Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 15.02.2001

Untertitel: An der Veranstaltungsreihe, die ich heute zu eröffnen habe, gefällt mir schon der Titel besonders gut: "Kontrovers - Deutsche und Franzosen im Gespräch”
Anrede: Sehr geehrte Minister, Sehr geehrter Herr Botschafter, Sehr geehrte Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/67/32367/multi.htm


An der Veranstaltungsreihe, die ich heute zu eröffnen habe, gefällt mir schon der Titel besonders gut: "Kontrovers - Deutsche und Franzosen im Gespräch"

Was gefällt mir an diesem Titel? Kontroversen gehören ganz einfach zur Meinungsbildung in pluralen Gesellschaften. Sie müssen offen ausgesprochen, aber eben auch besprochen werden, und das ist der zweite Teil des Titels: Wir sind miteinander, und zwar nicht nur die jeweiligen Regierungen, in einem fortdauernden, intensiven Gespräch. Dieses Gespräch führen wir mit den Bürgern und mit den gesellschaftlichen Gruppen, daran beteiligt sind die verschiedensten Akteure aus Wirtschaft, Politik, Kultur und Medien.

Das ist gut so. Denn anders als im intensiven Dialog werden wir die Chancen der fortschreitenden europäischen Integration nicht nutzen können.

Ich denke deshalb, dass auch diese Talkrunde ein Beispiel geben kann für den Meinungsaustausch über die Grenzen hinweg, den wir im heutigen Europa brauchen. Den wir brauchen, weil wir mit manchen Gewissheiten aus den 50er, 60er oder 70er Jahren die neuen Herausforderungen, vor denen Europa steht, nicht meistern werden.

Eine dieser Herausforderungen wird es sein, unsere demokratische Ordnung auch auf europäischer Ebene konsequent zu verwirklichen.

Dazu gehört unabdingbar eine wirklich europäische Öffentlichkeit, die den weiteren Prozess der europäischen Integration kritisch und engagiert begleitet. Und die deutlich macht, dass diese europäische Integration nicht von oben verordnet ist, sondern von den Bürgerinnen und Bürgern als ihre eigene Angelegenheit verstanden und empfunden wird.

Wir brauchen dafür mehr denn je den intensiven Austausch mit unseren Bürgern, die Beteiligung aller Gruppen der Zivilgesellschaft, die öffentliche Diskussion mit Fachleuten aus Kultur, Wissenschaft und Politik.

Natürlich ist es nicht allein Aufgabe der Politik, diese Debatten zu organisieren: Schon gar nicht geht es darum, die öffentliche Meinung zu lenken. Aber es geht darum, immer wieder Anstöße für einen kontroversen, offenen und freien Gedankenaustausch zu geben, so wie er heute abend bei dieser Veranstaltung praktiziert werden soll.

Auch auf diesem Terrain gilt jedoch, was für den Aufbau Europas insgesamt gegolten hat: Europa ist auf ein gutes Einverständnis, ist auf die enge Kooperation zwischen Deutschland und Frankreich angewiesen. Ohne die deutsch-französische Partnerschaft wäre das europäische Einigungswerk nach dem Zweiten Weltkrieg, das einem Teil unseres Kontinents Frieden, Stabilität und Wohlstand gebracht hat, niemals Wirklichkeit geworden.

Damit aber hat sich die deutsch-französische Partnerschaft nicht erschöpft. Sie hat sich in der Vergangenheit bewährt und bleibt für die Zukunft unverzichtbar. Nur wenn Deutschland und Frankreich ihrer besonderen Verantwortung für Europa gemeinsam gerecht werden, können wir die historisch einmalige Chance, die Teilung unseres Kontinents endgültig zu überwinden, auch wirklich nutzen.

Allerdings, und das muss bei einer solchen Veranstaltung auch ausgesprochen werden, dürfen abstrakte Bekenntnisse zum Europa der Zukunft nicht darüber hinwegtäuschen, dass das wirtschaftliche und politische Zusammenwachsen keineswegs überall auch zu einer wachsenden intellektuellen Nähe zwischen unseren Gesellschaften geführt hat. Manchmal scheint sich ein ganz anderer Eindruck aufzudrängen, scheinen politische, historische, aber auch kulturelle Differenzen und Meinungsunterschiede aufzubrechen, scheinen überwunden geglaubte Ängste und Vorurteile neu aufzuleben.

Dagegen hilft nichts so sehr wie das gemeinsame intensive Gespräch. Nur im deutsch-französischen Dialog können wir das Verständnis füreinander verbessern und Missverständnissen entgegenwirken.

Denn vergessen wir nicht: Wir sind in Europa heute schon zu sehr miteinander verbunden, als dass es uns nichts anginge, was unsere Nachbarn etwa über das Klonen oder über Urheberrechte im Internet denken. Unsere Gesellschaften werden immer abhängiger voneinander und beeinflussen sich immer stärker, deshalb wird Kommunikation - also Verständigung miteinander und Verständnis füreinander - immer wichtiger.

Und in diesem Austausch und Dialog werden wir feststellen, dass Trennungslinien nicht so sehr entlang der nationalen Grenzen verlaufen, sondern viel ausgeprägter in den jeweiligen nationalen Gesellschaften zu spüren sind.

Kontroversen, ich sagte es eingangs schon, gehören zur Meinungsbildung und zur Teilhabegesellschaft: Kontroversen sind lebenswichtiges Element der Demokratie. Wir können also nur gewinnen, wenn wir auf europäischer Ebene noch mehr als bisher kontroverse Diskussionen führen. Und Deutsche und Franzosen werden sicherlich auch auf diesem Feld mit gutem Beispiel vorangehen und sich besonders engagieren.

Ich wünsche Ihnen allen eine angeregte und anregende Debatte!