Redner(in): Monika Grütters
Datum: 10. März 2016

Untertitel: "Worte sind Wegweiser des Denkens, und das gilt erst recht in einer politischen Ausnahmesituation, wie wir sie im Moment erleben. Ich persönlich gehöre zu denen, die Angela Merkel sehr dankbar sind, dass sie die europäischen Menschenrechtsstandards angesichts einer drohenden humanitären Katastrophe im September 2015 zum Leitbild ihrer Flüchtlingspolitik gemacht hat - bei allen Risiken und Unwägbarkeiten, mit denen eine Entscheidung dieser Tragweite verbunden ist, und auch, wenn die Mühen des Helfens unser aller Kraft und Engagement erfordern, dazu langwierige und schwierige Verhandlungen auf allen politischen Ebenen, national und international. Schlimmer als daran zu scheitern wäre, es nicht einmal versucht zu haben!" sagte Monika Grütters in ihrer Rede.
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2016/03/2016-03-10-gruetters-jahresempfang-verband-der-redenschreiber-deutscher-sprache.html


Worte sind Wegweiser des Denkens, und das gilt erst recht in einer politischen Ausnahmesituation, wie wir sie im Moment erleben. Ich persönlich gehöre zu denen, die Angela Merkel sehr dankbar sind, dass sie die europäischen Menschenrechtsstandards angesichts einer drohenden humanitären Katastrophe im September 2015 zum Leitbild ihrer Flüchtlingspolitik gemacht hat - bei allen Risiken und Unwägbarkeiten, mit denen eine Entscheidung dieser Tragweite verbunden ist, und auch, wenn die Mühen des Helfens unser aller Kraft und Engagement erfordern, dazu langwierige und schwierige Verhandlungen auf allen politischen Ebenen, national und international. Schlimmer als daran zu scheitern wäre, es nicht einmal versucht zu haben! " sagte Monika Grütters in ihrer Rede.

Anrede,

Eins ist klar: Wer sich als politischer Redner, als politische Rednerin auf einen Empfang des Redenschreiberverbands wagt, darf sich rhetorisch nichts zuschulden kommen lassen: eine umständliche Passivsatzkonstruktion - und die Augenbrauen gehen hoch; eine Entgleisung ins Bürokratendeutsch - und die Gesichter versteinern; eine abgedroschene Floskel - und das Schweigen wird eisig.

Da gehört jedes Wort auf die Goldwaage, dachte ich mir. Deshalb habe ich - um Ihren geschulten Ohren im weiteren Verlauf meiner Rede die Monotonie von Wortwiederholungen zu ersparen - nach Synonymen für "Redenschreiber" suchen lassen."Keine Synonyme gefunden", vermeldete ein Online-Wörterbuch, versehen mit einem hilfsbereiten: "Aber meinten Sie vielleicht Radaumacher" ? Radaumacher "für" Redenschreiber ", nun ja... Geschmackssache, vielleicht für Seehofer und Söder... Unter" Ghostwriter "finden sich übrigens auch keine besseren Alternativen. Da heißt es ebenso lapidar:" Keine Synonyme gefunden."Aber meinten Sie vielleicht: , Gastritis, Gastarbeiter, Gagtöter ‘" ?

Das klingt zumindest nach einem spannenden Berufsfeld, meine Damen und Herren. Und nebenbei nach einem ersten Beispiel, wie Worte Wahrnehmung verändern: Welcher Redenschreiber, welche Redenschreiberin lässt sich schon gerne aufs rhetorische "Radaumachen" reduzieren?

Wer sich an diesen Beruf wagt, muss die leisen ebenso wie die lauten Töne beherrschen, braucht Empathie und Fingerspitzengefühl und dazu stilistische Virtuosität, um die Persönlichkeit, die Gedankenwelt, die emotionalen wie die rationalen Beweggründe eines Redners, einer Rednerin in feinen sprachlichen Nuancen abbilden zu können - nicht zu vergessen natürlich politisches Gespür, um einschätzen zu können, wann und wen man mit "Radaumachen" überzeugt - oder auch nicht - , und mit welchen Risiken und Nebenwirkungen eine bestimmte Art der Rhetorik verbunden ist. Redenschreiberinnen und Redenschreiber, die auf der ganzen Klaviatur der Sprache spielen, sind eben nicht einfach Radaumacher, die für die Anliegen ihrer Auftraggeber trommeln. Vielmehr arbeiten sie, um im Klang-Bild zu bleiben, mit an der Komposition manch öffentlich wahrgenommener Wortbeiträge und haben damit auch Einfluss darauf, welche Töne die öffentliche Debatte bestimmen.

