Redner(in): Monika Grütters
Datum: 13. Oktober 2015

Untertitel: "Überall auf der Welt, und nicht zuletzt auch in Deutschland und Europa, braucht es Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die hinschauen, wo andere wegsehen, die anschreiben gegen Gleichgültigkeit, Verdrängung und emotionale Abgestumpftheit. Gerade angesichts der vielen Menschen, die mit nichts als ihrer Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben ihre Heimat verlassen haben und Zuflucht suchen bei uns, ist die Sensibilität für menschliches Leid und existenzielle Not auch und besonders in den Demokratien Europas offenbar nötiger denn je" so Monika Grütters in ihrer Rede.
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2015/10/2015-10-13-gruetters-frankfurter-buchmesse.html


Überall auf der Welt, und nicht zuletzt auch in Deutschland und Europa, braucht es Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die hinschauen, wo andere wegsehen, die anschreiben gegen Gleichgültigkeit, Verdrängung und emotionale Abgestumpftheit. Gerade angesichts der vielen Menschen, die mit nichts als ihrer Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben ihre Heimat verlassen haben und Zuflucht suchen bei uns, ist die Sensibilität für menschliches Leid und existenzielle Not auch und besonders in den Demokratien Europas offenbar nötiger denn je " so Monika Grütters in ihrer Rede.

Anrede, Wahrheit, Gerechtigkeit und Parteinahme für die Schwachen "mit diesen drei Stichworten hat der große, 2006 verstorbene indonesische Schriftsteller Pramoedya Ananta Toer in einem Zeitungsinterview einmal die Beweggründe seines Schreibens umrissen." Ich versuche ", sagte er," etwas zur Aufklärung und politischen Bildung meiner Landsleute beizutragen. Das klingt hier in Europa vielleicht ziemlich verstaubt, und man mag es belächeln. Aber Indonesien hat eben keine Tradition der Demokratie wie die europäischen Staaten."

Partei ergreifen für die, deren Stimmen ansonsten unerhört blieben, für Gerechtigkeit eintreten und der Wahrheit Gehör verschaffen nein, meine Damen und Herren: Das klingt auch hier in Europa kein bisschen verstaubt, ganz im Gegenteil: Überall auf der Welt, und nicht zuletzt auch in Deutschland und Europa, braucht es Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Pramoedya Ananta Toer: Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die hinschauen, wo andere wegsehen, die anschreiben gegen Gleichgültigkeit, Verdrängung und emotionale Abgestumpftheit. Gerade angesichts der vielen Menschen, die mit nichts als ihrer Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben ihre Heimat verlassen haben und Zuflucht suchen bei uns, ist die Sensibilität für menschliches Leid und existenzielle Not auch und besonders in den Demokratien Europas offenbar nötiger denn je.

Es ist eine Konstellation, wie wohl niemand sie für diese 67. Frankfurter Buchmesse erwartet hätte, vermutlich auch Sie nicht, lieber Herr Boos, lieber Herr Riethmüller - bei allem Weitblick, den Sie mit der Wahl der Gastländer immer wieder bewiesen haben: Da trifft das Gastland 2015 - die junge Demokratie Indonesien, das bevölkerungsreichste muslimische Land der Welt, vielfach gewürdigt als Beispiel für die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie auf ein Gastgeberland, das sich angesichts der Einwanderung Hunderttausender Menschen aus muslimisch geprägten Ländern sorgenvoll fragt, wie jene demokratischen Werte, die Deutschland zum Sehnsuchtsland flüchtender Menschen gemacht haben, geschützt und erhalten werden können.

Es ist in jedem Fall eine Konstellation, mit der die Frankfurter Buchmesse den selbst gesteckten Anspruch einlöst, über das Geschäft mit dem Konsumgut Buch hinaus die Aufmerksamkeit für das Kulturgut Buch zu fördern und Forum des kulturpolitischen Diskurses zu sein. Dafür bin ich dankbar. In einem Europa, das mehr sein soll und will als eine Freihandelszone, in einem Europa, das sich als Kultur- und Wertegemeinschaft versteht, darf Kultur, darf Literatur nicht allein dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen werden. Es steht der Kulturnation Deutschland deshalb gut zu Gesicht, den Schutz der kulturellen Vielfalt nicht nur in den Verhandlungen zum Freihandelsabkommen TTIP mit Nachdruck einzufordern, sondern auch den wichtigsten Handelsplatz der internationalen Buch- und Medienbranche, die Frankfurter Buchmesse, dem Wert der Literatur zu widmen, nicht allein den damit zu erzielenden Preisen.

