Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 05.04.2001

Untertitel: Zwischen Wandel und Beharren - Widersprüchliche Leitmotive der Politik?
Anrede: Verehrter Herr Kardinal Sterzinsky, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/70/35770/multi.htm


Zwischen Wandel und Beharren -Widersprüchliche Leitmotive der Politik? "

ein Wort zu demjenigen, der mich eingeladen hat, aber heute leider krank ist: Das ist nämlich Werner Remmers. In der Tat kenne ich ihn aus Hannoveraner Tagen, und ich schätze ihn. Wir waren keine politischen Freunde, aber wir sind so miteinander umgegangen, dass wir wohl voneinander sagen können: So muss man in einer zivilen, in einer zivilisierten Gesellschaft gegeneinander Politik machen. Im übrigen war er ein durchaus guter Kultusminister, aber ein noch besserer Skatspieler. Ich hoffe, es geht ihm bald wieder so gut, dass er mit Ihnen zusammen die Akademie-Abende verbringen kann.

Mir ist ein Thema gestellt worden. Ich will versuchen, es abzuarbeiten und freue mich auf eine halbe Stunde Diskussion.

Die Politik und die Kirchen - das ist klar - haben von Haus aus etwas unterschiedliche Bezugsgrößen. Umso bemerkenswerter finde ich das folgende Zitat aus dem gemeinsamen Wort der beiden Kirchen: "Für eine Zukunft in Solidarität und Grechtigkeit". Mit dem Zitat möchte ich meine Ausführungen vor Ihnen beginnen."Es genügt nicht", heißt es dort,"das Handeln an den Bedürfnissen von heute oder einer einzigen Legislaturperiode auszurichten, auch nicht allein an den Bedürfnissen der gegenwärtigen Generation. Zu dem kurzfristigen Krisenmanagement gibt es manchmal keine Alternative - immerhin. Aber das individuelle und das politische Handeln dürfen sich darin nicht erschöpfen. Wer notwendige Reformen aufschiebt oder versäumt, steuert über kurz oder lang in eine existenzbedrohende Krise."

Dieses Kirchenwort beschreibt die Notwendigkeit der langfristigen Orientierung von Politik, aber eben auch von Gesellschaft. Insofern könnte es auch eine Überschrift über vernünftige Regierungsarbeit sein - so verstehen wir es jedenfalls. Es geht darum, auf der Grundlage von unverbrüchlichen Werten, die nicht in Frage gestellt werden, von Gerechtigkeit und Solidarität, mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft zu sichern. Wenn wir also von "Bewahren" und zugleich von "Verändern" als möglicherweise widersprüchliche Zielvorgaben an heutige Politik sprechen, dann ist genau das gemeint: Die Werte bewahren - aber die Politik, die diesen Werten Geltung verschafft, ständig erneuern, sie gegenwärtigen, aber eben auch zukünftigen Anforderungen anpassen. Nur so, davon bin ich überzeugt, lässt sich der auch von den Kirchen geforderte gesellschaftliche Konsens - man könnte auch sagen: Zusammenhalt - in der Gesellschaft erreichen, der auf diesen Werten beruht.

Ich gebe zu, das klingt einfacher, als es in der Praxis einer sich rapide verändernden Welt oft umzusetzen ist. Denn der Wunsch zu bewahren, gilt nicht nur abstrakten oder übergeordneten Werten. Er entspricht häufig auch ganz verständlichen Ängsten - um den Arbeitsplatz etwa oder um soziale Errungenschaften, auch wohl um gesellschaftliches Ansehen. Und ich meine damit gar nicht einmal die Ängste von Menschen, die geglaubt haben, man könne nun ohne eigene Arbeit innerhalb von Wochen etwa an der Börse, am Neuen Markt Multimillionär werden.

Nein, mir geht es um die Ängste von Menschen, die fürchten, ihre eigene Arbeit, ihre Erfahrung und Qualifikationen könnten morgen nichts mehr oder jedenfalls nicht mehr so viel wert sein. Es geht mir um Ängste der Menschen vor den Machbarkeiten einer rasant fortschreitenden technischen Entwicklung. Aber schließlich gibt es auch Ängste vor den Risiken, die jeder eingeht, der politische Entscheidungen trifft.