Dass es mit dem Verband der Redenschreiber deutscher Sprache eine Organisation gibt, die sich als Lobby demokratischer Rede- und Debattenkultur versteht, ist in Zeiten, die eben diese Kultur auf eine harte Bewährungsprobe stellen, wichtiger denn je. Deshalb habe ich Ihre Einladung gerne angenommen, mit Ihnen gemeinsam darüber nachzudenken, wie Worte Wahrnehmung beeinflussen und Wirklichkeit vereinnahmen können, wie Worte vielleicht auch Politik machen, konkret: wie Worte Flüchtlingspolitik machen.

Worte sind Wegweiser des Denkens, und das gilt erst recht in einer politischen Ausnahmesituation, wie wir sie im Moment erleben. Ich persönlich gehöre zu denen, die Angela Merkel sehr dankbar sind, dass sie die europäischen Menschenrechtsstandards angesichts einer drohenden humanitären Katastrophe im September 2015 zum Leitbild ihrer Flüchtlingspolitik gemacht hat - bei allen Risiken und Unwägbarkeiten, mit denen eine Entscheidung dieser Tragweite verbunden ist, und auch, wenn die Mühen des Helfens unser aller Kraft und Engagement erfordern, dazu langwierige und schwierige Verhandlungen auf allen politischen Ebenen, national und international. Schlimmer als daran zu scheitern wäre, es nicht einmal versucht zu haben!

Natürlich sehe ich aber auch die Gefahren, nicht zuletzt mit Blick auf die Ergebnisse bei den Kommunalwahlen in Hessen vergangenes Wochenende und auf die Prognosen für die bevorstehenden Landtagswahlen am kommenden Sonntag. In einer Situation, in der Mitgefühl mit den Entwurzelten auf Ablehnung der Fremden trifft, in der sich zwischen überwältigender Hilfsbereitschaft auf der einen Seite und hasserfüllter Hetze auf der anderen Seite Verunsicherung, Misstrauen und Zukunftsangst breit machen, in dieser Situation wiegen Worte umso schwerer, vor allem dann, wenn sie Übersichtlichkeit und Sicherheit versprechen. Eine solche Ausnahmesituation ist die Stunde der Populisten, der schlichten Weltbilder, der einfachen Lösungen. Ich will hier gar nicht näher eingehen auf die geistigen Brandstifter, die ihre fremdenfeindlichen Ressentiments ganz unverhohlen zur Schau stellen und mit menschenverachtenden Parolen gegen anders Lebende, anders Aussehende, anders Glaubende und anders Denkende hetzen.

Verrohung beginnt immer in der Sprache. Sie beginnt dort, wo selbst ernannte "Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" die Werte der Kultur, die sie zu verteidigen vorgeben, durch ihre jeder Menschlichkeit spottenden Worte mit Füßen treten. Verrohung breitet sich aus wie ein Virus, wenn Begriffe, die ihre Wurzeln in diesem Nährboden aus Vorurteilen und Demokratiefeindlichkeit haben, in den demokratischen Diskursraum hineinwuchern und dort neue Blüten treiben. Der Begriff "Lügenpresse" - einst von den Nationalsozialisten verwendet, um unabhängigen Journalismus zu diffamieren und Einschränkungen der Pressefreiheit zu rechtfertigen - hat es nicht umsonst zum Unwort des Jahres 2014 gebracht. Er wird salonfähig, wenn tatsächliche oder auch nur vermeintliche Fehler und Versäumnisse in der Medienberichterstattung von seriösen Politikern zu den Machenschaften eines "Schweigekartells" erklärt werden. Er verändert die Wahrnehmung, weil Medienkritik damit nicht mehr dem konkreten Einzelfall gilt, sondern dem Mediensystem, den "gleichgeschalteten Systemmedien", den "Mainstreammedien" - um die gängigen Begriffe aufzuzählen, mit denen zum Angriff gegen Journalisten geblasen und Stimmung gegen die Pressefreiheit und damit gegen die Demokratie gemacht wird. Das ist brandgefährlich.

