Redner(in): Monika Grütters
Datum: 10. Mai 2016
Untertitel: Bei der Lesung der Autobiographie Shalom Eilatis zeigte sich Kulturstaatsministerin Grütters beeindruckt von der Kraft des Holocaust-Überlebenden, seine Erinnerungen zu teilen. "Es sind die Stimmen der Zeitzeugen, die die Folgen des nationalsozialistischen Rassenwahns eindringlicher als jedes Geschichtsbuch und jedes Museum vermitteln", so Grütters.
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2016/05/2016-05-10-gruetters-buch-eilati.html
Bei der Lesung der Autobiographie Shalom Eilatis zeigte sich Kulturstaatsministerin Grütters beeindruckt von der Kraft des Holocaust-Überlebenden, seine Erinnerungen zu teilen."Es sind die Stimmen der Zeitzeugen, die die Folgen des nationalsozialistischen Rassenwahns eindringlicher als jedes Geschichtsbuch und jedes Museum vermitteln", so Grütters.
Zeitzeuge: Shalom Eilati schrieb mehr als 10 Jahre an seiner Biografie.
Foto: Stiftung Denkmal / Marko Priske Wenn ein Überlebender spricht, dann spricht er von Herzen. Das tut weh." Diese Worte stammen von Uri Chanoch - auch er ein Holocaust-Überlebender, dem Sie zu Beginn Ihres Buches eine Danksagung gewidmet haben. Ich erinnere mich gut an die bewegende Begegnung mit ihm im Januar 2015 bei einem Zeitzeugengespräch hier in Berlin, etwa ein halbes Jahr vor seinem Tod: Er hat mich mit seiner offenen, warmherzigen Ausstrahlung, seiner Weisheit und seinem unerschütterlichen Lebensmut tief beeindruckt.
Immer wieder bewegend und beeindruckend ist aber vor allem die Kraft der Überlebenden, von den Schrecken der nationalsozialistischen Terrorherrschaft zu erzählen - so wie Sie, lieber Shalom Eilati, in Ihrem Buch "Am anderen Ufer der Memel - Flucht aus dem Kownoer Ghetto". Wie weh es tut, um Worte für das Unfassbare zu ringen, wie schmerzhaft es ist, die Last des Erlebten und Erlittenen zu tragen, das können wir Nachgeborenen nur erahnen. Zum Beispiel, wenn wir in Ihrem Buch lesen, wie Sie selbst das Schweigen Ihres Vaters empfanden, seine Sprachlosigkeit im Bann der Trauer und der durchlittenen Qualen. Ich zitiere: [Ü] ber Mutter und meine Schwester sprach er kein einziges Wort, nie erwähnte er sie auch nur. Nie sprach er mit mir über seinen Schmerz, die Sehnsucht nach seiner Frau und seiner Tochter, die er verloren hatte. 50 Jahre vergingen, ehe Vater seiner ältesten Enkelin gegenüber zugab, dass er ganz einfach nicht in der Lage war, auch nur die Namen seiner Lieben beim Yizkorgebet zu Jom Kippur zu nennen ( … ) . Ihm machte der Gedanke zu schaffen, dass ich, sein Sohn, vielleicht glauben könnte, er hätte sie vergessen, doch selbst darüber mit mir zu sprechen, stand nicht in seiner Macht." [S. 266]
Sie, lieber Shalom Eilati, haben trotz allem die Kraft gefunden, Ihre Erinnerungen mit uns zu teilen. Dafür sind wir von Herzen dankbar: dankbar, weil es das Mindeste ist, was wir für die Überlebenden tun können: Ihnen zuzuhören und Sie mit Ihren Erinnerungen nicht allein zu lassen; dankbar aber auch, weil wir wissen, dass die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus nur dann eine Zukunft hat, wenn hinter der schrecklich-nüchternen Bilanz des millionenfachen Mordes der einzelne Mensch sichtbar wird und sichtbar bleibt.
Die offene und schonungslose Auseinandersetzung mit den Menschheits-verbrechen der Nationalsozialisten und das breite gesellschaftliche Bewusstsein für die Verantwortung, die daraus erwächst, gehören heute - auch dank der Schilderungen persönlicher Schicksale durch Zeitzeugen - zu den hart erkämpften, moralischen Errungenschaften unseres Landes.
