Redner(in): Monika Grütters
Datum: 27. November 2015

Untertitel: "Gerade die Auseinandersetzung mit dem deutschen Kulturerbe in Mittel- und Osteuropa, vom Baltikum hinunter zum Balkan und bis hinein nach Russland, kann sowohl in Deutschland wie auch in unseren Partnerländern helfen, nicht nur die Geschichte ganz Europas besser zu verstehen, sondern auch die Krisen und Konflikte, in deren Angesicht Europa sich heute neu bewähren muss" so Monika Grütters in ihrer Rede.
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2015/11/2015-11-27-gruetters-omv.html


Gerade die Auseinandersetzung mit dem deutschen Kulturerbe in Mittel- und Osteuropa, vom Baltikum hinunter zum Balkan und bis hinein nach Russland, kann sowohl in Deutschland wie auch in unseren Partnerländern helfen, nicht nur die Geschichte ganz Europas besser zu verstehen, sondern auch die Krisen und Konflikte, in deren Angesicht Europa sich heute neu bewähren muss " so Monika Grütters in ihrer Rede.

Anrede,

den Anblick eines kleinen, klapprigen Handwagens werden viele Besucherinnen und Besucher des British Museums in London wohl nie vergessen. Es war das Wägelchen, mit dem eine Flüchtlingsfamilie aus Ostpommern nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Habseligkeiten nach Westen transportiert hatte - Symbol für Flucht, Vertreibung und Aussiedlung der Deutschen aus ihrer Heimat im östlichen Europa. Neil MacGregor, damals Direktor des British Museums und mittlerweile Gründungsintendant des Humboldt-Forums in Berlin, hat ihn in seiner gefeierten Ausstellung "Germany: Memories of a Nation" als ein Schlüsselobjekt für das Verständnis deutscher Identität gezeigt.

Vielen Briten sei die Vertreibungsgeschichte der Deutschen nicht bewusst gewesen, sagte er dazu kürzlich in einer Rede, und ich zitiere ihn weiter: "Dieser Handwagen, ( … . ) das wissen wir aus vielen Berichten, hat das frühere Deutschlandbild vertieft und nuanciert. Hat ihm eine bisher unbekannte, rein menschliche Dimension gegeben."

Flucht und Vertreibung sind Teil unserer Identität. Und doch hat es nicht nur in Großbritannien, sondern selbst in Deutschland lange gedauert, bis wir den Erinnerungen daran Raum geben konnten. Dass wir uns heute - in der Erinnerung an das präzedenzlose Leid, das Deutsche mit den barbarischen Verbrechen der Nationalsozialisten und mit dem Zweiten Weltkrieg über Europa gebracht haben - , auch mit deutschen Leidensgeschichten von Flucht und Vertreibung, von Heimatverlust und Entwurzelung auseinandersetzen können, das ist auch Ihr Verdienst, meine Damen und Herren, und ganz besonders das Verdienst Ihres langjährigen, unermüdlichen Brückenbauers an der Spitze der OMV, das Verdienst Helmut Sauers!

Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre engagierte Arbeit - nicht nur, weil Ihre Themen seit Jahrzehnten zum Kernbestand der Politik von CDU und CSU gehören, sondern auch und insbesondere deshalb, weil die Ost- und Mitteldeutsche Vereinigung - wie auch der Bund der Vertriebenen - als starke Stimme der Vertriebenen, der Aussiedler und Spätaussiedler, die für die Aufarbeitung unserer Geschichte und für die Aussöhnung mit den Ländern Mittel- und Osteuropas notwendigen öffentlichen Debatten angestoßen hat.

Die OMV hat zu Recht immer wieder darauf hingewiesen, dass Vertriebene, dass Aussiedler und Spätaussiedler die Unterstützung und Solidarität aller Deutschen verdienen. Sie hat sich schon früh stark gemacht für ein sichtbares Zeichen zum Gedenken an die deutschen Opfer von Flucht und Vertreibung, das die Bundesregierung mit der Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" umgesetzt hat. Sie sucht den grenzüberschreitenden Kontakt mit Deutschlands Nachbarn in Mittel- , Ost- und Südosteuropa und unterstützt damit das Zusammenwachsen Europas.