In den 90er Jahren zum Beispiel hat die Politik in Deutschland auf die Veränderungen in der Arbeitswelt, in den Unternehmensstrukturen und auf den internationalen Märkten gelegentlich ohnmächtig, jedenfalls zu langsam reagiert. Diese Unbeweglichkeit war nicht ein Zeichen von Stabilität. Sie war ein Zeichen von Schwäche, weil der Mut zu Innovation und Modernisierung gefehlt hat. Wir standen deshalb vor der Aufgabe, Politik wieder handlungsfähig, die Gesellschaft also reformfähig zu machen. Heute kann ich sagen: Es war richtig, am Primat der Politik festzuhalten, weil wir die Werte von Solidarität und Chancengleichheit, von Generationengerechtigkeit oder auch Weltoffenheit eben nicht dem Zufall oder anonymen Mächten überlassen können. Anders herum gesagt: Wer sich dem Wandel nicht stellt, der ist es, der die Sicherheit der Menschen aufs Spiel setzt.

Gerechtigkeit - das meint zuallererst die Freiheit und die Chance für die Gestaltung des eigenen Lebens. Eine Gesellschaft ist jedenfalls nach meiner Auffassung in dem Maße gerecht, wie sie ihren Bürgern solche Lebenschancen immer wieder bietet. Aber die Gesellschaft kann vom Einzelnen auch erwarten, dass er dieses Angebot nach besten Kräften annimmt. Solidarität - jedenfalls verstehe ich das so - ist keine Einbahnstraße, sondern jeder, der Solidarität erfahren darf, sie vielleicht sogar abfordert, ist verpflichtet, das ihm Mögliche im Sinne dieser Solidarität auch der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen.

Von den Stärkeren erwarten wir, dass sie sich nicht ihrer Verantwortung für die Zukunft des Gemeinwesens entziehen und dass sie bereit sind, entsprechend ihrer Möglichkeiten ein Mehr an Aufgaben - ich betone: ein Mehr an Aufgaben - und auch an Ausgaben für das Gemeinwohl, für die Gesellschaft zu übernehmen. So verstanden, wird Gerechtigkeit zu einem Gestaltungsprinzip vorausschauender Politik: einer Politik, die den Menschen dazu befähigt, den Wandel erfolgreich mitzugestalten und eben auch für sich selbst zu nutzen. Gerechtigkeit als Vorsorgeprinzip hat weit reichende Konsequenzen für das Handeln des Staates - ob in der Arbeitswelt, in der Ausbildung oder in der Vermittlung kultureller und sozialer Beteiligungs- und Bürgerrechte. Darum investieren wir die Erträge unserer Reformpolitik in Bildung und Forschung, in eine intelligente Arbeitsmarktpolitik, in einen aktivierenden Sozialstaat und in eine moderne Gesellschaftspolitik.

Im 21. Jahrhundert wird mehr denn je der Wissensvorsprung über den Wohlstand der Nationen entscheiden. Ein Beispiel: Allein in Deutschland hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts das Arbeitsvolumen der Erwerbstätigen pro Kopf halbiert.

Zugleich hat sich das reale Bruttoinlandsprodukt pro Kopf versiebenfacht. Pro Stunde wird heute also vierzehn Mal so viel erwirtschaftet wie etwa vor 100 Jahren. Noch nie haben Menschen in so kurzer Arbeitszeit so viel Wohlstand erzeugt. Doch mit der Steigerung von Produktivität und Nationalprodukt ist es noch nicht getan. Eine gerechte Gesellschaft ist verpflichtet, alle Menschen am Wissensfortschritt, aber auch am produzierten Reichtum teilhaben zu lassen. Bildung - davon bin ich überzeugt - ist der beste Weg, um Chancengerechtigkeit und Eigenverantwortlichkeit unserer Bürgerinnen und Bürger wirklich zu stärken. Wir müssen deshalb neue Prioritäten setzen. In den kommenden Jahren werden wir mehr Kapital für die "Köpfe" und das "Können" der Menschen aufbringen müssen. Unsere Haushaltspolitik muss dafür die Grundlage bieten. Das ist übrigens der Grund für Konsolidierung, die man ruhig auch "Sparen" nennen kann.

