Redner(in): Angela Merkel
Datum: 18. April 2016

Untertitel: in Berlin
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2016/04/2016-04-19-rede-merkel-thw.html


Sehr geehrter Herr Bundesminister, lieber Thomas de Maizière,

sehr geehrte Herren Präsidenten und Vizepräsidenten

und vor allem Sie, meine Damen und Herren,

ich begrüße Sie alle, die Sie dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe sowie dem Technischen Hilfswerk alle Ehre machen. Ich habe Sie im Sommer 2014 an Ihrem Standort Bonn besucht. Da war von den Herausforderungen, über die wir heute sprechen, noch nichts zu sehen. Da haben wir danke gesagt für andere Einsätze, über die ich mich sachkundig machen konnte, was ich sehr gut in Erinnerung behalten habe. Wir haben über Erfahrungen bei der Bewältigung von Flutkatastrophen, Erdbeben, Unglücken gesprochen. Die Herausforderung, die jetzt hinter Ihnen liegt und zum Teil noch besteht, ist eine Herausforderung ganz anderer Art: die vielen Menschen, die in unser Land gekommen sind.

Ich weiß noch, wie Ende August bei meinem Besuch der vom DRK betreuten Erstaufnahmeeinrichtung in Heidenau mir jemand seinen persönlichen Eindruck schilderte: "Wissen Sie was? Das ist Auslandseinsatz im Inland, was wir hier gerade machen." So war die Situation auch an vielen anderen Stellen. Deshalb sage ich Ihnen heute erst einmal danke dafür, dass Sie sich an diese Riesenaufgabe gemacht haben, dass viele von Ihnen bis zur Erschöpfung gearbeitet haben; auch an Wochenenden und an Feiertagen.

Thomas de Maizière hat eben die riesige Zahl an Stunden genannt. Es war eine im Grunde flächendeckende Einbeziehung, wenn 600Ortsverbände dabei waren. Viele waren ehrenamtlich im Einsatz; und das parallel zum Arbeitsalltag. Viele haben ihre privaten Interessen, Freizeitinteressen zurückgestellt, um in einer humanitär wirklich herausfordernden Situation mit anzupacken. Ich weiß nicht, was Sie sich alles von Ihren Familien fragen lassen müssen; das ist ja sicherlich auch der Fall. Letztlich ist es mir auch deshalb ein tiefes Bedürfnis, Ihnen danke zu sagen für das, was Sie getan haben. Sie waren so etwas wie der erste Eindruck, den viele Menschen, die zu uns kamen, von Deutschland hatten. Sie haben Deutschland alle Ehre gemacht.

Nun sind heute nicht alle hier, die geholfen haben. Deshalb meine Bitte, auch denen, die zu Hause sind, ein herzliches Dankeschön zu sagen genauso wie Ihren Familien und Freunden, die teilweise auf Sie verzichten mussten. Unseren Dank haben wir an anderer Stelle auch schon Bundespolizisten übermittelt.

Natürlich stellen sich viele Fragen, denn die vielen ankommenden Flüchtlinge haben auch zu einer Polarisierung in unserer Gesellschaft geführt, zu gesellschaftlichen Diskussionen, zum Teil auch zu großen Auseinandersetzungen. Auf der einen Seite gibt es eine große Hilfsbereitschaft, auf der anderen Seite durchaus Zweifel und auch, wie schon gesagt wurde, Anwürfe, Pöbeleien, die Sie ertragen mussten, und auch Angriffe auf Unterbringungsmöglichkeiten.

Ich glaube, wir können heute sagen, dass wir inzwischen viel erreicht haben. Ich will das noch einmal kurz Revue passieren lassen. Wir mussten uns ja selbst erst einmal mit dieser ungewohnten Lage vertraut machen. Wir hatten seit 2014 viele Flüchtlinge, die über Italien und Österreich nach Deutschland kamen. Im Jahr 2013 waren es 100.000, im Jahr 2014 bereits 200.000. Wir hatten die Ahnung, dass es 2015 deutlich mehr werden würden. Der Bundesinnenminister hat seine Prognose im Laufe des Jahres mehrfach verändern müssen.