Sie setzt sich ein für das Bewahren und Vermitteln des kulturellen Erbes, das die Deutschen in den früher zu Deutschland gehörenden östlichen Gebieten - zum Beispiel in Schlesien, in Pommern, in Ost- und Westpreußen - , aber auch in den historischen Siedlungsgebieten wie Rumänien und Russland zusammen mit anderen Völkern geschaffen haben. Das alles ist wichtig für Verständnis, Verständigung und Aussöhnung in Europa, und deshalb schätze ich Ihre Arbeit sehr, meine Damen und Herren!

Auf der letzten OMV-Bundesdelegiertentagung haben Sie sich bereits ausführlich mit der Förderung der Kultur der Deutschen im östlichen Europa durch die Bundesregierung auseinandergesetzt. Ihre freundliche Einladung zur Bundesdelegiertentagung 2015, lieber Herr Sauer, nehme ich gerne zum Anlass, daran anzuschließen.

Geschichte und Kultur der Deutschen im östlichen Europa zu bewahren, zu erforschen und zu vermitteln, so wie Paragraph 96 des Bundesvertriebenen-gesetzes es vorsieht, das war und ist bis heute ein wichtiges Anliegen jeder unionsgeführten Bundesregierung. Wir haben es auch im aktuellen Koalitionsvertrag verankert und konnten die dafür vorgesehenen Mittel zuletzt deutlich erhöhen. Sie kommen Archiven, Bibliotheken, Museen, Projekten der kulturellen Vermittlung und des Denkmalerhalts, Forschungsinstituten und Akademische Förderprogrammen zugute. In meinem Etat hat die Förderung mit rund 23,7 Millionen Euro im Jahr 2015 eine Höhe erreicht, die nicht nur ideell, sondern auch monetär unsere hohe Wertschätzung für das kulturelle Erbe im östlichen Europa zum Ausdruck bringt. Ich darf hier an den absoluten Tiefpunkt von unter 13 Millionen Euro erinnern, den der gesamte Förderbereich im Jahr 2005 unter der rot-grünen Bundesregierung erreicht hatte!

Nicht zuletzt angesichts der EU-Beitritte der östlichen Nachbarstaaten in den Jahren 2004, 2007 und 2013 und der dadurch entstandenen, neuen Qualität der Zusammenarbeit geht es nun darum, die zuletzt im Jahr 2000 überarbeitete Förderkonzeption nach Paragraph 96 im europäischen Geist weiterzuentwickeln - sie nicht nur zukunftsfest für den demographischen Wandel zu machen, sondern sie auch verstärkt europäisch auszurichten, und zwar in enger Kooperation auch mit den Heimatvertriebenen bzw. ihren Nachkommen, mit den Spätaussiedlern, und - soweit der durch § 96 BVFG eng gesteckte Rahmen es zulässt - auch mit den deutschen Minderheiten im östlichen Europa. Dafür brauchen wir Ihre Hilfe, meine Damen und Herren, und die Unterstützung der in der OMV vertretenen Abgeordneten. Sie gehören zu unseren wichtigsten Partnern bei diesem so wichtigen kulturpolitischen Vorhaben. Deshalb will ich Ihnen die Eckpunkte der angepassten und weiterentwickelten Förderkonzeption kurz vorstellen.

Worum geht es also, wenn wir die Förderkonzeption auf eine Grundlage stellen wollen, die auch im demografischen Wandel Bestand hat und die getragen ist von unseren mit den Jahren gewachsenen Bindungen und Verbindungen in Europa?

Es geht, erstens, darum, den Erinnerungstransfer von einer Generation zur nächsten sicher zu stellen: Kommende Generationen werden die Lehren aus der leidvollen Geschichte Deutschlands und seiner östlichen Nachbarn ohne Zeitzeugen, ohne eigene Erinnerungen, ohne persönliche Erfahrungen von Kriegselend, Flucht und Vertreibung ziehen müssen. Je weniger Zeitzeugen es gibt, desto wichtiger wird eine professionelle und zeitgemäße Vermittlungs- , Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit.

Es geht, zweitens, darum, neue Partner zu finden und neue Zielgruppen zu erschließen: Seit 1950 haben wir in Deutschland 4,5 Millionen Menschen als Spätaussiedler aufgenommen, unter anderem aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion und Rumänien, aber auch aus Polen. Neben Vertriebenen und Flüchtlingen sind die Spätaussiedler eine starke gesellschaftliche Kraft. Das soll sich unter anderem in der Erforschung, Präsentation und Vermittlung ihrer Kultur und Geschichte in regionalen Museen spiegeln.

