Redner(in): Monika Grütters
Datum: 17. April 2016

Untertitel: Die Existenz eines Konzentrationslagers wie Buchenwald mitten im Leben und der Gesellschaft, scheine heute unfassbar, so Kulturstaatministerin Grütters. Die neue Dauerausstellung widme sich "der erschreckenden Normalität als Teil des gesellschaftlichen Alltags." Die Erinnerung an Menschheitsverbrechen, Schrecken und Gräuel unter NS-Herrschaft bleibe immerwährende Verantwortung.
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2016/04/2016-04-17-rede-gruetters-buchenwald-eroeffnung-dauerausstellung.html


Die Existenz eines Konzentrationslagers wie Buchenwald mitten im Leben und der Gesellschaft, scheine heute unfassbar, so Kulturstaatministerin Grütters. Die neue Dauerausstellung widme sich "der erschreckenden Normalität als Teil des gesellschaftlichen Alltags." Die Erinnerung an Menschheitsverbrechen, Schrecken und Gräuel unter NS-Herrschaft bleibe immerwährende Verantwortung.

Es war ungefähr gegen vier Uhr nachmittags, als der Kasten endlich knackte und uns nach einem kurzen Knistern und etlichen Blasgeräuschen mitteilte, hier sei der Lagerälteste, hier spreche der Lagerälteste. ' Kameraden ‘ , sagte er, hörbar mit einem Gefühl kämpfend, das ihn in der Kehle würgte, was seine Stimme einmal abbrechen, dann wieder zu scharf werden, beinahe schon in ein Pfeifen übergehen ließ, wir sind frei! ‘ "Mit diesen Worten schilderte der kürzlich verstorbene Literaturnobelpreisträger und Buchenwald-Überlebende Imre Kertész in seinem" Roman eines Schicksallosen "den Moment der Befreiung des KZ Buchenwald vor 71 Jahren - eines Konzentrationslagers, in dem fast 280.000 Menschen inhaftiert waren und über 56.000 Menschen an Folter, medizinischen Experimenten und Auszehrung zu Tode gekommen sind: insbesondere Juden, Sinti und Roma, politisch Andersdenkende, so genannte" Asoziale ", so genannte" Berufsverbrecher ", Homosexuelle sowie Widerstandskämpfer aus Deutschland und den besetzten Ländern.

So unbegreiflich den Überlebenden damals die Aussicht auf eine Rückkehr ins Leben schien, so unfassbar scheint uns heute die Existenz eines solchen Konzentrationslagers mitten im Leben, mitten in der deutschen Gesellschaft - unvorstellbar gerade hier in Weimar, Hauptstadt der deutschen Klassik, Kristallisationspunkt deutscher Kultur- und Geistesgeschichte. Es gibt kaum einen anderen Ort, an dem Glanz und Schande der deutschen Geschichte so beklemmend nah beieinander liegen.

Die neue Dauerausstellung, die wir heute eröffnen, ist eine Annäherung an das Unfassbare: Sie beschränkt sich nicht auf das Grauen des Lageralltags, sondern widmet sich auch der erschreckenden Normalität von Konzentrationslagern als Teil des gesellschaftlichen Alltags im nationalsozialistischen Deutschland. Es wird wohl das letzte große Ausstellungsprojekt zum Nationalsozialismus sein, an dem Überlebende so aktiv und in so großer Zahl mitwirken konnten.

Für Ihren Beitrag gebührt Ihnen, den ehemaligen Häftlingen, unser aller Dank und tiefer Respekt. Ich freue mich sehr, dass so viele von Ihnen heute mit Ihren Angehörigen unter uns sind und die teils sehr weite Anreise auf sich genommen haben. Nicht nur aus Deutschland, sondern auch als Belarus, Belgien, Frankreich, Großbritannien, Israel, Italien, Norwegen, Polen, Rumänien, Russland, Serbien, Slowenien, Spanien, Tschechien, der Ukraine, Ungarn und den USA sind Sie gekommen - jede und jeder einzelne von Ihnen mit der Last des Erlebten und Erlittenen, mit vielleicht noch immer lebendigen Schreckensbildern eines Ortes, an dem man Ihnen alles genommen hat bis auf die nackte Existenz. Nichts hat mich je so sehr erschüttert wie dieser Anblick ", hat der Oberbefehlshaber der Alliierten Streitkräfte, Dwight D. Eisenhower, über die Menschen gesagt, die - Schatten ihrer selbst - am Tag der Befreiung Buchenwalds noch am Leben waren. In den 71 Jahren, die seitdem vergangen sind, haben viele Überlebende den Mut und die Kraft gefunden, über ihre Qualen zu berichten. Es sind Worte, für die wir zutiefst dankbar sind - dankbar, weil es das Mindeste ist, was wir für die Überlebenden tun können: ihnen zuzuhören und sie mit ihren Erinnerungen nicht allein zu lassen; dankbar aber auch, weil unsere Erinnerungskultur nur dann eine Zukunft hat, wenn hinter der schrecklich-nüchternen Bilanz des millionenfachen Mordes der einzelne Mensch sichtbar wird und sichtbar bleibt.

