Redner(in): Monika Grütters
Datum: 08. Mai 2015
Untertitel: "Geschichte vergeht ja nicht einfach. Die Art und Weise, wie wir sie erzählend vergegenwärtigen, prägt unsere Sicht auf die Gegenwart, unser Bild von uns selbst und unserer Zukunft - und damit auch unterschiedliche Wahrnehmungen, die Konflikte schüren und verschärfen können. Umso wichtiger ist es, die Mahnung zu hören, die vom historischen Ort der deutschen Kapitulation ausgeht - die Mahnung, weiter für Versöhnung und Verständigung einzutreten" so Monika Grütters in ihrer Rede.
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2015/05/2015-05-08-gruetters-toast-auf-den-frieden.html
Geschichte vergeht ja nicht einfach. Die Art und Weise, wie wir sie erzählend vergegenwärtigen, prägt unsere Sicht auf die Gegenwart, unser Bild von uns selbst und unserer Zukunft - und damit auch unterschiedliche Wahrnehmungen, die Konflikte schüren und verschärfen können. Umso wichtiger ist es, die Mahnung zu hören, die vom historischen Ort der deutschen Kapitulation ausgeht - die Mahnung, weiter für Versöhnung und Verständigung einzutreten " so Monika Grütters in ihrer Rede.
Wer ein Ohr hat für das, was Orte uns von der Vergangenheit erzählen, wird hier im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst einen vielstimmigen Chor der Erinnerungen vernehmen.
Der historische Saal der deutschen Kapitulation ist ein authentischer Ort der Geschichte: Hier wurde nach dem Einmarsch der Roten Armee in Berlin das Ende des nationalsozialistischen Terrorregimes besiegelt, das sich ungeheurer Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht hatte. Hier endete ein Eroberungsfeldzug, der in ganz Europa rund 50 Millionen Kriegstote und Verwüstungen ungeheuren Ausmaßes hinterließ. Hier endete auch der Vernichtungskrieg im Osten, den das Deutsche Reich nicht nur gegen Armeen, sondern gezielt auch gegen die Zivilbevölkerung geführt hatte.
Der historische Saal der deutschen Kapitulation ist aber nicht nur schlicht ein bedeutsamer Ort der Geschichte. Er ist ein Ort der deutschen Geschichte, der sowjetischen Geschichte, der amerikanischen, britischen und französischen Geschichte, ein Ort der Geschichte mittel- und osteuropäischer Staaten - ein Ort also, der in unterschiedlichen historischen Erzählungen seinen Platz hat. Für die große Mehrheit der Deutschen war er lange ein Ort der Niederlage. Heute betrachten wir - die meisten Deutschen - ihn als einen Ort der Befreiung und empfinden tiefe Dankbarkeit, dass sowjetische, amerikanische, französische und britische Soldaten die nationalsozialistische Schreckensherrschaft beendet und dafür vielfach - das gilt insbesondere für die Soldaten der Roten Armee - mit dem Leben bezahlt haben.
So ist der historische Saal der deutschen Kapitulation nicht nur ein Ort der Geschichte unserer Nationen, meine Damen und Herren, sondern auch ein Ort der Geschichten von Menschen: Er ist, zumindest indirekt, ein Kristallisationspunkt sehr unterschiedlicher, vielfach leidvoller persönlicher Erfahrungen und Erinnerungen. Denn auch hier, im zerstörten Berlin und in ganz Deutschland, hat es unzählige zivile Opfer gegeben: Männer, Kinder - und sehr viele Frauen. Auch sie beanspruchen Geltung und Anerkennung in unserer gemeinsamen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
Dieser Vielstimmigkeit im Nebeneinander von Geschichte und Geschichten lässt erahnen, wie schwierig es ist, eine all den unterschiedlichen Perspektiven angemessene Form des Erinnerns an Unrecht, Schuld und unermessliches Leid zu finden, das Deutschland über Europa gebracht hat.
Ich bin sehr dankbar, dass es gelungen ist, mit dem Deutsch-Russischen Museum eine beispielgebende, multilaterale Einrichtung der Aufarbeitung zu etablieren, die sich der historischen Wahrheit wie auch der Verständigung zwischen unseren Völkern verpflichtet fühlt. Die vor zwei Jahren eröffnete neue Dauerausstellung - erarbeitet in einem vertrauensvollen Austausch mit Fachleuten aus der Russischen Föderation, aus der Republik Belarus, aus der Ukraine und aus Deutschland - zeigt einmal mehr, wie wichtig es ist, Vielstimmigkeit zuzulassen und unterschiedlichen Wahrnehmungen Raum zu geben. Das gilt nicht nur für Erinnerungsorte und Museen, sondern für den öffentlichen Diskurs insgesamt.
Es braucht einen "geschützten Raum für den Strom der Erzählungen", so hat es der deutsche Historiker Karl Schlögel einmal formuliert. Das bedeutet, ich zitiere weiter: eine "Sphäre von Öffentlichkeit, die den Pressionen von außen, von gleich wem standhält, und sich die Freiheit bewahrt und die Zumutungen aushält, die in den Erzählungen präzedenzlosen Unglücks im Europa des 20. Jahrhunderts enthalten sind."
Diese Zumutungen auszuhalten, das ist auch 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vielleicht das schwerste überhaupt. Geschichte vergeht ja nicht einfach. Die Art und Weise, wie wir sie erzählend vergegenwärtigen, prägt unsere Sicht auf die Gegenwart, unser Bild von uns selbst und unserer Zukunft - und damit auch unterschiedliche Wahrnehmungen, die Konflikte schüren und verschärfen können.
Umso wichtiger ist es, die Mahnung zu hören, die vom historischen Ort der deutschen Kapitulation ausgeht
die Mahnung, weiter für Versöhnung und Verständigung einzutreten;
die Mahnung, Menschenrechte, Freiheit und Demokratie als unverzichtbare Grundlagen für das friedliche Zusammenleben der Menschen und der Völker immer wieder aufs Neue zu verteidigen.
In diesem Sinne: Auf den Frieden!