Über den Wert der Literatur hat das diesjährige Gastland Indonesien viel zu erzählen. Was Intellektuelle beitragen können zum demokratischen Aufbruch eines Landes, zeigen indonesische Dichter und Denker wie Sie, verehrter Herr Mohamad, die Sie sich als Autor und Journalist für ein liberales und weltoffenes Indonesien, für Meinungs- und Pressefreiheit einsetzen."Lebendige Sprache und lebendige Denkfähigkeit gehören zusammen. Lebendige Sprache und lebendiges Denken gedeihen nicht in Zweifel und Misstrauen", haben Sie Anfang dieses Jahres getwittert, und in diesem Sinne haben Sie viel dazu beigetragen, dass Literatur, dass lebendige Sprache und lebendiges Denken in Indonesien gedeihen konnten.

Was lebendige Sprache umgekehrt wiederum zur demokratischen Kultur beitragen kann, erleben wir am Beispiel mutiger Autorinnen Indonesiens interessanterweise sind es nämlich vornehmlich Frauen! - , die an gesellschaftlichen Tabus rühren und dadurch notwendige Debatten anstoßen, nicht zuletzt über dunkle, lange verdrängte Kapitel indonesischer Geschichte. Die Autorin Laksmi Pamuntjak, die mit ihrem Buch "Alle Farben Rot" auf der Buchmesse vertreten ist, hat das so formuliert: "Ich mag es überhaupt nicht, wenn es nur eine Sicht auf die Geschichte gibt. ( ... ) Ich will nicht die Geschichte korrigieren, ich will auch nicht festlegen, was richtig oder was falsch ist. Ich will nur darauf hinweisen, dass Intoleranz in jeder Kultur und in jedem Land möglich ist, und dass es sehr wahrscheinlich ist, dass daraus am Ende Zwang und Gewalt werden."

Weil Literatur ihre Kraft nur dann entfalten kann, wenn sie auch gelesen wird, braucht demokratische Kultur auch eine Lesekultur. Indonesien gilt trotz seiner herausragenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller als "Land ohne Leser". Deshalb sind Ihre Initiativen, sehr geehrter Herr Minister Baswedan, zur Förderung des Lesens - gerade in den Schulen Indonesiens so wichtig! Die indonesische Literatur jedenfalls nährt die Hoffnung auf eine demokratische Zukunft Ihres Landes - darauf, dass die demokratischen Kräfte auch weiterhin stärker sind als die Kräfte des islamischen Fundamentalismus, darauf, dass ein aufgeklärter, ein liberaler Islam möglich ist und dass sich mit der demokratischen Kultur auch die Toleranz gegenüber religiösen und sexuellen Minderheiten weiter entwickelt.

Diese Aufgaben stellen sich keineswegs nur in einer jungen Demokratie. Gerade jetzt, da so viele Menschen anderer kultureller und religiöser Herkunft Zuflucht in Deutschland suchen, gerade mit Blick auf die kommenden Jahre und Jahrzehnte, in denen zusammenwachsen soll, was bisher nicht zusammen gehört - wie Bundespräsident Gauck es am 25. Jahrestag der Deutschen Einheit so treffend formuliert hat - , gerade in diesen Zeiten muss sich demokratische Kultur auch in Deutschland und Europa neu bewähren. Es geht darum, die demokratischen Werte und Freiheiten zu schützen und zu verteidigen, derentwegen Menschen auf der Flucht vor islamistischem Fanatismus, vor Krieg und Verfolgung nach Deutschland kommen. Es geht aber auch darum zu verhindern, dass wir unsere Werte in der Sorge um die Bewahrung des Eigenen preisgeben. Kein Rabatt auf unsere Werte, das heißt auch: kein Rabatt auf Menschenwürde, auf Menschenrechte, auf Solidarität - und ja, auch auf Barmherzigkeit!

Auch für die notwendige Verständigung darüber, in welchem Deutschland, in welchem Europa wir leben wollen, gilt die Erkenntnis des Philosophen Ludwig Wittgensteins: "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt." Vielleicht, ja wahrscheinlich, ist einzig die Literatur imstande, diese Grenzen zu verschieben: den Bereich das Denk- und Vorstellbaren zu vergrößern, Gebiete jenseits unseres Erfahrungshorizonts zu erschließen und eben dadurch auch die Grenzen unserer Empathie zu weiten - indem sie uns Fremdes vertraut macht und uns auf diese Weise zum Mitgefühl befähigt. Nicht zuletzt deshalb ist es eine wahrhaft staatstragende und zukunftsweisende Aufgabe, die Freiheit der Literatur und die literarische Bildung zu fördern.

In diesem Sinne, meine Damen und Herren, ist es mir eine Ehre, mit Ihnen gemeinsam die 67. Frankfurter Buchmesse eröffnen zu dürfen, die uns unter dem Motto "17.000 Inseln der Imagination" Eindrücke vermitteln wird von der Grenzen verschiebenden, Grenzen sprengenden Kraft der Literatur!