Die Erinnerung an Menschheitsverbrechen bisher nicht gekannten Ausmaßes, an die Schrecken und Gräuel, die unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft in deutschem Namen geschehen sind - diese Erinnerung bleibt für uns Deutsche eine immerwährende Verantwortung und Verpflichtung. Doch je weniger Überlebende es gibt, die uns ihre Geschichte erzählen können, desto schwieriger wird die Annäherung an das Unfassbare, und desto wichtiger werden die Zeugnisse und die authentischen Gedenkorte aus dieser Zeit, um deren Erhalt sich Bund und Länder in Deutschland gemeinsam kümmern. Auf der Grundlage der Gedenkstättenkonzeption des Bundes fördern wir auch die Gedenkstätte Buchenwald und die Erneuerung ihrer Dauerausstellung.

Als Lernorte gewinnen Gedenkstätten auch aus einem weiteren Grund an Bedeutung: In Deutschland leben immer mehr Menschen, deren Wurzeln außerhalb Deutschlands liegen - sei es, weil ihre Eltern oder Großeltern einst als Einwanderer nach Deutschland kamen, sei es, weil sie gegenwärtig Zuflucht suchen vor Krieg und Gewalt in ihren Heimatländern. Ihnen fehlt nicht nur die persönliche, die familiäre Verbindung zur deutschen Vergangenheit; sie schauen oft auch aus einer anderen Perspektive auf den Terror und die Verbrechen der Nationalsozialisten: mit eigenen Ängsten, oft auch mit eigenen Erfahrungen von Gewalt und Unterdrückung und vielfach leider auch mit antisemitischen Vorurteilen und Hass, gespeist nicht zuletzt aus den Konflikten im Nahen Osten. Gedenkstätten müssen deshalb heute eine Sprache finden, mit der sie Menschen unterschiedlicher Herkunft, Bildung und kultureller Prägung ansprechen und in ihrer Lebens- und Erfahrungswelt erreichen können.

Die stetig steigenden Besucherzahlen nicht nur in Buchenwald zeigen, dass das schon sehr gut gelingt - eine schöne Anerkennung Ihrer engagierten Arbeit, lieber Herr Prof. Knigge, und der Ihres Teams. Mit der neuen Dauerausstellung, zugeschnitten auf Wissen und Sehgewohnheiten heutiger Besucher, setzen Sie Maßstäbe gerade in didaktischer Hinsicht, und ich bin froh, dass wir auch dort auf Ihre Expertise zählen können, wo es darum geht, Migrantinnen und Migranten stärker in unsere Erinnerungskultur einzubeziehen.

Wenn wir uns heute fragen, meine Damen und Herren, wie normale Menschen zu Handlangern eines unfassbar grausamen Terrorregimes werden konnten, dann sollten wir nicht vergessen, was der katholische Publizist Eugen Kogon über seine Jahre als Häftling in Buchenwald und über die Notwendigkeit des Erinnerns geschrieben hat, ich zitiere: "Aus den abgründigen Zonen, die ich in sieben Jahren, inmitten Geblendeter und Verdammter, die wie besessen gegen jede Spur von Menschenwürde anrasten, durchwandert habe, lässt sich nichts Gutes berichten. Da es aber ein Ecce Homo-Spiegel ist, der nicht irgendwelche Scheusale zeigt, sondern dich und mich, sobald wir nur dem gleichen Geiste verfallen, dem jene verfallen sind, die das System geschaffen haben, muss er uns vorgehalten werden."

Uns diesen Ecce Homo-Spiegel vorzuhalten, das bleibt auch in Zukunft Aufgabe der Gedenkstätten. Wenn Lern- und Erinnerungsorte dazu beitragen, dass wir alle - auch junge Deutsche, auch Deutsche mit ausländischen Wurzeln, auch Einwanderer - darin ein erschreckendes, mögliches Spiegelbild sehen, dann ist eine Menge erreicht. Denn wer das Vergangene als das wieder Mögliche erkennt, der sieht auch die Gegenwart mit anderen Augen - der schaut nicht weg, wo Antisemitismus, Rassismus und Ausgrenzung heute an die Anfänge eines Weges erinnern, der damals in Krieg und Vernichtung geführt hat. Möge die neue Dauerausstellung in Buchenwald in diesem Sinne dazu beitragen, dass die Keime menschenverachtender, totalitärer Ideologien in Deutschland nie wieder einen Nährboden finden!