Wir haben dann eine völlig neue Fluchtroute gesehen, über die im Januar des Jahres 2015 1. 000Flüchtlinge pro Monat kamen, deren Zahl sich jeden Monat erhöhte, die im Juli bereits auf 54.000 angewachsen war, im August auf 102.000, im September auf 147.000 und im Oktober auf 211.000 das war der Höhepunkt. Wenn Sie sich diese Entwicklung Monat für Monat einmal aufmalen, stellen Sie fest, dass wir jetzt im Grunde im Sinne einer Gaußkurve im März des 2016 wieder da sind, wo wir im Februar des Jahres 2015 waren. Dazwischen lag harte Arbeit.

Worum ging es? Das will ich noch einmal deutlich machen. Es ging letztendlich um die Frage: Wie gehen wir damit um und wie gehen wir vor, wenn an unserer Außengrenze das ist die gedachte Grenze des Schengen-Raums eine solch geballte illegale Migration auftritt? Wie versucht man, mit diesem Problem umzugehen? Im Wesentlichen standen zwei Antworten im Raum. Die eine Antwort war: Wir sind die Bundesrepublik Deutschland; wir müssen Antworten an der deutsch-österreichischen Grenze geben. Die andere Antwort bezog sich auf die Frage: Schaffen wir es, den gesamten Raum der Reisefreiheit, den sogenannten Schengen-Raum, zu verteidigen, und lernen wir, unsere Außenhülle zu schützen?

Diese Außenhülle des Schengen-Raums, des Raums der Reisefreiheit, reicht vom Nordpol, von Grönland und Norwegen bis nach Marokko mit allem, was dazwischen liegt Russland, Weißrussland, Ukraine, Moldau, Georgien, Türkei. Gegenüber Zypern liegt Syrien; wir sind im Übrigen auch ein Nachbar-Gebilde Syriens, wenn man es so sagen will. Dann kommt alles, was Probleme hat: Libanon, Israel, daneben auch Jordanien, Ägypten, Libyen, Tunesien, Algerien und Marokko. Da zeichnet sich die Aufgabe ab, vor der wir stehen. Landgrenzen kann man relativ gut schützen. Da, wo Seegrenzen sind, ist es komplizierter.

Wir haben auch gemerkt: Es kommen nicht nur die, die Schutz brauchen. Etwa 40Prozent der bis zum Juli des vergangenen Jahres zu uns gekommenen Flüchtlinge stammten aus den westlichen Balkanstaaten. So gut wie alle davon hatten keine Bleibeberechtigung. Bis wir aber diese Länder im politischen Prozess zu sicheren Herkunftsländern erklärt haben, hat es Monate gedauert. Als wir das endlich geschafft hatten, als wir mit dem AsylpaketI und dem AsylpaketII die notwendigen Voraussetzungen auch dafür geschaffen hatten, die Rückkehr zu beschleunigen, hatten wir sehr schnell, nachdem wir die notwendigen politischen Weichenstellungen vorgenommen hatten, eine nahe bei Null liegende Ankunftsrate von Menschen vom westlichen Balkan. Das hat uns gezeigt: Durch richtige Maßnahmen können wir Migration steuern.

Dann kam die große Zahl der Flüchtlinge aus Bürgerkriegsgebieten, insbesondere aus dem Irak und Syrien. Dazu will ich Folgendes sagen: In diesen vergangenen Monaten hat sich ja auch viel über die Frage entschieden, wie man sich verhält, wenn in unserer Nachbarschaft wie ich bewusst sage wie in Syrien ein Krieg, ein Bürgerkrieg wütet und wenn von einst 20Millionen Einwohnern des Landes sechsMillionen im Land und sechsMillionen außerhalb des Landes auf der Flucht sind eine humanitäre Katastrophe. Wenn man dann sieht, dass ein Land wie der Libanon 1, 5Millionen Syrer aufnimmt, ein Land wie Jordanien fast eineMillion, ein Land wie die Türkei mit 75Millionen Einwohnern 2, 7Millionen, dann ist die Frage, ob 500Millionen Europäer, die im Schengen-Raum leben, vielleicht auch eineMillion aufnehmen können, natürlich nicht völlig außerhalb aller Reichweite.

Was die Schwierigkeit ausgemacht hat, ist, dass es nur ganz wenige Länder gab im Wesentlichen Österreich, Deutschland und Schweden, in gewisser Weise auch Finnland, Dänemark; aber schon mit Abstrichen, die sich dieser Aufgabe gestellt haben. Das hat eine gewisse Enttäuschung produziert. Wie wir damit weiterarbeiten, wie wir das Dublin-System weiterentwickeln, werden wir noch lernen müssen.