Es geht, drittens, darum, europäische Kooperationen zu stärken: Sie wissen selbst um die Situation in vielen Ländern des östlichen Europas. Wer mit Partnern vor Ort kooperieren möchte, muss selbst Geld mitbringen. Deshalb werden wir mehr Geld in die Hand nehmen für unsere bundesgeförderten Museen, die Vermittlungs- und Forschungseinrichtungen. Wir werden die kulturellen und wissenschaftlichen Kontakte zum östlichen Europa weiter ausbauen, damit das deutsche Kulturerbe, eingebettet in den europäischen Kontext, lebendig bleibt Darum wollen wir auch drei weitere Kulturreferentenstellen schaffen, für Oberschlesien, Siebenbürgen und die Deutschen aus Russland.

Und schließlich geht es, viertens, darum, die Chancen der Digitalisierung zu nutzen: Die Digitalisierung von Kulturgut ist der Schlüssel für den Zugang möglichst vieler Menschen zu unserem gemeinsamen europäischen Erbe im östlichen Europa. Sie macht es beispielsweise möglich, Archivalien zusammen zu führen, die durch Kriegsereignisse auseinander gerissen wurden, und sie sichert einzigartige Bestände, etwa aus den Nachlässen der Heimatvertriebenen und der Heimatsammlungen. Deshalb wollen wir die digitale Erschließung der vielfältigen Sammlungen und Bestände fördern und eine digitale Infrastruktur für die Wissenschaft und die Museen gleichermaßen entwickeln. Im Sinne einer zeitgemäßen Öffentlichkeitsarbeit wollen wir mit der Informationsvermittlung in sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter auch jüngere Zielgruppen ansprechen.

Guter Wille und beste Absichten allein reichen natürlich nicht aus, um all das umzusetzen, was wir uns im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung von Paragraph 96 vorgenommen haben, meine Damen und Herren. Deshalb bin ich froh, Ihnen mitteilen zu können, dass der Deutsche Bundestag mir für 2016 zusätzliche Mittel von insgesamt knapp 22 Millionen Euro für diesen Förderbereich bewilligt hat. Allen daran beteiligten Kollegen Abgeordneten danke ich nochmals herzlich für die Unterstützung! Damit werden wir zusätzlich beispielsweise folgende Projekte fördern: den Bau eines Besucher- und Dokumentationszentrums und einer Akademie mit internationaler Jugendbegegnungsstätte beim Museum Friedland; den Um- und Neubau einer "Galerie der Romantik" im Pommerschen Landesmuseum in Greifwald; die zeitgemäße Gestaltung der neuen Dauerausstellung im Ostpreußischen Landesmuseum in Lüneburg mit einer deutsch-baltischen Abteilung; und auch die Stärkung des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold als zentrale museale Einrichtung der Russlanddeutschen.

Außerdem begrüße ich es sehr, dass der Deutsche Bundestag soeben beschlossen hat, in den kommenden drei Jahren 50 Millionen Euro zur Entschädigung ziviler deutscher Zwangsarbeiter bereitzustellen. Das gehört zwar nicht in meine unmittelbare Zuständigkeit, aber es ist mir wichtig, dass das Schicksal dieser Menschen Anerkennung findet, bevor es endgültig zu spät für diese Geste wäre. Die OMV hat sich dafür seit Jahren eingesetzt - es ist also auch ein Stück weit Ihr Verdienst.

Das alles sind - im Kleinen wie im Großen - höchst erfreuliche politische Fortschritte, die sicher stellen, dass das deutsche kulturelle Erbe in Osteuropa präsent bleibt und die Stimmen der Vertriebenen, der Aussiedler und Spätaussiedler und ihrer Nachkommen auch in Zukunft Gehör finden. Umso mehr ärgert es mich - das sage ich ganz offen - , dass die vor sieben Jahren ins Leben gerufene Bundesstiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" im Moment nicht mit guter Arbeit, sondern mit Personalmeldungen Schlagzeilen macht. Im Moment suchen wir, wie Sie sicherlich wissen, wieder einen Nachfolger, eine Nachfolgerin für den Direktorenposten.

Der vom Stiftungsrat mit großer Mehrheit gewählte, designierte Direktor Prof. Winfried Halder hat mir Anfang November nach langen Vertragsverhandlungen mitgeteilt, dass er aus persönlichen Gründen ( - so nenne ich das, wenn jemand seinen Antritt an nicht erfüllbare Forderungen knüpft - ) nicht zur Verfügung steht. Um sicherzustellen, dass die Stiftung ihre Arbeit strukturiert fortsetzen kann, habe ich den Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas gebeten, bis zur Neubesetzung zusätzlich die Leitung der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung zu übernehmen.

