Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 13.02.2001

Untertitel: "Produktivität und Teilhabe - diese beiden Kernbegriffe einer modernen Sozialen Marktwirtschaft haben Sie, Herr Stihl, in Ihrem Unternehmen in einer durchaus zukunftweisenden und beispielhaften Weise zusammengeführt."
Anrede: sehr geehrter Herr Stihl, sehr geehrter Herr Braun, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/97/31397/multi.htm


Verehrte Frau Stihl, verehrte Frau Braun,

ich bitte zunächst um Nachsicht dafür, dass ich an den anschließenden Feierlichkeiten nicht teilnehmen kann. Sie können feiern; ich muss arbeiten - Sie wissen, warum. Ich muss daher unmittelbar im Anschluss an das, was ich hier zu sagen habe, gehen. Ich bitte wirklich, das nicht als Ausdruck mangelnden Respekts zu verstehen, sondern mit Verständnis hinzunehmen.

Der heutige Wechsel im Amt des Präsidenten markiert einen wichtigen Abschnitt in der Geschichte des Deutschen Industrie- und Handelstages - einen wichtigen Abschnitt deshalb, weil Sie, Herr Stihl, seit 13 Jahren die Spitzenorganisation der 82 Industrie- und Handelskammern mit immerhin drei Millionen Mitgliedern führen. Ich glaube, man kann sagen: Gleichgültig, wie viel Ärger wir auch miteinander hatten, das ebenso verbindliche wie entschiedene Eintreten - und "entschieden" muss man wirklich betonen - für wirtschaftliche Freiheit, offene Märkte und internationale Wettbewerbsfähigkeit hat die langjährige Präsidentschaft von Herrn Stihl geprägt - und das wird bleiben. Dessen bin ich ganz sicher.

Die Glaubwürdigkeit, die Sie sich dabei erworben haben, wurzelt nicht zuletzt in Ihrer eigenen unternehmerischen Tätigkeit und in den Erfolgen, die Sie darin gehabt haben und haben. Offenbar schwäbischer Geschäftssinn und gleichzeitig ein Gespür für globale Entwicklungen: mit diesen Eigenschaften, Herr Stihl, haben Sie das von Ihnen in zweiter Generation geführte Familienunternehmen zum Weltmarktführer in Ihrer Branche aufgebaut.

Zugleich haben Sie - ich bin davon überzeugt, dass dies durchaus etwas mit dem Erfolg Ihres Unternehmens zu tun hat - durch ein umfassendes System von Teilhabe und Beteiligungen, von außertariflichen Zusatzleistungen und Beschäftigungssicherungsverträgen die Identifizierung der Mitarbeiter mit dem Erfolg Ihres Unternehmens immer wieder deutlich gemacht. Sie sind also gleichsam ein Sinnbild dafür, wie sinnvoll und vernünftig es ist, die Beschäftigten am Haben und Sagen in der Wirtschaft zu beteiligen. Dafür kann man Ihnen nur dankbar sein.

Produktivität und Teilhabe - diese beiden Kernbegriffe einer modernen Sozialen Marktwirtschaft haben Sie, Herr Stihl, in Ihrem Unternehmen in einer durchaus zukunftsweisenden und beispielhaften Art zusammengeführt. Ich bin sicher, dass dieses Denken und Handeln - aufbauend auf den Erfahrungen im eigenen Unterneh-men - Ihre Arbeit als Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages immer wieder geprägt hat. Ich möchte das, um es auch einer interessierten Öffentlichkeit deutlich zu machen, an wenigen Beispielen benennen:

Das Netz der Auslandshandelskammern ist in Ihrer Amtszeit besonders intensiv geknüpft worden. Es bietet gerade auch mittelständischen Unternehmen beste Hilfe und Unterstützung, um die Chancen der Globalisierung für sich zu nutzen. Mit besonderem Engagement haben Sie sich nach der Herstellung der staatlichen Einheit für die rasche Wiederbegründung der Industrie- und Handelskammern in den neuen Ländern eingesetzt - und das wirklich mit großem Erfolg. Dem Heranwachsen neuer mittelständischer Strukturen im Osten des Landes hat dies ganz, ganz wichtige Impulse gegeben.

Mit großem Nachdruck haben Sie gerade auch in der mittelständischen Wirtschaft für die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft zur Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter geworben. Dafür bin nicht nur ich, sondern dafür sind Ihnen viele dankbar. Viele werden Ihnen noch dankbarer sein, wenn sie erst erkennen, was das für den internationalen Ruf der deutschen Wirtschaft wirklich bedeutet hat.