Allein im vergangenen Jahr sind in Deutschland fast 600.000 neue Arbeitsplätze entstanden. Dennoch haben wir immer noch rund vier Millionen Erwerbslose. Das sind zwar eine Million weniger als Anfang 1998, aber das reicht eben nicht. Der weitere Abbau der Arbeitslosigkeit bleibt vordringliches Ziel. Und an diesem Ziel wollen wir uns messen lassen. Selbst, wenn wir es nicht wollten, würden wir daran gemessen. Also wollen wir es schon lieber. In unserer Gesellschaft sind Ansehen, Selbstwertgefühl und soziale Zugehörigkeit in hohem Maße an Erwerbsarbeit gebunden. Ich begrüße deshalb die katholische Initiative "Beteiligung schafft Gerechtigkeit".

Mit den Begriffen "Zukunft der Arbeit","soziale Sicherung","Bildung und Qualifizierung" sprechen Sie nach meiner Auffassung genau die Themen an, die ganz grundlegend für jede Politik sind, also auch für unsere. Für eine Politik nämlich, die den Menschen wieder ins Zentrum aller politischen Überlegungen rückt.

Auf soziale Sicherung müssen sich die Menschen besonders im Wandel verlassen können. Eine der wichtigsten Strategien des aktivierenden Sozialstaates ist also die Förderung der Familie. Eine Politik, die vom bevormundenden Staat zum aktivierenden Staat kommen will, muss die Menschen genau dort aktivieren und unterstützen, wo ihre unmittelbare Selbstverwirklichung beginnt: in der Familie. Wobei über den Begriff "Familie" wirklich gestritten werden muss. Die Familie steht im Mittelpunkt allen gesellschaftlichen Wandels. Sie ist, wenn man so will, die Keimzelle der Zivilgesellschaft.

Ob wir von der Ausbildung der Kinder sprechen oder von der Notwendigkeit, in einer älter werdenden Gesellschaft Generationengerechtigkeit zu sichern: Stets ist es die Familie, in der die wichtigen Entscheidungen getroffen werden, aber in der sich auch politische Vorgaben unmittelbar auswirken. Schließlich: Die vielleicht wichtigste und großartigste Aufgabe jeder Gesellschaft ist es, Kinder großzuziehen. Wenn Menschen gezwungen sind, zwischen einem glücklichen Familienleben und einer erfolgreichen Karriere zu wählen, haben wir alle von vorn herein verloren. Ich bin ganz sicher, dass wir, was das Übereinbringen dieser beiden Notwendigkeiten angeht, wirklich erst am Anfang sind - auch und gerade in unserer Gesellschaft.

Ob Kinder sich angenommen fühlen, Selbstwertgefühl entwickeln können, hängt entscheidend von Erfahrungen ab, die sie etwa in der Familie machen. Natürlich hat sich das, was wir unter "Familie" verstehen, im Laufe der Jahre verändert, haben sich neue Formen des Zusammenlebens herausgebildet, die wir zu respektieren haben. Aber bei aller Vielfalt wird Familie auch in Zukunft eine Aufgabe zu erfüllen haben, nämlich vor allen Dingern Kindern ein soziales Netz und, was mindestens so wichtig ist, emotionalen Rückhalt zu bieten.

Mein Politikverständnis setzt immer bei einzelnen Menschen an, bei der Frage: Wie können wir die Lebensbedingungen und Entwicklungschancen von Individuen verbessern? Denn wir wollen vor allem eines: eine Gesellschaft, die als human und lebenswert nicht nur objektiv analysiert, sondern von vielen, möglichst allen Menschen auch subjektiv so empfunden wird. Und daraus folgt eben auch: Was kann man heute für die so verstandene Keimzelle der Gesellschaft, nämlich für die Familien, tun?

Was die materielle Seite angeht, haben wir in den vergangenen zwei Jahren eine ganze Menge getan: beim Kindergeld, beim Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub oder in der Steuerpolitik. Das Kindergeld werden wir weiter erhöhen. Wir haben das versprochen, und wir werden das tun. Das allein reicht aber noch nicht aus. Es kann nämlich nicht sein, dass die Übernahme von Elternverantwortung gleich bedeutend ist mit dem Verzicht auf andere Gestaltungsmöglichkeiten. Es geht also darum, Wahlfreiheit zu ermöglichen - für junge Männer, die sich nicht ausschließlich auf den Beruf konzentrieren wollen, und für junge Frauen, die berufstätig und finanziell unabhängig sein wollen und zugleich Kinder erziehen möchten.

