Redner(in): Monika Grütters
Datum: 02. September 2016
Untertitel: Die Staatsministerin gratulierte der Kestnergesellschaft zum 100-jährigen Bestehen. Die Erfolgsgeschichte der Kestnergesellschaft wäre nicht denkbar ohne die beeindruckende Tradition des privaten bürgerschaftlichen Engagements und des Mäzenatentums im Geiste ihres Namensgebers Georg August Christian Kestner, so Grütters.
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2016/09/2016-09-06-gruetters-kestnergesellschaft.html
Die Staatsministerin gratulierte der Kestnergesellschaft zum 100-jährigen Bestehen. Die Erfolgsgeschichte der Kestnergesellschaft wäre nicht denkbar ohne die beeindruckende Tradition des privaten bürgerschaftlichen Engagements und des Mäzenatentums im Geiste ihres Namensgebers Georg August Christian Kestner, so Grütters.
Viele große Erfolgsgeschichten beginnen damit, dass irgendjemand zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Anders die Geschichte der Kestnergesellschaft: Für die Gründung eines der künstlerischen Avantgarde verpflichteten Vereins war Hannover weder der ideale Ort noch war das Jahr 1916 die ideale Zeit. Bei Verdun und an der Somme tobten vor 100 Jahren die blutigsten und verlustreichsten Schlachten des Ersten Weltkriegs; Künstler - wie etwa August Macke oder Franz Marc - kämpften, litten und starben an der Front. Deutschland standen Monate des Hungerns bevor, die später als "Kohlrübenwinter" ins kollektive Gedächtnis eingingen. Und in Hannover - von Sophie Küppers, der Ehefrau des ersten Direktors der Kestnergesellschaft, verächtlich als "stocksteife Provinzstadt" bezeichnet - gab es bereits einen Kunstverein, und zwar einen, in dem damals reaktionäre Kräfte das Sagen hatten. Gute Startvoraussetzungen sehen wahrlich anders aus!
Umso bemerkenswerter ist es, dass aus der Initiative kunstbegeisterter, weltoffener und im wahrsten Sinne des Wortes neu-gieriger Bürger einer der mitgliederstärksten und renommiertesten Kunstvereine, ja eine Institution im Bereich der Bildenden Kunst in Deutschland geworden ist - eine Institution, die als Bühne der zeitgenössischen Kunst und als Wegbereiterin der Avantgarde ihre Spuren in der Kunstgeschichte hinterlassen hat. Viele Künstler, die in den vergangenen 100 Jahren in der Kestnergesellschaft ausgestellt wurden, gehören heute zum Kanon der Moderne, zu den wichtigsten Repräsentanten der zahlreichen "-ismen", die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat - beispielsweise des Expressionismus, des Konstruktivismus, des Kubismus, des Primitivismus, des Surrealismus, des Dadaismus und wie sie alle heißen. Doch damals, als noch relativ unbekannte Zeitgenossen, waren sie angewiesen auf Orte der Präsentation, auf Instanzen der Vermittlung und auf kunstbegeisterte Begleiter, die für Aufmerksamkeit sorgten, Diskussionen anstießen und zu ihren Gunsten "Stellung nahmen" - um das Motto des Jubiläumsprogramms und das Leitmotiv des Vereins aufzugreifen.
Stellung zu nehmen, Position zu beziehen für die Kunst, das ist in einer Demokratie anspruchsvoll genug. Zu einem beinahe heroischen Akt des Widerstands wird dieser Anspruch, wenn demokratische Freiheitsrechte außer Kraft gesetzt sind, wenn Gewalt und Willkür herrschen. Es zeugt deshalb von einem hohen Ethos der Kunstförderung und sagt viel über das Selbstverständnis der Kestnergesellschaft, dass sie, statt ihren jüdischen Direktor Justus Bier Anfang der 30er Jahre auf Druck der Nazis zu entlassen und sich programmatisch gleichschalten zu lassen, lieber die eigene Zwangsschließung im Jahr 1936 in Kauf nahm.
Die klaren Konturen seines Profils als "Hort der Avantgarde" - wie es in einem Zeitungsartikel einmal hieß - verdankt der Kunstverein nicht zuletzt seinen ebenso weitsichtigen wie ambitionierten Direktoren, die mit Aufsehen erregenden Ausstellungen immer wieder für Furore weit über die Region hinaus gesorgt haben. Es freut mich, dass mit Ihnen, liebe Frau Végh, im vergangenen Jahr die erste Frau diese Position übernommen hat. Das hat ganze 99 Jahre gedauert … . Ja, was Frauen in Spitzenpositionen betrifft, könnte unsere Kunst- und Kulturwelt durchaus noch etwas avantgardistischer in Erscheinung treten.
Die Erfolgsgeschichte der Kestnergesellschaft trägt aber vor allem auch die Handschrift ihrer fast 4.000 Mitglieder. Sie wäre nicht denkbar ohne die beeindruckende Tradition des privaten bürgerschaftlichen Engagements und des Mäzenatentums im Geiste ihres Namensgebers, des aus Hannover stammenden Diplomaten und Kunstsammlers Georg August Christian Kestner. So erinnert die 100jährige Tradition der Kestnergesellschaft auch daran, dass Deutschland seine ungeheure kulturelle Vielfalt nicht allein einer im Vergleich zu anderen Ländern relativ großzügigen staatlichen Kulturfinanzierung verdankt, sondern auch und insbesondere einer beträchtlichen Zahl kunstinteressierter Bürgerinnen und Bürger. Die einzig revolutionäre Kraft ist die Kunst ", hat Joseph Beuys einmal gesagt, dem die Kestnergesellschaft 1975 und 1990 eine Ausstellung gewidmet hat. Doch der Keim des im besten Sinne Revolutionären würde verkümmern, wenn er nicht auf fruchtbaren Boden fiele. Bis heute ist es das Verdienst traditionsreicher Kunstvereine in Deutschland, dass sie der künstlerischen Avantgarde geistige und diskursive Resonanzräume in unserer Gesellschaft eröffnen, in der die" revolutionäre Kraft " der Kunst sich entfalten kann. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, liebe Frau Végh, für künftige Projekte eine glückliche Hand und tatkräftige Unterstützung nicht zuletzt durch einen engagierten Vorstand - auf dass die Kestnergesellschaft weiterhin so erfolgreich Pionierarbeit für die Rezeption zeitgenössischer Kunst leisten kann. Mögen das bürgerschaftliche Engagement, die Unterstützung bekannter Hannoveraner Unternehmen sowie die Förderung durch das Land Niedersachsen diese Arbeit so zuverlässig stützen wie bisher! Herzlichen Glückwunsch zum 100-jährigen Bestehen!