Redner(in): Angela Merkel
Datum: 03. September 2015
Anrede: Sehr geehrte Frau Bundespräsidentin, liebe Frau Sommaruga,sehr geehrte Damen und Herren Professoren,liebe Studierende,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2015/09/2015-09-04-merkel-bern.html
Magnifizenz, sehr geehrter Herr Professor Täuber, sehr geehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Universität, werte Gäste,
Ich möchte mich ganz herzlich bedanken für den wundervollen Empfang, die freundlichen Worte und die hohe Auszeichnung, die Sie mir zuteilwerden lassen. Natürlich fühle ich mich Ihrer Universität durch diese Auszeichnung fortan besonders verbunden, und das freut mich sehr. Im Deutschen sagt man: "Gut Ding will Weile haben." Das haben wir hier einmal praktisch exerziert, aber heute bin ich hier.
Albert Einstein hat einmal gesagt: "Das Streben nach Wahrheit und Erkenntnis gehört zum Schönsten, dessen der Mensch fähig ist." Dass ich diesen großen Naturwissenschaftler hier zu Wort kommen lasse, hat natürlich seinen guten Grund. Denn er wirkte sowohl in Berlin als auch in Bern. An Ihrer Universität hat sich Albert Einstein vor über 100 Jahren habilitiert. Er gehört zu den ruhmreichen Forscherinnen und Forschern, deren Namen für die erstklassige akademische Tradition Ihrer Hochschule stehen. Die Universität Bern ist zu Recht stolz darauf, wie sie auch auf ihre aktuelle Arbeit zu Recht stolz sein kann. Denn ihre Fakultäten liefern allesamt wichtige Impulse für die Wissenschaft.
Gute Forschung, jedenfalls gute Forschung in unseren Zeiten, im 21. Jahrhundert, hängt maßgeblich von guter Zusammenarbeit ab. Deshalb erinnere ich mich auch gern an meinen Besuch des Europäischen Zentrums für Teilchenphysik CERN in Genf. Damals konnte ich den Teilchenbeschleuniger Large Hadron Collider besichtigen, an dem auch Wissenschaftler der Universität Bern forschen. Ich habe damals mit den jungen Talenten aus Deutschland gesprochen, und sie waren so unglaublich begeistert vom CERN. Das ist ein Beispiel für die länderübergreifende Forschungskooperation, auf die wir heute so angewiesen sind.
Die akademischen Kontakte zwischen Deutschland und der Schweiz sind ausgesprochen eng. Es bestehen man kann das wirklich sagen unzählige Kooperationen. Unter den ausländischen Studierenden in der Schweiz bilden die Deutschen die größte Gruppe. Und umgekehrt gibt es pro Jahr auch rund 3.000 junge Schweizerinnen und Schweizer an deutschen Hochschulen. Auch darauf sind wir sehr stolz.
Der lebendige Austausch in der Wissenschaft ist im Grunde nur ein Spiegel unserer engen partnerschaftlichen Beziehungen auf wirtschaftlicher, aber auch auf menschlicher Ebene. Deutschland steht bei den Schweizern an erster Stelle bei den Reisezielen im Ausland. Und umgekehrt besuchen auch viele Deutsche die Schweiz. Es waren 2014 immerhin rund 1,7 Millionen Menschen, und das mit guten Gründen: Es gilt Orte wie die wunderschöne Altstadt von Bern zu entdecken. Das habe ich heute dank der Bundespräsidentin zum ersten Mal getan, wenigstens ansatzweise. Sie gehört das merkt man auf den ersten Blick zum UNESCO-Weltkulturerbe. Es gilt die atemberaubende Schönheit der Natur zu erleben wie das prächtige Bergpanorama, von dem ich im Engadin auch des Häufigeren profitiere und mich für meine weitere Arbeit wieder rekreiere. Es gilt auch immer wieder, die Herzlichkeit der Schweizer in all ihren Sprachen zu erfahren.
Die politischen Kontakte das haben wir heute wieder unter Beweis gestellt sind von freundschaftlicher Verbundenheit geprägt. Wir haben heute von geschwisterlicher bzw. schwesterlicher Verbundenheit gesprochen, was auch nicht alle Tage vorkommt. Deshalb wollen wir das Jahr nutzen, in dem das möglich ist.
Die Ehrendoktorwürde Ihrer Universität verstehe ich genauso als Ausdruck der guten Beziehungen unserer beiden Staaten. Ich freue mich deshalb auch im Namen unserer beiden Länder über diese hohe Wertschätzung.
Deutschland konnte vor 25 Jahren in Frieden und Freiheit wiedervereinigt werden. Es bleibt für mich auch aus meiner Biographie heraus ein einzigartiges Geschenk der Geschichte, dass unser Land 1990 die Teilung überwinden konnte, dass der europäische Einigungsprozess einen Quantensprung erfuhr und mit ihm beste Voraussetzungen für Frieden, Freiheit und Wohlstand entstanden sind. Unter dem Eindruck des damaligen Geschehens sprachen einige sogar vom "Ende der Geschichte". Man dachte, dass sich alle Gesellschaften Schritt für Schritt in liberale, rechtsstaatliche und marktwirtschaftliche Ordnungen verwandeln werden. Diese These erschien damals etlichen ziemlich plausibel. Aber die Wirklichkeit und das, was wir heute erleben, hat diese Vorstellung längst überholt.