Eine Gesellschaft, die den Anspruch erhebt, familien- und kinderfreundlich zu sein, wird sich immer wieder fragen müssen, ob sie genügend dafür tut, dass Familie und Beruf in der Praxis auch wirklich zu vereinbaren sind. Mit gezielten Maßnahmen bei Bildung und Qualifizierung für Mädchen und junge Frauen haben wir deren Berufsperspektiven deutlich verbessert. Mit dem Recht auf Teilzeitarbeit sorgen wir für mehr Gerechtigkeit und Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt. Aber - das gilt es anzumerken - bei der Kinderbetreuung, bei Horten, Krippen oder Ganztagsschulen haben wir in Deutschland, in diesem reichen Deutschland, noch einen gewaltigen Nachholbedarf. Da sind - ich sage jetzt "Gott sei Dank" - vor allem die Kommunen und Länder in der Pflicht, aber was das Aufbringen der Leistungen insgesamt angeht, geht das schon die gesamte Gesellschaft an.

Was muss Politik heute bewahren, was muss sie verändern? Für mich gibt es keinen Zweifel: Zukunftsfähig ist nur die Politik, die auf Nachhaltigkeit, Partnerschaft und Partizipation setzt. Hier gibt es übrigens viele Übereinstimmungen mit beiden christlichen Kirchen, denn nur die Realisierung dieser Begrifflichkeiten und deren Inhalte schafft jenes Maß an Zusammenhalt in der Gesellschaft, auf das wir angewiesen sind, wenn wir bei der Tendenz zu fortschreitender Individualisierung nicht verloren gehen wollen und nicht verlieren wollen. Früher wurde Nachhaltigkeit zum Beispiel nur auf Umwelt reduziert. Heute sprechen wir - aus guten Gründen - von einer nachhaltigen Finanzpolitik, die Schluss macht mit einer Schuldenpolitik, weil das auf Kosten unserer Kinder und Enkel geht und gehen muss. Wir reden nicht nur darüber, sondern wir haben eine nachhaltige Rentenpolitik eingeleitet, die für die Jungen die Beiträge bezahlbar hält, sodass die Flucht aus der Solidarität nicht einsetzt, und sie für die Älteren hinreichend - wie man das in einer Gesellschaft überhaupt kann - sicher macht. Wir haben die Wende begonnen zu einer nachhaltigen Landwirtschafts- und Ernährungspolitik, die den Verbraucherschutz und gesunde Nahrungsmittel in den Vordergrund stellt.

Unser größtes Potenzial für die Zukunft sind - und werden es bleiben - die Leistungsbereitschaft und die Talente der Menschen in unserem Land. Wenn ich etwa höre, dass deutsche Wissenschaftler ins Ausland gehen, um dort die Forschungsbedingungen vorzufinden, die sie brauchen, dann möchte ich mich mit dieser Entwicklung nicht auf Dauer abfinden. Da müssen wir nacharbeiten. Die Grenzen in der Welt sind sehr viel durchlässiger geworden. Das fördert auf der einen Seite Frieden, Handel und Wohlstand, aber es verschärft auch den Wettbewerb, zum Beispiel den Wettbewerb um die besten Köpfe.

Mit dem, was man Green-Card-Regelung nennt - weil ich es erfunden habe, hätte ich lieber "Red Card" - , haben wir schnell und unbürokratisch gehandelt, um beispielsweise akuten Fachkräftemangel im IT-Bereich zu lindern. Die so genannte Green Card ist zu einem Erfolg geworden. 6.000 Menschen haben eine solche Card bekommen. Daraus sind 15.000 neue - zusätzliche - Arbeitsplätze entstanden, weil es einer Erfahrung entspricht, dass jeder dieser hoch bezahlten Spezialisten dafür sorgt, dass ungefähr drei neue Arbeitsmöglichkeiten für andere Menschen geschaffen werden. Die Green Card entbindet die Wirtschaft jedoch nicht von ihrer Verpflichtung, junge Menschen aus unserem Land auszubilden - übrigens nicht nur junge Menschen, sondern auch ältere Menschen - , sie weiterzubilden und zu qualifizieren. Nur wer ausbildet und weiterbildet, leistet ein Stück Zukunftsvorsorge für sich und die Gesellschaft.