Ich bitte um Verständnis dafür, dass ich aus den laufenden Gesprächen und Verhandlungen noch nichts preisgeben kann. Aber ich versichere Ihnen, dass wir alles tun, damit die Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" baldmöglichst unter einer professionellen Führung ihrem Auftrag nachkommen kann,"im Geiste der Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im historischen Kontext des zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik wachzuhalten" - so wie es die Satzung verlangt.

Das wird auch in Zukunft nicht ohne Irritationen und hier und da auch hitzige öffentliche Debatten möglich sein. Zu unterschiedlich sind die Perspektiven und Leidensgeschichten, als dass sie sich zu einer einzigen Erzählung zusammenfügen ließen! Diesen Perspektiven Raum zu geben und sie in ihrer Unterschiedlichkeit zulassen zu können, ist eine der großen Errungenschaften, die wir der vielfach schmerzhaften Auseinandersetzung mit der Vergangenheit verdanken. Meine Hoffnung für die Gegenwart und Zukunft ist, dass der vielfältige Erfahrungsschatz der deutschen Vertriebenen uns auch in besonderer Weise fähig macht zur Empathie mit Menschen, die heute Zuflucht suchen in Deutschland.

Auch wenn man die Flucht aus Syrien, Irak oder Afghanistan aus vielerlei Gründen nicht mit der Vertreibung aus Ostpreußen, Schlesien oder Pommern vergleichen kann, auch wenn Flüchtlinge heute nicht mehr mit dem Handwagen unterwegs sind, sondern mit einem Handy, das ihnen die Route weist, so sind es doch vielfach ähnliche Erfahrungen, heute wie damals. Wie sehr ähneln sich die Bilder von Menschen in langen Kolonnen auf dem Weg nach Deutschland, von frierenden Frauen und Männer mit weinenden Kindern auf dem Arm! Wie sehr ähneln sich Leid und existentielle Not in der Angst vor Gewalt, Unterdrückung und Misshandlungen, im Verlust der Heimat, im Verschwinden der Individualität im Flüchtlingsstrom! Wie sehr ähneln sich die Wunden und Traumata, die Kriege und Verfolgung verursachen!

Als gläubige Katholikin bin ich überzeugt, dass das "C" in unserem Parteinamen uns ganz besonders dazu verpflichtet, im europäischen Geiste - im Geiste des Friedens und der Versöhnung - christlichen Werten wie Barmherzigkeit und Nächstenliebe zur Geltung verhelfen. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, brauchen wir Ihre Erfahrungen und Ihr Engagement, liebe Delegierte! Denn: Vertreibungen sind Unrecht - gestern wie heute!

Gerade die Auseinandersetzung mit dem deutschen Kulturerbe in Mittel- und Osteuropa, vom Baltikum hinunter zum Balkan und bis hinein nach Russland, kann sowohl in Deutschland wie auch in unseren Partnerländern helfen, nicht nur die Geschichte ganz Europas besser zu verstehen, sondern auch die Krisen und Konflikte, in deren Angesicht Europa sich heute neu bewähren muss. Denn diese Jahrhunderte zurückreichende Geschichte erzählt von kulturellem Austausch ebenso wie von Konkurrenz, Konfrontation und Kompromiss, von gegenseitiger Anerkennung und Abgrenzung, von Verbindendem und Trennendem. Es geht um Themen, die Deutschland und Europa heute mehr denn je beschäftigen: um Fragen der Toleranz gegenüber Andersdenkenden, Fragen des Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen, Religionen und Sprachen, um Fragen des Austauschs und der wechselseitigen Wahrnehmung und Anerkennung.

Deutsche Kultur und Geschichte im östlichen Europa gehören zum Selbstverständnis unseres Landes und sind zugleich ein Spiegel der Vielfalt und Dynamik Europas. Sie sind wichtig für ein friedliches Miteinander, für das Zusammenleben im Herzen Europas, umso mehr für die junge Generation und für die kommenden Generationen, die ihren ganz eigenen Weg finden müssen. Ich wünsche Ihnen allen deshalb weiterhin viel Kraft und Erfolg für Ihre Engagement in der Ost- und Mitteldeutschen Vereinigung - als starke Stimme der Vertriebenen und ( wie es auf Ihrer Website so schön heißt ) als "unruhiges Gewissen in der CDU / CSU" !