Nicht weniger gefährlich als in Form der Einwanderung solcher Kampfbegriffe in den öffentlichen Sprachgebrauch scheint mir die Macht der Worte dort, wo sie auf subtile Weise, ohne dass wir es bemerken, Einfluss nimmt auf unser Wahrnehmen und unser Denken, wo sie sich "auf leisen Sohlen ins Gehirn" schleicht. So hat ein amerikanischer Professor für kognitive Wissenschaften die "heimliche Macht der politischen Sprache" beschrieben.

Um eine leise Ahnung von dieser Macht zu bekommen, muss man keine der zahlreiche Studien von Hirnforschern und Psychologen gelesen haben, die zeigen, wie Worte Wahrnehmung und Denkmuster prägen - ja, gleichsam die Brille sind, durch die wir die Welt sehen. Es reicht, genauer hinzu schauen, wie wir über Flüchtlinge reden. Wenn beispielsweise im Zusammenhang mit Schutz suchenden Menschen - wie so oft - metaphorisch von einer "Flüchtlingswelle" oder einer "Flüchtlingsflut" die Rede ist, vom "Zustrom" aus Slowenien, der größer sei als der "Abfluss" nach Deutschland, wenn führende deutsche Intellektuelle von der "Überrollung Deutschlands" und von einer "Flutung des Landes mit Fremden" reden, dann ist damit eben nicht nur kurz und bündig die Tatsache umschrieben, dass es täglich Tausende sind, die über die Grenze kommen.

Solche Metaphern lassen ein umfassendes Bild der Wirklichkeit entstehen. Zu diesem Bild gehört das Gefühl der Bedrohung, denn eine Flut überschwemmt alles, wenn man nicht in einem Akt der Notwehr Dämme und Schutzwälle errichtet. Zu diesem Bild gehört das Ausblenden von Schuld, denn für eine Flut trägt niemand Verantwortung. Zu diesem Bild gehört die apokalyptische Stimmung, die Hysterie und Panik schürt. Gleichzeitig bleiben uns die Schutzsuchenden fremd, wenn sie uns nur als Gesichts- und Geschichtslose begegnen: als "Flüchtlingsstrom" - wie eine Naturkatastrophe, die über Deutschland und Europa herein gebrochen ist. Das Verschwinden der einzelnen Schicksale in der Masse entmenschlicht, wo es ums nackte Überleben geht - und auch um das Überleben der Menschlichkeit. Es macht taub und blind für Not und Leid. Es befreit vom Mitgefühl. Für manche legitimiert es vielleicht sogar Gewalt. Und es legt eine sehr einfache Lösung nahe: Schotten dicht machen, und die Welt ist wieder in Ordnung. So pflastern Worte mit der Macht der Sprachbilder - der Metaphern - die breiten und ebenen Wege, die dem Denken und Handeln die Richtung weisen.

Es geht dabei, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, nicht um Fragen der "Political Correctness". In einer Demokratie müssen wir - im Rahmen geltender Gesetze - die Spannungen aushalten zwischen der Freiheit des Wortes, der Freiheit der Meinung einerseits und Verleumdung, Verachtung und Vorurteilen andererseits, ganz im Sinne Voltaires: "Ich mag verdammen, was Du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass Du es sagen darfst." Deshalb bringt es wenig, einzelne Worte zu stigmatisieren und gleichsam sprachpolizeilich anzuordnen, dass bitteschön statt von "Flüchtlingen" von "Geflüchteten" zu sprechen sei. Solche Reaktionen halte ich sogar für kontraproduktiv. Sie stärken letztlich diejenigen, die sich als Klartext-Redner und Kämpfer gegen die Unterdrückung der Wahrheit inszenieren und ihre rhetorische Wirkung nicht zuletzt einem zum Akt des Widerstands aufgeplusterten "Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!" verdanken.