Zukunftsfähigkeit, ist immer auch eine Abwägung zwischen dem Machbaren und dem Verantwortbaren. Und Verantwortung trägt ein Politiker nicht nur für die Folgen seines Handelns, sondern auch für die Folgen seines Nicht-Handelns. Zu einer zukunftsfähigen Politik gehört es, kontrovers diskutierte, ethische Themen mit Augenmaß anzugehen, aber auch überhaupt anzugehen.

Dies gilt in besonderer Weise - Sie haben darauf hingewiesen, verehrter Herr Kardinal - für die Gentechnik. Das ist ein Gebiet, bei dem große Hoffnungen auf erhebliche Befürchtungen treffen: Hoffnungen in der Medizin auf verbesserte Diagnostik und Therapie bis hin zur Heilung bislang als unheilbar geltender Krankheiten, aber auch Erwartungen auf wirtschaftliches Wachstum und zukunftsfähige Arbeitsplätze.

Deswegen sage ich auch hier ganz deutlich: Ohne einen Spitzenplatz in der Bio- , Gen- und Medizintechnik werden wir die Potenziale unserer Wirtschaft in Zukunft nicht ausschöpfen können. Unseren Kindern und Enkeln gegenüber wäre auch das eine Form von Verantwortungslosigkeit. Es ist - lassen Sie mich das hinzufügen - eben nicht unethisch, sich auch über die Frage Gedanken zu machen, was es für die Entwicklung unserer Gesellschaft, für die Wohlfahrt ihrer Menschen bedeutet, wenn man ökonomische Chancen nicht nutzt - mit welcher überzeugenden Begründung auch immer. Der Umkehrschluss gilt ebenfalls: Es ist durchaus auch eine ethische Kategorie, sich Gedanken über die Frage zu machen, wie man in einer Industriegesellschaft wie der unseren möglichst allen Menschen eine gerechte Teilhabe an einem wachsenden Wohlstand verschaffen kann - oder auch nicht.

Ich meine deswegen, dass wir diese Diskussion auch unter diesem Aspekt führen müssen. Ich weiß wohl: Dagegen stehen Befürchtungen, dass die neuen Technologien nicht beherrschbar sind, dass sie zur "Selektion von Menschen", zur Diskriminierung auf Grund der genetischen Disposition missbraucht werden könnten. Bei der Gentechnik müssen wir auch die Furcht vor dem Unbeherrschbaren berücksichtigen.

Hier also ist Politik in hohem Maße gefordert, Verantwortung für die mögliche Nutzung der neuen Technologien zu übernehmen. Die mit der Nutzung und Anwendung der Gentechnik zusammenhängenden Fragen rühren - das ist allemal klar - an das Innerste unseres Selbstverständnisses. Das geht jedem so. Denn noch nie waren Menschen mit der Möglichkeit konfrontiert, gewissermaßen ihre eigene Substanz nachbauen und damit auch "planen" zu können. Deswegen werde ich mich weiter dafür einsetzen, eine breite gesellschaftliche Debatte über die Gentechnik in Gang zu halten. Die Beiträge, die die christlichen Kirchen dazu leisten können und leisten wollen, sind ganz wichtige Beiträge. Es geht um die Grenzen zwischen dem wissenschaftlich-medizinischen Fortschritt und dem Schutz des Rechtes auf Leben und auf Menschenwürde. Dafür brauchen wir eine Diskussion, die von Respekt vor den widerstreitenden Positionen, aber auch von Redlichkeit geprägt ist.

