Redner(in): Angela Merkel
Datum: 02. April 2016
Anrede: Sehr geehrte Trauergäste,liebe Familie Westerwelle,lieber Michael Mronz,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2016/04/2016-04-02-rede-merkel-trauerfeier-westerwelle.html
Diese Rede gehört definitiv nicht zu den Ansprachen, die ich jemals halten wollte. Denn dass wir hier zusammengekommen sind, um um Guido Westerwelle zu trauern, das ist sehr schwer zu akzeptieren. Zu fassen ist es schon gar nicht.
Als wir, lieber Michael, am Freitag vor zwei Wochen miteinander telefonierten, traf mich die Todesnachricht vollkommen unvermittelt, mitten hinein in die Beratungen beim Gipfel der Europäischen Union mit der Türkei in Brüssel. Sie traf mich unvermittelt allen Sorgen und Befürchtungen seit der niederschmetternden Diagnose Leukämie und seit Beginn des Kampfes gegen die Abstoßungsreaktionen des Körpers zum Trotz. Ich habe nicht glauben können und glauben wollen, dass es Guido Westerwelle tatsächlich nicht vergönnt sein sollte, sein zweites Leben das nach der Politik, in seiner Stiftung, mit seinem Mann Michael Mronz leben zu dürfen, genießen zu können, auszukosten, wie er es sich erträumt hatte.
Nach der Bundestagswahl 2013 haben wir uns nicht aus den Augen verloren. Wann immer wir in den letzten zwei Jahren miteinander gesimst oder uns am Telefon gesprochen haben oder uns sogar sehen konnten wir haben nie nur über die in 2014 so aus dem Nichts getroffene Krankheit gesprochen, nie nur über die Torturen der Behandlung und das Leid anderer Betroffener, das ihn sehr berührte. Wir haben uns immer auch über das Leben ausgetauscht, so wie es auch rund um diese schöne Kirche St. Aposteln im Herzen dieser Stadt pulsiert, während hier drinnen das Leben stillzustehen scheint.
Wir haben natürlich auch über Politisches diskutiert, denn Guido Westerwelle war und blieb ein homo politicus, der sich für die Lage in der Ukraine interessierte, für Europa und den Euro, für Europa und seinen Umgang mit den vielen Menschen, die hier Zuflucht suchen, und vieles andere mehr. Das waren gar nicht immer lange Gespräche oder ausführliche SMS-Kontakte, aber sie waren regelmäßig. Wir dachten aneinander.
So war es auch für den 8. November letzten Jahres geplant gewesen. Wir wollten uns am frühen Abend bei mir im Büro im Kanzleramt für eine gute Stunde treffen. Ich hatte danach noch einen offiziellen Termin und er am späteren Abend einen Fernsehauftritt zu seinem Buch "Zwischen zwei Leben. Von Liebe, Tod und Zuversicht", dem er die Widmung "Für Michael, den Mann meiner zwei Leben" voranstellte.
Die Buchvorstellung am Vormittag war anstrengend gewesen. Guido Westerwelle musste dann kurzfristig auf den Termin verzichten, um Kraft zu sammeln für die Diskussionen am Abend im Fernsehen. Ein anderes Mal, sagten wir uns. Doch ein anderes Mal für ein solches Treffen, das sollte es nicht mehr geben.
Wie beeindruckend Guido Westerwelle dann seinen abendlichen Fernsehauftritt gemeistert hatte, das zeigten gerade auch die vielen Menschen, die sich nach dieser Sendung als potenzielle Knochenmarkspender registrieren ließen. Deutschland hatte den Menschen Guido Westerwelle hinter dem Politiker entdeckt. Und genau deshalb erschüttert sein Tod sie jetzt so sehr.
Meine Anteilnahme gilt vor allem Dir, lieber Michael. Deinen Schmerz können wir nur erahnen. Meine Anteilnahme gilt auch Ihnen, liebe Familie Westerwelle, wie auch allen Angehörigen und Freunden.
Deutschland hat einen besonderen Menschen und Politiker verloren. Als ich 1990 aus der Wissenschaft in die Politik ging, war Guido Westerwelle bereits ein erfolgreicher Nachwuchspolitiker. Seit 1996 waren wir im Deutschen Bundestag. Näher kennengelernt haben wir uns, als wir beide Generalsekretäre waren und dann Vorsitzende unserer Parteien wurden und beide die Mühen der Oppositionsarbeit teilten.