Wir haben eine Vielzahl politischer Schritte unternommen, gerade auch nachdem im August der Bundesinnenminister die Prognose von 400.000 auf 800.000 erhöht hatte. Ich will einmal sagen, angesichts eines so ungewöhnlichen Vorgangs war die Prognose ja nicht so schlecht, wenn man das Ergebnis sieht: 800.000. Wir haben zu überlegen begonnen: Wie können wir angesichts der Illegalität, in der Migration zumeist stattfindet illegaler Grenzübertritt wird von Schmugglern und Schleppern sozusagen stimuliert, zwischen zwei Ländern wie der Türkei und Griechenland, die beide zur NATO gehören, also eigentlich gemeinsamen Werten verbunden sind, das politisch so steuern, dass es besser funktioniert, den illegalen zu einem legalen Vorgang ohne Schlepper und Schmuggler umzuwandeln?

Die erste Aussage war: Fluchtursachen bekämpfen, Lebensmittelrationen in Jordanien und im Libanon sichern, Schulausbildung sichern. Der Bürgerkrieg in Syrien dauert jetzt fünf Jahre. Viele Flüchtlinge haben Kinder. Die Kinder haben zum Teil fünf Jahre lang keine Schulausbildung gehabt. Die Ersparnisse sind aufgebraucht. Und wenn dann die Lebensmittelrationen pro Kopf von 30Dollar pro Monat auf 13Dollar gekürzt werden, kann sich jeder vorstellen, dass man in eine Situation kommt, die wirklich sehr schwierig ist. Daher haben wir damit begonnen, sowohl die Ausstattung der UN-Hilfsorganisationen zu verbessern als auch eine Lastenteilung mit der Türkei zu vereinbaren und ihr Geld zu geben, damit Kinder unterrichtet werden können. Die Türkei hat im Gegenzug auch Arbeitsmöglichkeiten für syrische Flüchtlinge eingeräumt. Wir haben uns überlegt, wie wir gemeinsam illegale Migration bekämpfen können und uns, wenn das gelungen ist und in dieser Phase sind wir gerade, auch dazu bereit erklären können, auf legalem Wege je nach Situation in Syrien Kontingente festzulegen und entsprechend viele Flüchtlinge aufzunehmen. Dieser Prozess wird jetzt gerade umgesetzt.

Ich bin insbesondere Herrn Broemme sehr dankbar, der vor Ort mit geballter logistischer Erfahrung dazu beiträgt, dass die entsprechenden Vorkehrungen getroffen werden. Die Rückführung ist für viele Flüchtlinge menschlich sicherlich relativ hart, aber auf der anderen Seite dürfen wir nicht Schmugglern und Schleppern die Ägäis überlassen. Ich glaube, das ist einzusehen. Und wenn man weiß, dass dieses Jahr schon über 400Menschen ihr Leben auf diesem schmalen Stück Meer verloren haben, dann darf man nicht einfach zugucken.

Wir haben gewaltige organisatorische Dinge in Gang gebracht. Sie wissen, was da an Logistik gelaufen ist im Zusammenhang mit der Unterbringung, mit der Verpflegung, mit allem, was angesichts vieler menschlicher Bedürfnisse zu tun war. Es sind ja auch Menschen zu uns gekommen, die eine überaus strapaziöse Flucht hinter sich haben. Wir müssen alle Flüchtlinge registrieren. Wir haben dazu auch unverhoffte politische Maßnahmen durchführen können. Wenn Sie nach deutschem Datenschutzrecht Daten von der Kommune irgendwie zum Land und zum Bund transferieren wollen und jeder, der Zugriff braucht, auch Zugriff haben soll, dann ist das normalerweise ein Jahrhundertprojekt. Aber angesichts der großen Zahl an Flüchtlingen wurde der Ankunftsnachweis eingeführt, den wir relativ unbürokratisch durchgebracht haben.

