Redner(in): Angela Merkel
Datum: 12. Februar 2016
Anrede: sehr geehrter Herr Piplat,sehr geehrter Herr Kühnel,sehr geehrter Herr Professor Brückner,liebe Kollegen aus dem Deutschen Bundestag,liebe Europäerinnen und Europäer,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2016/05/2016-05-12-bkin-europa-haus.html
Sehr geehrter Herr Parlamentspräsident, lieber Martin Schulz, sehr geehrter Herr Kommissionspräsident, lieber Jean-Claude Juncker,
Ich freue mich sehr, dass ich bei der Wiedereröffnung des Europäischen Hauses dabei sein kann. Ich glaube, die Neugestaltung man kann schon etwas von Interaktivität und einem Nachbau des Europäischen Parlaments ahnen machen uns alle gespannt darauf, wie sich die europäischen Institutionen hier in Berlin präsentieren. Eines steht für mich jetzt schon fest: Die Investitionen des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission hier an dieser Stelle sind richtige Investitionen, und zwar sowohl in räumlicher Hinsicht die unmittelbare Nähe zum Brandenburger Tor mit seiner Symbolkraft spricht für sich als auch in thematischer Hinsicht. Denn je größer die Aufgaben für Europa werden, desto stärker müssen wir die Bürgerinnen und Bürger einbeziehen, mit ihnen ins Gespräch kommen, mit ihnen diskutieren. Ich glaube, es kann ein Ort der gegenseitigen Bereicherung sein. Wir alle neigen ja manchmal dazu, über Europa in Kürzeln und in bestimmten Wortformen zu sprechen. Die Nachfrage der hierherkommenden Menschen Was bedeutet was? könnte auch durchaus helfen, eine verständlichere Sprache zu sprechen.
Wir haben riesige Aufgaben: die Stabilisierung des Euroraums, die Bedrohungen durch den internationalen Terrorismus, die Freihandelsabkommen, über deren Sinn und Wichtigkeit es eine intensive Diskussion gibt, der Umwelt- und Klimaschutz und der Umgang mit den vielen Flüchtlingen, die zu uns kommen und in Europa Schutz suchen. Bei all diesen Fragen zeigt sich, dass wir dann, wenn Europa geeint ist, wenn die Vertreterinnen und Vertreter der 500 Millionen Bürgerinnen und Bürger Europas zu gemeinsamen Beschlüssen kommen können, auf der Welt stärker auftreten und das, was uns wichtig ist, besser durchsetzen können.
Natürlich ist Europa oft kompliziert. Manchmal sind die Mitgliedstaaten uneins, manchmal sind sich die Parlamentarier im Europäischen Parlament nicht eins. Nur die Europäische Kommission kommt immer mit gemeinsamen Beschlüssen; da hört man nicht viel von Differenzen. Ich vermute aber, dass im Innern wahrscheinlich auch diskutiert wird. Europa lebt jedenfalls von offenen Debatten. Die Suche nach Kompromissen ist nicht die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern sie ist die einzige Möglichkeit, zu gemeinsamen Lösungen zu kommen, in denen sich jeder wiederfinden kann. Oft sind die Ideen, die alle einbringen, auch der Grund, warum ein Ergebnis stärker ist, als wenn sich nur einer zu hundert Prozent durchsetzen könnte.
Wir müssen als Politiker unser Handeln erklären. Wir müssen Fragen beantworten. Das gilt in den Mitgliedstaaten genauso wie in den europäischen Institutionen. Dass sich das Europäische Parlament und die Kommission dieser Aufgabe stellen, zeigt dieses Haus hier. Es versteht sich als eine zentrale Anlaufstelle für Menschen aus Deutschland, aber auch für die vielen Touristen, die hier entlanggehen. Es ist so etwas wie ein permanenter Bürgerdialog, der hier stattfindet. Der Standort zeigt, dass dazu eine große Bereitschaft besteht. Man hätte sich in irgendeinen Winkel der Stadt verziehen und sagen können: Dann kommen nicht ganz so viele vorbei. Hier aber ist vollkommen klar, dass jeder den Eingang finden wird, der daran interessiert ist, etwas über Europa, über seine Werte und seine Interessen zu erfahren.
Ich denke, wir müssen deutlich machen, dass wir im globalen Wettbewerb in einer Welt, die immer mehr zusammenwächst in einer Welt, in der man über das Smartphone weiß, wie es überall aussieht, unsere Werte und unsere Interessen stets aufs Neue gemeinsam behaupten müssen.
In der aktuellen Debatte um die Flüchtlingsfragen und das EU-Türkei-Abkommen bedeutet das zum Beispiel, dass wir erkennen müssen, dass wir ein solches Abkommen mit der Türkei brauchen und dass es alle Anstrengungen wert war, ein solches zu verhandeln, auch wenn Schwierigkeiten auftreten. Denn selbst wenn es in Europa keinerlei Diskussion über die Verteilung von Flüchtlingen geben würde, müssten wir immer noch gemeinsam mit der Türkei, mit Jordanien, mit dem Libanon Fluchtursachen bekämpfen und dafür Sorge tragen, dass Menschen näher an ihrer Heimat bleiben können, dass sie nicht den gefährlichen Weg über die Ägäis oder das Mittelmeer nehmen müssen.
Ein Beispiel: Über 350 Flüchtlinge haben von Jahresbeginn bis zum 20. März beim Überqueren des Weges von der Türkei nach Griechenland ihr Leben verloren, ganze sieben immer noch sieben zu viel seit dem 20. März bis heute. Das allein zeigt schon, dass wir nicht zulassen dürfen, dass sich Menschen in die Hände von Schleppern und Schmugglern begeben, sondern dass wir mit anderen Nachbarstaaten Regelungen sowohl zur Bekämpfung der Fluchtursachen als auch in Bezug auf die Wahrnehmung unserer humanitären Verpflichtungen finden müssen.
Es ist ganz einfach, aber man muss es wissen: Was aus Europa wird, wie sich Europa entwickelt, liegt in unser aller Hände. Wir haben das in der Hand. Dass es uns wichtig ist, für dieses Europa zu kämpfen, ist auch in den Reden, die heute hier gehalten wurden, angeklungen.
Ich möchte ein herzliches Dankeschön für die Entscheidung des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission sagen, in so ein Europa-Haus zu investieren und sich damit den Fragen und Anliegen der Menschen zu stellen. Alles Gute, möglichst viele Besucher und dass Ihnen keiner zu viel werde.