Erst vor wenigen Tagen haben Sie Ihre Unzufriedenheit über die immer noch unzureichende Beteiligung klar und deutlich zum Ausdruck gebracht. Ich sage das hier einmal ohne Netz und doppelten Boden: Ich gehe wirklich davon aus, dass wir es in einem sehr kurzen und überschaubaren Zeitraum schaffen werden, die Lücke, die es immer noch gibt, zu schließen. Wir kriegen das miteinander hin. Die Signale, die ich dazu aus der deutschen Wirtschaft bekomme, sind ermutigend. Wir werden miteinander daran arbeiten, dass das Vorhaben, das uns gemeinsam verbindet, gelingt.

Gemeinsam mit Ihnen wünsche ich mir einen möglichst raschen Abschluss und Erfolg bei diesem Thema - im Interesse des Ansehens unseres Landes, aber auch im Interesse der angestrebten Rechtssicherheit für die deutschen Unternehmen auf den internationalen und besonders natürlich auf den amerikanischen Märkten. Dabei geht es aber - darin sind wir uns einig - nicht nur um das Interesse unseres Landes, um das Interesse von Unternehmen, sondern es geht vor allem auch um unsere Selbstachtung, und das ist, wie ich denke, noch wichtiger.

Sehr geehrter Herr Stihl, für Ihre Arbeit und für viele anregende und - lassen Sie mich das durchaus so sagen - auch harte und entschiedene Gespräche, die ich mit Ihnen führen konnte und die wir miteinander geführt haben, danke ich Ihnen wirklich - und ich meine es so, wie ich es sage. Für Ihre zukünftige Arbeit, die Sie mit Vorrang wieder in Ihr Unternehmen investieren wollen, wünsche ich Ihnen allen erdenklichen Erfolg.

Gleichzeitig freue ich mich, Ihnen, Herr Braun, zur Übernahme des Amtes des DIHT-Präsidenten gratulieren zu können. Dass Sie für Ihr neues Amt ausgezeichnete Voraussetzungen mitbringen, zeigt nun wirklich Ihr ganz persönlicher Erfolg an der Spitze Ihres weltweit erfolgreichen Unternehmens, das im Bereich der Medizintechnik und der Pharmazeutik tätig ist.

Ich würde mir wünschen - ich denke, das bekommen wir auch miteinander hin - , dass der unverzichtbare Dialog zwischen Wirtschaft und Politik, zwischen Bundesregierung und DIHT unter Ihrer Präsidentschaft so fortgesetzt wird, wie es mit Herrn Stihl und mit denjenigen, die ihm zugearbeitet haben, immer möglich war. Ich denke, das muss so sein, ungeachtet mancher Meinungsverschiedenheit, die es in der Vergangenheit gegeben hat, die es ganz sicher auch in der Gegenwart gibt und die wir - wie ich vermute - auch in der Zukunft miteinander werden austragen müssen und austragen können.

Bei aller Unterschiedlichkeit in den Meinungen finde ich, dass die Fähigkeit zum Konsens und zum Ausgleich, die wir in einer so komplexen Gesellschaft wie der unsrigen immer brauchen und die wir vor allen Dingen für die Modernisierung unserer Gesellschaft brauchen, unabdingbar ist. Ich bin ganz sicher, dass das auch unsere Gespräche - sowohl bilateral als auch um Bündnis für Arbeit - bewegen wird.

Übrigens: Mit dem Bündnis für Arbeit haben wir einen Rahmen geschaffen, der doch schon zukunftsweisende Weichenstellungen ermöglicht hat, auch wenn sie gelegentlich von der einen oder anderen Seite - manchmal auch zu Unrecht, wie ich finde - kritisiert werden. Ich meine zum Beispiel Weichenstellungen für eine vernünftige, weil längerfristig orientierte Tarifpolitik, vor allen Dingen auch im Interesse von mehr Beschäftigung in unserem Land. Ich meine Weichenstellungen für eine Verbesserung der Ausbildungssituation im Allgemeinen, also für einen Ausbildungskonsens, mit dem wir eine wichtige Grundlage gelegt haben, um sich abzeichnende Engpässe bei Facharbeitern - nicht zuletzt, aber nicht nur in der Informations- und Kommunikationswirtschaft - zu überwinden. Ich meine - bei allem Streit, der gelegentlich festzustellen ist - Weichenstellungen für eine Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens und der Verantwortung für das Ganze zwischen Wirtschaft, Gewerkschaften und auch Politik.

