Detail noch zu diskutieren haben. Dazu besteht ja auch Gelegenheit. Es gibt ein Gesetzgebungsverfahren und Anhörungen, wie sich das gehört. Aber über eines muss man sich im Klaren sein: Wenn wir uns einmal festgelegt haben, dann gilt das in aller Regel, und dann haben wir es nicht so gerne, wenn, was die IG Metall gelegentlich gerne tut, die Außenbahn benutzt wird. Wenn man darauf verzichten könnte, wäre das sehr hilfreich.

Ich möchte, lieber Berthold, im Zusammenhang mit der Mitbestimmung hier noch ausdrücklich auf etwas hinweisen. Das habt ihr wahrscheinlich gar nicht wahrgenommen, aber beim Europäischen Rat in Nizza ist gerade in punkto Mitbestimmung Erhebliches passiert. Da war es nämlich so, dass uns eine vorgefertigte Entscheidungsgrundlage von der Kommission in Brüssel und von der Ratspräsidentschaft vorgelegt wurde. Da stand drin, dass in Zukunft in Europa über Fragen der Mitbestimmung, auch der deutschen, mit Mehrheit entschieden wird. Dazu muss man wissen, dass die spezifische Form der deutschen Mitbestimmung nur in Deutschland üblich ist, nirgendwo sonst. Alle anderen haben andere Systeme, kennen die überbetriebliche Mitbestimmung, also die Vertretung der Beschäftigten über ihre Gewerkschaften im Aufsichtsrat, überhaupt nicht.

Die Wahrscheinlichkeit, dass man das beim nächsten Mal wegen der Harmonisierung der Rechtsregeln in Europa beseitigt hätte, war nicht ganz von der Hand zu weisen. Der deutsche Bundeskanzler, und zwar dieser hier, hat das verhindert. Die IG Metall hat das weder gewürdigt noch gelobt.

Ihr glaubt es nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen: Nicht einmal, als ich in dieser Woche krank zu Hause lag, hat mir die IG-Metall-Führung in Frankfurt einen Blumenstrauß geschickt. Das habe ich ernsthaft auch gar nicht erwartet. Aber ich möchte, dass nicht in Vergessenheit gerät, dass die überbetriebliche Mitbestimmung allein aufgrund unserer Intervention in der Einstimmigkeit gehalten worden ist. Dass einem nicht gedankt worden ist, dass das auch für den großen Befähigungsnachweis, also für den Meister-Brief, gelungen ist, habe ich erwartet, denn das betrifft ja die anderen. Aber die Sache mit der Mitbestimmung wollte ich hier noch einmal ins Gedächtnis rufen, vor allen Dingen für spätere Reden bei Funktionärsveranstaltungen. Darüber kann man ja nachdenken.

Ich hoffe, damit ist deutlich geworden, dass und warum ich sehr persönlich für die betriebliche wie die überbetriebliche Mitbestimmung bin. Über die Ausgestaltung im Einzelnen werden wir miteinander zu reden, vielleicht auch zu streiten haben.

Aber ich möchte gerade auf einer Funktionärskonferenz der IG Metall klarmachen, dass für mich das Prinzip eben nicht infrage steht und auch nicht infrage gestellt wird, und zwar aus sehr grundsätzlichen, aber auch aus sehr ökonomischen Erwägungen. All diejenigen, die wissen müssten - nicht die Verbandsvertreter, aber die Unternehmensleitungen schon - , dass man in Zukunft die Kreativität, die Verantwortungsbereitschaft, das Wissen jedes einzelnen Mitarbeiters, jeder einzelnen Mitarbeiterin braucht, wenn man erfolgreich sein will, müssten zugleich wissen, dass man vollen Einsatz von Beschäftigten nicht bekommt, wenn man glaubt, man könnte einfach über sie verfügen. Man bekommt vollen Einsatz der Beschäftigten dann und nur dann, wenn man sie am Haben, an den Erfolgen des Betriebes, aber auch am Sagen im Betrieb fair beteiligt. Darum geht es. Das ist der ökonomische Aspekt, der gesehen werden muss.

Zum Abschluss will ich eines auch von mir aus ausdrücklich unterstreichen: So wenig die IG Metall je eine Organisation werden darf - sie wird es auch nie sein, selbst wenn das jemand wollte - , die sich gleichsam als Claqueur einer Regierung betrachtet, auch einer sozialdemokratisch geführten nicht, so sehr ist eine Regierung, auch eine SPD-geführte, nicht einfach der verlängerte Arm der deutschen Gewerkschaften. Ich weiß sehr wohl, dass viele, von denen ich gelegentlich gelobt werde, mich nicht wählen und viele, von denen ich gelegentlich kritisiert werde, das sehr wohl tun. Das ist gar keine Frage. Aber eines muss auch klar sein - das ist vielleicht eine Erfahrung, aus der man gerade hier lernen kann und die Ute, wie ich ganz sicher bin, zu einem guten Teil schon dieses Mal mit Erfolg aufarbeiten wird: Allein der harte Kern reicht auch nicht.

Wenn man Mehrheiten gewinnen und behalten will und wenigstens Teile dessen, was ihr einfordert, durchsetzen will, muss die SPD und die von ihr geführte Regierung allemal die Regierung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sein, aber sie muss außerdem klarmachen, dass sie auch die politisch gewählte Vertretung vernünftiger Unternehmer, vernünftiger Selbständiger sein will und sein muss. Sie muss klarmachen, dass sie es ist, die zwischen den unterschiedlichen Interessen - da gibt es wichtige und vielleicht weniger wichtige, einem näher stehende und weiter entfernte, das ist keine Frage - in einem Staat ausgleichen muss. Dass dabei, solange wir das machen, die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wahrlich nicht zu kurz kommen, haben wir in den letzten zweieinviertel Jahren bewiesen, und mit eurer Unterstützung wollen wir das weiter tun.