2015 ist deshalb neben einem Jahr der Erinnerungen auch ein Jahr der großen Herausforderungen. Denken wir nur an das russische Vorgehen auf der Krim und im Osten der Ukraine. Wir können und werden nicht akzeptieren, dass das Recht des Stärkeren sich als Ordnungsprinzip über die Stärke des Rechts stellt. Wir haben heute beim Mittagessen sehr intensiv darüber gesprochen. Es ist eines der Felder, auf denen Deutschland und die Schweiz gemeinsamen Positionen teilen. Die Minsker Vereinbarungen haben die Gewalt in der Ostukraine eingedämmt, aber der Waffenstillstand bleibt brüchig. Wir brauchen dringend weitere Fortschritte. Die vollständige Souveränität der Ukraine muss geachtet werden.
Liebe Frau Sommaruga, Ihnen sowie der gesamten Schweizer Bundesregierung danke ich für Ihre unverzichtbare Arbeit im Rahmen der OSZE. Unter dem Vorsitz Ihres Landes konnte die Organisation im vergangenen Jahr durch kluge Diplomatie wichtige Pflöcke einschlagen. Auch den Beitrag der Schweiz zur laufenden OSZE-Mission möchte ich hier noch einmal hervorheben. Vereinte diplomatische Kräfte sind unser bestes Mittel, um Konflikte zu befrieden. Gerade Genf als Sitz vieler internationaler Organisationen ist ja immer wieder Schauplatz wichtiger Verhandlungen. Wir haben das auch an den Verhandlungen mit dem Iran gesehen.
Derzeit schauen wir besonders auf die Gespräche, die der UN-Sondergesandte Bernardino León zur Zukunft Libyens führt. Wir hoffen sehr, dass es ihm gelingt, die verschiedenen Kraftzentren des Landes in einer nationalen Einheitsregierung zusammenzuführen.
In Libyen wie auch in Syrien und im Irak zeigt sich die gefährliche Strategie der Terrorgruppe IS. Sie macht sich das Machtvakuum zunutze, das wir dort vorfinden, das geschwächte Zentralregierungen hinterlassen haben sowohl in Syrien als auch im Irak. IS verbreitet Schrecken, Hass und Gewalt. Unter Führung der Vereinigten Staaten von Amerika hat sich eine Allianz gegen diesen Terrorismus gebildet. Angesichts der zugespitzten Lage ist es wichtig und richtig, dass wir den Terroristen robust gegenübertreten.
Terrorismus, Bürgerkrieg und der Mangel an gerechter, effektiver Staatsgewalt sind eine Geißel für Millionen von Menschen in der Region. Zugleich haben sie auch ganz direkte Konsequenzen und Folgen für uns.
Einerseits geraten wir selbst ins Fadenkreuz von Terroristen. Ich erinnere an die abscheulichen Anschläge zu Beginn des Jahres auf die Redaktion des Satireblattes "Charlie Hebdo" und auf einen Supermarkt in Paris, auf eine Kulturveranstaltung und die Synagoge in Kopenhagen. Immer wieder erreichen uns Nachrichten von vereitelten Attentaten.
Zum anderen erleben wir eine große Zahl an Flüchtlingen. So viele Menschen wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr verlassen aus unterschiedlichen Gründen ihre Heimat. Deutschland nimmt innerhalb der EU die meisten Flüchtlinge auf. Wir sind allerdings auch ein großes Land. Dieses Jahr rechnen wir mit voraussichtlich bis zu 800.000 Menschen. Wir werden diese Herausforderung meistern.
Aber wir brauchen auf europäischer Ebene mehr Solidarität. Für mich war es heute in unseren Gesprächen eine sehr wichtige Erfahrung, dass wir uns über unsere gemeinsamen Wertvorstellungen völlig einig sind, dass wir uns dem Recht auf Asyl und der Genfer Flüchtlingskonvention gemeinsam verpflichtet fühlen und dass wir innerhalb der Europäischen Union eine faire und gerechte Verteilung von denen brauchen, die zu uns flüchten und die des Schutzes bedürfen.
Wir brauchen eine wirklich praktische gemeinsame europäische Asylpolitik und einheitliche Standards für die Aufnahme von Asylverfahren. Wir haben sehr intensiv darüber gesprochen, was die Europäische Union hierbei auch von der Schweiz lernen kann und worüber wir uns austauschen können. Gerade bei der Frage des Umgangs mit denen, die keinen Schutzanspruch haben und die dann wieder nach Hause gehen müssen, und bei der Frage, wie wir denen, die Schutz brauchen, helfen können, gibt es eine große Übereinstimmung zwischen Deutschland und der Schweiz im Übrigen auch eine sehr intensive fachliche Zusammenarbeit zwischen den Ministern.
