Redner(in): Monika Grütters
Datum: 16. Juli 2016

Untertitel: Kulturstaatsministerin Grütters hat das Thomas-Mann-Festival im litauischen Nidden eröffnet - ein "Fest der deutsch-litauischen Freundschaft und der Völkerverständigung in Europa". Die Menschenwürde, so das Motto der 20. Ausgabe des Festivals, müsse auch heute noch verteidigt werden. Das Thomas-Mann-Haus an der kurischen Nehrung, zeuge auch "vom Mut der litauischen Bürger, sich in der Diktatur geistige Freiräume zu erhalten".
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2016/07/2016-07-15-gruetters-thomas-mann.html


Kulturstaatsministerin Grütters hat das Thomas-Mann-Festival im litauischen Nidden eröffnet - ein "Fest der deutsch-litauischen Freundschaft und der Völkerverständigung in Europa". Die Menschenwürde, so das Motto der 20. Ausgabe des Festivals, müsse auch heute noch verteidigt werden. Das Thomas-Mann-Haus an der kurischen Nehrung, zeuge auch "vom Mut der litauischen Bürger, sich in der Diktatur geistige Freiräume zu erhalten".

Man muss schon sehr diszipliniert sein, um hier im idyllisch gelegenen, landschaftlich so einzigartig schönen Nida als Sommerurlauber seiner Arbeit nachzugehen. Thomas Mann war bekannt für seine eiserne Arbeitsdisziplin - daran hat auch der wunderbare Blick über das Haff vom Ferienhaus der Familie Mann aus nichts geändert. 1930 arbeitete er hier unter anderem an einer Rede: an der "Deutschen Ansprache", die er als "Ein ( en ) Appell an die Vernunft" - so ihr Untertitel - verstanden wissen wollte.

Darin heißt es über Aufgabe und Selbstverständnis des Künstlers, ich zitiere: "Dennoch gibt es Stunden, Augenblicke des Gemeinschaftslebens, wo ( … ) der Künstler von innen her nicht weiter kann, weil unmittelbarere Notgedanken des Lebens den Kunstgedanken zurückdrängen, krisenhafte Bedrängnis der Allgemeinheit auch ihn auf eine Weise erschüttert, dass die spielend leidenschaftliche Vertiefung ins Ewig-Menschliche, die man Kunst nennt, ( … ) das zeitliche Gepräge des Luxuriösen und Müßigen gewinnt und zur seelischen Unmöglichkeit wird".

Thomas Mann hielt diese Rede, begleitet von Tiraden und Tumulten der SA, am 17. Oktober 1930 im Berliner Beethoven-Saal: ein leidenschaftlicher Appell an die Deutschen, sich abzuwenden von den Nationalsozialisten angesichts der - wie Thomas Mann es formulierte - "orgiastische ( n ) Verleugnung von Vernunft, Menschenwürde, geistiger Haltung".

Das 20. Thomas-Mann-Festival unter dem Motto "Menschenwürde" bietet - neben einem beeindruckenden künstlerischen Programm - eine Menge Gelegenheiten, über das politische Vermächtnis Thomas Manns zu diskutieren: über seine Wandlung vom Demokratieskeptiker zu einem ihrer glühendsten Verteidiger und über sein Eintreten für Überzeugungen, die wir heute als "europäische Werte" bezeichnen. Vor allem aber ist es ein wunderbares Fest der deutsch-litauischen Freundschaft und der Völkerverständigung in Europa. Deshalb ist es mir eine große Freude, dieses herausragende Festival zum Abschluss meiner Reise nach Estland, Lettland und Litauen zu eröffnen. Ich danke Ihnen herzlich für die Einladung, lieber Herr Minister Birutis. Zuletzt haben wir uns im Mai in einem Brüsseler Sitzungssaal gesehen - viel schöner ist es natürlich hier in Nida in wunderbarer Festival-Atmosphäre.

Als Thomas Mann 1930 seine Gedanken über die "seelische Unmöglichkeit" der Kunst in Zeiten "krisenhafter Bedrängnis der Allgemeinheit" zu Papier brachte, meine Damen und Herren, stand er unter dem Eindruck eines von Fanatismus und Nationalismus aufgeheizten gesellschaftlichen Klimas in Deutschland.

Die Stimme zu erheben, politische Position zu beziehen im Sinne der Menschenwürde, war gefährlich. Ganz anders heute, in einem vereinten Europa, das seinen Bürgerinnen und Bürgern - uns allen - demokratische Rechte und Freiheiten scheinbar selbstverständlich garantiert!