Ich habe in den letzten Monaten viele Gespräche geführt - mit Vertretern der Natur- und der Geisteswissenschaften, mit Forschern und Medizinern, mit der Deutschen Bischofskonferenz und dem Rat der EKD. In den Kernfragen, so denke ich, besteht Konsens darüber, was wir nicht wollen, nämlich den geklonten, den optimierten, den genetisch selektierten Menschen. Das wollen wir nicht. Gentechnik ist ein Thema, das uns alle angeht. Am Ende wird die Gesellschaft zu entscheiden haben, was sie für verantwortbar hält. Das aber setzt Information voraus, umfassende Information. Daran mangelt es nicht völlig, aber noch ein ganz gutes Stück, und das müssen wir ändern. Das ist der Grund, warum ich in den nächsten Wochen einen nationalen Ethikrat berufen werde.

Der Ethikrat wird kein geschlossener Zirkel sein, sondern ein dauerhaftes Forum des Dialogs, in dem sich die verschiedenen wissenschaftlichen, gesellschaftlichen, philosophischen und theologischen Positionen wieder finden. Nur eine Gesellschaft, die Bescheid weiß und offen über die Optionen diskutieren kann, ist in der Lage, über eine so schwer wiegende Zukunftsfrage wie die Nutzung der Gentechnik zu entscheiden. Ich bin sicher, dass der nationale Ethikrat dazu beitragen wird, die Diskussion um die Gentechnik viel intensiver und transparenter zu führen, als das in der Vergangenheit der Fall war.

Nun werde ich gelegentlich gefragt: Warum beruft eigentlich der Bundeskanzler ein solches Gremium? Ich will Ihnen sagen, warum: Der nationale Ethikrat soll natürlich die öffentliche Debatte anstoßen, begleiten und immer wieder befruchten. Er soll nach meiner Vorstellung aber auch Einfluss nehmen können auf konkrete politische Entscheidungen, die anstehen oder anstehen werden. Deswegen darf der nationale Ethikrat von der operativen Politik nicht abgeschnitten sein, sondern muss diejenigen erreichen können, die wirklich zu entscheiden haben, weil dies das Maß an Verbindlichkeit seiner Empfehlungen erhöht. Und darum muss es uns gehen beziehungsweise auch gehen. Denn was wäre die Alternative? Es wäre vielleicht doch eher ein einflussloser Expertenzirkel, möglicherweise ein bisschen im Elfenbeinturm. Dieses Schicksal haben diejenigen, die sich bereits bereiterklärt haben mitzuarbeiten, wahrlich nicht verdient.

Ein weiteres Missverständnis will ich an dieser Stelle gleich ausräumen. Berufung durch den Bundeskanzler bedeutet nicht, dass der nationale Ethikrat am Gängelband der Regierung - wer immer sie stellt - geführt würde. Die Bundesregierung schreibt den Mitgliedern des Ethikrates nicht vor, was sie zu denken oder zu sagen haben. Das könnten wir nicht, und das wollen wir vor allem auch nicht. Sie sind unabhängig, und genau darauf lege ich sehr großen Wert. Um das deutlich zu machen, wird die Geschäftsstelle des Ethikrates nicht beim Bundeskanzleramt, sondern bei der Akademie der Wissenschaften in Berlin angesiedelt. Auch das soll klar machen, dass wir unbeeinflusste Debatten wollen - unbeeinflusst von Politik - sowie unbeeinflusste und nicht bestellte Beratung.

Bewahren und Verändern - ich hoffe, das ist deutlich geworden - sind für mich keine einander widersprechenden Zielvorgaben. Wer zur Veränderung nicht bereit ist, wird die Werte, die er bewahren will, eher aufs Spiel setzen. Und wer sich bei der Veränderung nicht von festen Prinzipien leiten lässt, würde die Gesellschaft schutzlos den Beschleunigungskräften einer wie auch immer gearteten Globalisierung überlassen. Auch das ergibt keine vernünftige Politik; beides wäre nicht zukunftsfähig.

Deshalb - ich fand es schön, dass man mir das aufgeschrieben hat - möchte ich mit einem Satz von Lampedusa schließen, der einen besonders großen Roman geschrieben hat. Dort hat er geschrieben: Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, dass alles sich verändert."

Das scheint mir nicht ganz falsch zu sein. Dies einigermaßen in Bewegung zu setzen, ist vor allen Dingen die Aufgabe derjenigen, die sich nicht nur für sich selbst und für ihre Familien, sondern auch für den Zusammenhalt der Gesellschaft verantwortlich fühlen.