Ich will auch sagen: Bei allen Auseinandersetzungen und widerstrebenden Interessen, die wir zwischen Kommunen, Ländern und Bund haben Deutschland hat sich auch mit seiner föderalen Struktur wieder einmal als seiner Aufgabe gewachsen gezeigt. Alles in allem arbeiten wir gut und kameradschaftlich zusammen in dem Geist, dass wir auch diese Aufgabe gemeinsam bewältigen wollen.

Jetzt geht es um die Umsetzung des Abkommens mit der Türkei. Und es geht darum, dass der Europäer mit seinen vielen anderen Nachbarn umzugehen lernt. Da will ich nicht verhehlen: Besondere Sorge macht uns die Situation in Libyen. In Libyen versuchen wir zu helfen, dass eine Einheitsregierung gebildet wird. Diese Einheitsregierung ist noch nicht parlamentarisch legitimiert. Es ist hier natürlich nicht so einfach, wie mit der Türkei eine Verhandlung zu führen und eine Lastenteilung zu erreichen. Viele Flüchtlinge aus Afrika sind ja in Libyen.

Bei uns hier in Deutschland steht bei im Augenblick sehr geringen Ankunftszahlen das Thema Integration ganz oben auf der Agenda. Der Bundesinnenminister hat zusammen mit der Bundesarbeitsministerin Eckpunkte oder wesentliche Punkte eines Integrationsgesetzes identifiziert. Das ist ein Schritt ins Neuland. Der Bund hatte noch nie ein Integrationsgesetz. Damit aber werden nun die gesamten Bemühungen zusammengefasst, die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge unternimmt und die wir mit den Integrationskursen und mit den Sprachkursen unternehmen. Es werden die Aktivitäten der Bundesagentur mit denen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge enger verzahnt. Damit versuchen wir sozusagen auch aus der Perspektive des einzelnen Flüchtlings die Prozesse bis hin in den Arbeitsmarkt und vieles andere mehr vernünftig zu ordnen, was sicherlich wichtig ist. Wir stehen hierbei vor einer riesengroßen Aufgabe; das ist keine Frage. Aber ich glaube, dass wir auch bei dieser Aufgabe manches lernen und diese Aufgabe bewältigen können.

Flüchtlinge haben einen Aufenthaltsstatus gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention. Wir wissen, dass Menschen aus dem Irak, aber auch aus Syrien gern wieder in ihre Heimat zurückgehen würden. In Syrien ist die Situation derzeit nicht dementsprechend. Was den Irak betrifft, gibt es, wenn Städte vom "Islamischen Staat" befreit sind, durchaus Iraker, die den Rückweg antreten. Das heißt, wie die Zukunft genau aussieht, wissen wir nicht. Aber eines wissen wir: Wir können Menschen nicht jahrelang ohne jede Integration hier in Deutschland lassen.

Ein schönes Projekt ist das haben sich der Bundesinnen- und der Bundesaußenminister ausgedacht, dass das THW auch jungen Syrern Fähigkeiten und Fertigkeiten vermittelt, die sie eines Tages auch in ihrem Land nutzen können, wo, wie man weiß, wenn man die Fernsehbilder sieht, viel Aufbauarbeit zu leisten ist. So geht die Arbeit vielleicht etwas anders weiter; und sie muss jetzt vor allen Dingen auch in Griechenland weitergehen, wo wir die notwendigen Voraussetzungen schaffen müssen. Griechenland steht vor den verschiedensten Aufgaben. Eine dieser Aufgaben ist, das EU-Türkei-Abkommen abzuwickeln. Und dass auch das THW dort wieder hilft, ist ein gutes Zeichen.

Ich habe Ihnen jetzt das Ganze einmal aus politischer Sicht gesagt. Sie arbeiten handfest und mit vielen Menschen zusammen. Viele haben in kürzester Zeit unglaublich ranklotzen müssen. Und deshalb schließe ich so, wie ich begonnen habe: mit einem ganz herzlichen Dankeschön. In solchen Lagen bewährt sich, was wir in Deutschland über viele Jahrzehnte aufgebaut haben: ein sehr spannendes und bewährtes Miteinander von Haupt- und Ehrenamt. Ich bin mir ganz sicher: Viele Flüchtlinge werden noch in vielen Jahren davon berichten, welche guten Erfahrungen sie mit Ihnen machen konnten. Ich sage danke auch im Namen der ganzen Bundesregierung. Und bitte geben Sie diesen Dank auch weiter.

Herzlichen Dank.