So hart wir auch darum ringen, welche konkreten Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen sich aus dem Bekenntnis Europas zur Menschenwürde ergeben - etwa gegenüber Menschen aus Kriegs- und Krisenregionen, die Zuflucht suchen in Europa - , und so schwierig die Verständigung auf eine Politik im Einklang mit unseren Werten auch sein mag: Jenen politischen Mut, den Thomas Mann 1930 in seinem "Appell an die Vernunft" bewies, muss heute zum Glück niemand an den Tag legen, um öffentlich die Menschenwürde zu verteidigen. Und doch wäre es ebenso trügerisch wie gefährlich anzunehmen, dass die Menschenwürde keine Verteidiger mehr braucht.

In Deutschland haben wir aus zwei Diktaturen - aus der Terrorherrschaft der Nationalsozialisten und aus dem kommunistischen Regime in der DDR - eine Lehre gezogen, die da lautet: Kritik und Freiheit der Kunst sind konstitutiv für eine Demokratie. Kreative und Intellektuelle sind das Korrektiv einer Gesellschaft. Wir brauchen sie, die provozierenden Künstler, die verwegenen Denker, die unbequemen Schriftsteller, wir brauchen die Utopien, die sie entwerfen, die Fantasie, die sie antreibt, ihre Sehnsucht nach einer besseren Welt! Sie sind der Stachel im Fleisch unserer Gesellschaft, der verhindert, dass intellektuelle Trägheit, argumentative Phantasielosigkeit und politische Bequemlichkeit die Demokratie einschläfern. Sie sind imstande, unsere Gesellschaft vor gefährlicher Lethargie und damit auch vor neuerlichen totalitären Anwandlungen zu bewahren. Die Freiheit und Vielfalt der Kunst und Kultur zu sichern und so jedem neuerlichen Totalitarismus, jeder neuerlichen Abkehr von der Menschenwürde vorzubeugen, das ist deshalb oberster Grundsatz unserer Kulturpolitik in Deutschland.

Vom Wert der Kunst und der Rolle des Künstlers erzählt auch die Geschichte des Thomas-Mann-Hauses, das sich in der Zeit des Sozialismus zu einem Refugium litauischer Intellektueller entwickelte - zu einem Ort unabhängigen Denkens und kontroverser Debatten, oftmals ausgehend von Essays oder Briefen des einstigen Hausherrn. Was für ein Glück - ja, was für ein Wunder - , dass der Geist des Thomas-Mann-Hauses die Zeit der deutschen Besatzung und die Zeit der sozialistischen Sowjetrepublik Litauen überstanden hat! Damit ist auch das Thomas-Mann-Haus ein Zeugnis politischen Mutes: des Mutes litauischer Bürgerinnen und Bürger, sich in der Diktatur geistige Freiräume zu erhalten.

Über die vielfältigen Verbindungen hinaus, die sich aus der einstigen Nachbarschaft Deutschlands und Litauens und aus dem gemeinsamen kulturellen Erbe entwickelt haben, sind es auch solche Erfahrungen, auf die wir die deutsch-litauische Freundschaft und das gemeinsame Eintreten für Frieden und Freiheit in Europa bauen können. Deshalb bin ich all jenen von Herzen dankbar, die Thomas Manns Vermächtnis über all die Jahre in Ehren gehalten haben, die zum Erhalt des Thomas-Mann-Hauses beigetragen und es zu einem Ort der Begegnung und des Austauschs gemacht haben.

Man müsse, schrieb Thomas Mann 1938 in seinem Vortrag "Vom kommenden Sieg der Demokratie", man müsse "die Demokratie als diejenige Staats- und Gesellschaftsform bestimmen, welche vor jeder anderen inspiriert ist vom Gefühl und Bewusstsein der Würde des Menschen". Diesen im christlichen Menschenbild wurzelnden Anspruch hoch zu halten in festlichen Reden - erst recht in einer so schönen, alten Dorfkirche! - , das ist heute zum Glück sehr einfach. Ihm gerecht zu werden in den Niederungen des demokratischen Alltags, im Ringen um einen vernünftigen Ausgleich unterschiedlicher Interessen, das bleibt so schwer wie eh und je.

Nicht zuletzt braucht Europa dafür die Kraft der Erinnerung an seine wechselvolle Geschichte: an seine glücklichsten wie an seine dunkelsten Stunden, an seine schmerzlichen Erfahrungen mit Nationalismus und Fanatismus wie auch an seine gewachsenen Freiheitstraditionen. Möge Thomas Mann dafür weiterhin unser gemeinsamer Kronzeuge sein! In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und allen Besucherinnen und Besuchern ein inspirierendes Thomas-Mann-Festival - dieses Jahr im Geiste dessen, was uns die Menschenwürde bedeutet.