Wir müssen natürlich auch die Fluchtursachen bekämpfen: Terror und Krieg, politische Verfolgung und wirtschaftliche Perspektivlosigkeit. Im November ist in Malta ein Gipfeltreffen mit unseren afrikanischen Partnern geplant. Ziel ist es dabei, die wirtschaftliche Zusammenarbeit weiter zu verbessern, gemeinsam gegen Schleuser vorzugehen und Wege zu finden, wie abgelehnte Asylbewerber auch wieder zurück in ihre Länder gelangen.
Grundsätzlich gilt aber: Wer politisch verfolgt ist, erhält in Deutschland Asyl. Es besteht ein Anspruch auf ein faires und rasches Verfahren und auf einen Aufenthalt bei uns ohne Angst und Bedrängnis. Wir waren uns heute einig, und das habe ich auch noch einmal in der Pressekonferenz deutlich gemacht: Die Ausschreitungen gegenüber Flüchtlingen sind ganz und gar inakzeptabel. Straftäter werden die gesamte Härte unserer Gesetze zu spüren bekommen. Es geht hierbei um die Frage, ob wir unsere europäischen Werte, denen wir uns verpflichtet fühlen, nur in unseren Reden Raum gebe, oder ob wir auch danach handeln, wenn wir praktisch gefordert sind.
Meine Damen und Herren, es zeigt sich klar und deutlich, dass, so verschieden die aktuellen Herausforderungen auch sind, sie alle gute Zusammenarbeit erfordern. Ich darf sagen, dass mit der Schweiz eine hervorragende Zusammenarbeit besteht, bilateral trotz einiger Probleme, die immer noch zu lösen sind, aber wir müssen ja als Politiker auch für irgendetwas da sein, europäisch und international. Ihr Land ist für uns ein enger Freund und ein verlässlicher Partner. Wir haben gemeinsame kulturelle Wurzeln. Wir teilen fundamentale Werte und Prinzipien. Unsere Normen sind sich in vielem ähnlich. Etliches aus dem Regelwerk der EU findet auch in der Schweiz Anwendung.
Wir betrachten mit großem Respekt das historisch gewachsene Neutralitätsbewusstsein der Schweizer, ebenso ihre große Identifikation mit ihrem Land, mit ihrem Staat und ihre Bereitschaft, sich für das Gemeinwesen einzusetzen. Etwas ganz Besonderes sind natürlich die starken Elemente der direkten Demokratie, die den politischen Kurs des Landes beeinflussen. Das gilt auch für die Frage, wie und in welchem Grad sich die Schweiz in internationale oder supranationale Organisationen einbindet. Und das gilt natürlich auch für die Fragen, die mit dem Volksentscheid vom 14. Februar 2014 verbunden sind.
Hinsichtlich der laufenden Konsultationen zwischen dem Schweizer Bundesrat und der Europäischen Kommission ist es gut ich habe das heute ausdrücklich betont, dass beide Seiten im Gespräch sind. Wir unterstützen diesen Dialog. Dieser Dialog sollte in großer Offenheit und in dem Willen geführt werden, zu einem guten Ergebnis zu kommen. Wir sollten zugleich immer vor Augen haben, dass das Freizügigkeitsprinzip fester Bestandteil unseres europäischen Binnenmarkts ist.
Wir wollen alle eine Schweiz, die unverwechselbar schweizerisch ist und bleibt, aber auch möglichst eng an der Seite der Europäischen Union steht. Ich bin bzw. wir beide sind heute immer wieder in der Pressekonferenz gefragt worden: Wie wird das enden? Da kann ich nur sagen, dass in der Politik immer wieder die Erfahrung gemacht worden ist: Wenn man in einem guten Geist und mit dem Willen, Lösungen zu finden, ein dickes Brett bohrt, dann ist die Chance, eine Lösung zu finden, sehr, sehr groß. Die Spannung liegt genau darin, dass man am Anfang des Prozesses noch nicht weiß, wie die Lösung am Ende aussieht.
Da ich hier an einer Universität bin und Sie das sozusagen in Ihrer täglichen Arbeit erfahren sonst wäre Wissenschaft nicht spannend, wenn man immer schon wüsste, was herauskommen wird, sind Sie sicherlich auch guten Mutes, dass wir durchaus Chancen haben, ein gutes Ergebnis zu erzielen. Deutschland möchte das jedenfalls.
Damit komme ich auf Albert Einstein zurück. Von ihm sind viele prägnante Aussagen überliefert. Einige davon waren in Deutschland während des Einstein-Jahres 2005 an öffentlichen Gebäuden zu lesen. Am Bundesministerium für Bildung und Forschung stand damals: "Wichtig ist, dass man nicht aufhört zu fragen." Dies gilt in der Wissenschaft genauso wie in der Politik. Das Wichtigste ist, auf der Suche nach guten Antworten zu bleiben wohl wissend, dass auch bei Erfolg sich am nächsten Tag schon wieder neue Fragen stellen können. So bin ich nun auch sehr gespannt auf das Gespräch mit Ihnen.
Nochmals herzlichen Dank für die Einladung und die Ehrendoktorwürde, merci beaucoup, mille grazie, grazia fitg.