Wir werden uns in ein paar Wochen zu unserem nächsten Bündnis-Gespräch treffen. Ich lade Sie, Herr Braun, ein, an diesem Prozess des Ausgleichs und der Konsensbildung im Interesse unserer Volkswirtschaft und damit im Interesse unseres Landes mitzuarbeiten.

Bevor ich Ihnen für Ihr neues Amt von Herzen alles Gute wünsche, will ich ein paar Bemerkungen zu dem machen, was Sie - aus meiner Sicht erfreulicherweise - zu Deutschlands internationalen Aufgaben gesagt haben.

Es ist durchaus wahr - ich sage das aus Überzeugung: Uns verbindet mit den Vereinigten Staaten von Amerika sehr viel mehr, als uns - bei allem Streit in Einzelfra-gen - trennt. Das macht die Notwendigkeit aus, mit der amerikanischen Administration in einen fairen, partnerschaftlichen Dialog einzutreten. Das war - das haben Sie völlig zu Recht erkannt - der Sinn dessen, was ich kürzlich geschrieben habe. Uns verbindet ungeheuer viel mehr als uns trennt. Uns verbindet wirklich eine feste Basis gemeinsamer Werte und enger, freundschaftlicher Beziehungen, die so gefestigt ist, dass auf ihr auch gelegentliche Interessenunterschiede in der Handelspolitik und vielleicht sogar - obwohl man das nicht übertreiben sollte - in der Sicherheitspolitik zu gegenseitigem Verständnis entwickelt werden können, dass Interessenunterschiede uns jedenfalls prinzipiell nicht zu trennen in der Lage sind.

Was Sie zum Zusammenwachsen Europas und zu seiner Rolle in der internationalen Politik gesagt haben, kann ich nun wirklich nur unterstreichen. Es ist die Politik aller deutschen Bundesregierungen gewesen, gleichgültig, wie sie parteipolitisch zusammengesetzt waren, der Integration Europas einen hohen, vielleicht sogar in der europäischen Politik den höchsten Stellenwert einzuräumen. Das haben alle Bundeskanzler vor mir so gehalten. Ich denke, in dieser europäischen Tradition sollte und wird sich auch diese Regierung bewegen.

Wir haben es geschafft, dass wir hier in Berlin die materiellen Voraussetzungen für die Erweiterung der Europäischen Union geschaffen haben und in Nizza - was immer man an den Einzelheiten zu kritisieren haben mag - die institutionellen Voraussetzungen für die Erweiterung Europas. Sie haben völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass wir uns damit die riesige Chance eröffnet haben, zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren Europa dauerhaft zu einem Ort wirklichen Friedens und des Wohlergehens seiner Menschen zu machen, und zwar das ganze Europa. Diese großartige Chance werden und dürfen wir uns nicht verbauen lassen.

Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie in Ihrer Rede, die gleichsam eine Antrittsrede war, genau darauf hingewiesen haben; denn dieses gemeinsame Europa, dieses eine Europa, das nicht mehr zwischen West und Ost aufgeteilt ist, zu schaffen, ist eben nicht nur eine Aufgabe der Politik - das ist sie auch - , sondern das kann überhaupt nur gelingen, wenn alle gesellschaftlichen Kräfte daran mitarbeiten. Deshalb bin ich Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie Ihren festen Willen bekundet haben, zu helfen, diese gewaltige und historische, vielleicht historisch einmalige Aufgabe auch gegen das eine oder andere Zagen im eigenen Land durchzusetzen. Wir sind dabei auf die deutsche Wirtschaft angewiesen. Wir bauen auf sie. Deswegen bin ich Ihnen dankbar, dass Sie es heute so klar formuliert haben.

Meine Damen und Herren, wie ich eingangs gesagt habe, kann ich nicht bleiben. Einige von Ihnen wissen, warum. Andere werden es morgen erfahren müssen. Ich hoffe, dass Sie einigermaßen auskömmlich mit den Ergebnissen dessen umgehen können, was ich jetzt zu tun gedenke. Ich bin eigentlich davon überzeugt, weil im Prinzip doch alles, was wir machen, ja durchaus vernünftig ist.

Ich hatte jetzt eigentlich nur Beifall erwartet.

Ich jedenfalls wünsche Ihnen bei allem, was Sie an ernsthaften Reden und Diskus-sionen noch vor sich haben, einen angenehmen und schönen Abend, der mir vermutlich eher vergönnt bleiben wird.

Ihnen, Herr Braun, nochmals alles Gute und auf gute Zusammenarbeit!