Die Macht der Worte bekämpft man als Demokrat mit der Macht der Worte - nicht mit der Sprachpolizei oder mit der Zensurbehörde. Sich diesem Kampf zu stellen, heißt zunächst einmal, sich bewusst zu werden, dass bestimmte Sprachbilder den Blickwinkel verengen, dass Lösungen nur deshalb alternativlos scheinen, weil die Wahl der Worte die Lösung des Problems vorgibt - "Dämme" gegen "Fluten" beispielsweise. Das sollte gerade jenen bewusst sein, die politische Lösungen entwickeln, vermitteln und beurteilen - Politikerinnen und Politikern, Redenschreiberinnen und Redenschreibern, Journalistinnen und Journalisten. Wer das scharfe Schwert der Sprache schwingt, sollte verbreitete Sprachbilder nicht unreflektiert übernehmen. Aber geht das überhaupt: in den Begriffen die Wegweiser zu erkennen und sprachlichen Irrwegen mit alternativen Vokabularien zu begegnen? Ja, ich denke schon.

Ich selbst glaube dabei - und zwar nicht nur von Amts wegen, als Kulturstaats-ministerin, sondern aus persönlicher Erfahrung - nicht nur an die Macht der Worte, sondern auch und vor allem an die Kraft der Kunst, der Literatur, des Theaters oder auch des Films im politischen Diskurs. Es sind die Künstlerinnen und Künstler, die verhindern, dass intellektuelle Trägheit, argumentative Phantasielosigkeit und politische Bequemlichkeit die Demokratie einschläfern! Es ist die Kunst, die uns auf neue Pfade abseits der ausgetretenen Wege politischer Rhetorik führen kann!

Romane, Filme, Theaterstücke zeigen den einzelnen Menschen: zeigen Gesichter und Geschichten, offenbaren die zutiefst menschliche Sehnsucht nach Glück und Suche nach Heimat, machen Unbegreifliches verständlich - die Motive des Familienvaters etwa, der mit zwei Kleinkindern und seiner hochschwangeren Frau in einem überbesetzten Schlauchboot die Fahrt übers Mittelmeer antritt. Sie zwingen uns zum Perspektivenwechsel. Dabei gilt die Erkenntnis des Philosophen Ludwig Wittgensteins: "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt." Vielleicht, ja wahrscheinlich, sind vor allem Literatur, Theater, Film - und sicher auch journalistische Reportagen - imstande, diese Grenzen zu verschieben: den Bereich das Denk- und Vorstellbaren zu vergrößern, Gebiete jenseits unseres Erfahrungshorizonts zu erschließen und eben dadurch auch die Grenzen unserer Empathie zu weiten - indem sie uns Fremdes vertraut macht und zeigt, dass uns als Menschen mehr verbindet als uns als Angehörige unterschiedlicher Kulturen, Religionen und Sprachen trennt. In diesem Sinne erwarte ich von einer politischen Redenschreiberin, von einem politischen Redenschreiber neben einer schnellen Auffassungsgabe, worum es mir als Politikerin geht, vor allem eines: Kreativität, Inspiration und die Bereitschaft, mit mir zusammen an kraftvollen Sprachbildern zu arbeiten wie Künstler an ihren Kunstwerken.

Winston Churchill, Literaturnobelpreisträger und zweifellos einer der ganz Großen in der Geschichte der Rhetorik, hat die Tätigkeit des Redenschreibens in seinem einzigen Roman einmal so beschrieben, ich zitiere: "Er kritzelte einen groben Satz, strich ihn aus, feilte ihn, und schrieb ihn wieder. Der Klang würde ihrem Ohr gefallen, der Sinn ihren Geist fördern und anregen. Was für ein Spiel dies war! Sein Kopf enthielt die Karten, die er zu spielen hatte, die Welt den Einsatz, um den er spielte … ."

Der guten alten Rede solche Bedeutung beizumessen, mag anachronistisch erscheinen in Zeiten, in denen politische Botschaften in fernsehtaugliche eineinhalb Minuten oder twitterkompatible 140 Zeichen passen müssen und die Zahl der Follower vielen wichtiger scheint als aufmerksame Zuhörer. Doch ich bin überzeugt, dass politischer Fortschritt auch in Zukunft politischer Führung und damit rhetorischer Wagnisse bedarf. Dazu brauchen wir im Kopf die Karten, die zu spielen sind, und in der Welt ein Ziel, für das es sich zu spielen lohnt - Worte und Werte also. Beide zusammen können die Welt verändern, vielleicht sogar mit einem einzigen Satz: "Wir schaffen das!"