Er verteidigte die liberalen Grundwerte und wich keinem politischen Schlagabtausch aus auch nicht, wenn er wie beim "Projekt 18" seiner Partei später zugeben musste, es übertrieben zu haben. Er schaffte es im Übrigen auch problemlos, mich, wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, manchmal zur ich kann es nicht anders sagen Weißglut zu bringen. Dann wieder konnten wir gemeinsam lachen wie bei unserer berühmt-berüchtigten Cabrio-Fahrt in Berlin vor fünfzehn Jahren. Oder wir waren gemeinsam verwundert, so zum Beispiel über die eine oder andere Reaktion, nachdem Guido Westerwelle und Michael Mronz zum Empfang zu meinem 50. Geburtstag erstmals offiziell als Paar gekommen waren.
Unser wichtigstes gemeinsames politisches Ziel erreichten wir 2009: die Bildung einer christlich-liberalen Bundesregierung. Wie sein großes Vorbild, Hans-Dietrich Genscher, wurde Guido Westerwelle Außenminister und Vizekanzler. Mit tiefer Trauer haben wir gestern vom Tode Hans-Dietrich Genschers erfahren müssen. Ich weiß, wie sehr Guido Westerwelle ihn als Staatsmann und persönlichen Ratgeber verehrte.
In allem, was Guido Westerwelle in seinem Amt als Außenminister tat, folgte er wie sein Mentor der Überzeugung, dass es die Menschen mit ihrer schöpferischen Kraft sind, die den Gang ihres Gemeinwesens festlegen sollten, nicht politische Systeme oder gar selbstherrliche Machthaber. Deshalb glaubte Guido Westerwelle an den Willen und das Werk der Menschen auf dem Maidan in Kiew ebenso wie auf dem Tahrir in Kairo und setzte sich mit aller Leidenschaft für den Wandel ein.
Aber er verlor auch nicht den Blick für die Risiken. Als das Regime Gaddafis in Libyen zu taumeln begann, machte er aus seiner Skepsis gegenüber Luftschlägen in Libyen kein Hehl. Gemeinsam trafen wir die Entscheidung zur Enthaltung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.
Die Idee der europäischen Einigung war ihm eine Herzensangelegenheit. Ihm war immer bewusst, dass Europa nicht an der Oder endet. Seine allererste Auslandsreise, am Tag seines Amtsantritts, führte ihn deshalb auch nach Warschau.
Guido Westerwelle war durch und durch ein leidenschaftlicher Liberaler in der Tradition von Theodor Heuss, Hans-Dietrich Genscher und Otto Graf Lambsdorff. Sein viel zu früher Tod ist ein herber Einschnitt.
Über all die Jahre haben Guido Westerwelle und ich erfahren können, dass uns unabhängig von gemeinsamen Zielen, heftigen Meinungsunterschieden und unterschiedlichen Temperamenten etwas trägt, das er in einem Buch so auf den Punkt bringt ich zitiere: "Nicht ein einziges Mal ist aus unseren Gesprächen etwas an die Öffentlichkeit gedrungen, was nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war. Wir konnten uns immer aufeinander verlassen." Zitatende.
Diese Fähigkeit zu schweigen, wenn es erforderlich ist, sich aufeinander verlassen zu können, sie ist rar. Doch sie macht das wirklich offene Wort überhaupt erst möglich, das so überlebenswichtig ist zwischenmenschlich wie politisch.
Ich werde Guido Westerwelle nicht nur als überzeugten Anwalt des Liberalismus vermissen, einen der besten Redner, die der Deutsche Bundestag erlebt hat. Ich werde Guido Westerwelle nicht nur als deutschen Patrioten und überzeugten Europäer vermissen, der mit Herz und Leidenschaft für Frieden und Menschenrechte gekämpft hat.
Lieber Guido, ich persönlich werde dich als Menschen und Vertrauten vermissen. Nicht ein einziges Mal ist aus unseren Gesprächen etwas an die Öffentlichkeit gedrungen, was nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war. Wir konnten uns immer aufeinander verlassen. Du warst streitbar, empfindsam, nachdenklich, verlässlich, treu. Du wirst sehr fehlen.