Es sind die Stimmen der Zeitzeugen, die die Folgen des nationalsozialistischen Rassenwahns und die grauenhaften Auswüchse eines totalitären Staates eindringlicher als jedes Geschichtsbuch und jedes Museum vermitteln.
Es sind die Stimmen der Zeitzeugen, die der monströsen Abstraktheit der Opferzahlen Namen, Gesichter und Lebensgeschichten gegenüber stellen.
Es sind die Stimmen der Zeitzeugen, die gerade jungen Leuten helfen, eine Antwort auf die Frage zu finden: Was geht mich das heute an?
Aus diesen Gründen waren und sind Zeitzeugen auch für die politische Bildung, insbesondere für die Vermittlungsarbeit der Gedenkstätten zum NS-Unrecht in Deutschland beinahe unentbehrlich. Und doch müssen wir einen Weg finden, uns dem Unfassbaren künftig ohne ihre Begleitung zu nähern. Das bedeutet zunächst einmal, Sorge dafür zu tragen, dass ihre Stimmen nicht verstummen. Die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas leistet hier schon seit Jahren vorbildliche Arbeit, so zum Beispiel mit dem Projekt "Sprechen trotz allem". Unter diesem Motto hat die von meinem Haus finanzierte Stiftung für ihr Videoarchiv in der Dauerausstellung eine Vielzahl berührender Interviews mit Überlebenden nationalsozialistischer Verfolgung, darunter auch mit Uri Chanoc, aufgezeichnet - mit dem Ziel, möglichst vielen Opfern wieder ein Gesicht zu geben und ihre Identität sichtbar zu machen. Für Ihr Engagement im Dienste einer lebendigen Erinnerungskultur danke ich Ihnen, lieber Herr Neumärker, und Ihrem Team sehr herzlich.
Authentische Gedenkorte aus der NS-Zeit, um deren Erhalt sich Bund und Länder in Deutschland gemeinsam kümmern, stehen aber auch deshalb vor enormen Herausforderungen, weil es immer mehr Menschen gibt, die - da jung oder nach Deutschland eingewandert - die Verstrickung in den Nationalsozialismus nie als Teil ihrer Familiengeschichte erlebt haben. Die Gedenkstätten müssen deshalb heute eine Sprache finden, mit der sie Menschen unterschiedlicher Herkunft, Bildung und kultureller Prägung ansprechen und in ihrer Lebens- und Erfahrungswelt erreichen können.
Dabei können sie selbstverständlich auf die Unterstützung der Bundesregierung, auf die Unterstützung meines Hauses zählen. Denn - das ist meine, das ist unsere Hoffnung: Wer sich intensiv mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands beschäftigt, der sieht auch die Gegenwart mit anderen Augen - der schaut nicht weg, wo Antisemitismus, Rassismus, Antiziganismus und Ausgrenzung heute an die Anfänge eines Weges erinnern, der damals in Krieg und Vernichtung geführt hat.
Ich danke Ihnen, lieber Shalom Eilati, dass wir dabei auch auf die Kraft Ihrer Erinnerungen vertrauen können, die Sie uns, den Nachgeborenen, mit Ihrem bewegenden Buch geschenkt haben."Es tat weh", schreiben Sie darin über die 20 Jahre, die Sie daran gearbeitet haben,"es tat weh, alte Verbände herunterzunehmen, die längst mit dem Fleisch verwachsen waren. Doch als das Buch schließlich fertig war, konnte mein Körper endlich wieder atmen." Wir alle sind dankbar, dass Sie den Schmerz nicht gescheut haben und heute wieder atmen können, selbst hier in Berlin, das Sie vor 70 Jahren in Schutt und Asche liegend kennen gelernt haben - als zwölfjähriger Junge, mutterseelenallein mit all dem Leid, das Ihnen und Ihren Lieben in deutschem Namen zugefügt wurde. Danke, dass Sie bei uns sind! Möge Ihr Buch viele interessierte, vor allem auch junge Leserinnen und Leser finden, die der Stimme eines so beeindruckenden Zeitzeugen lauschen!