Redner(in): Monika Grütters
Datum: 07. Oktober 2016

Untertitel: Kulturstaatsministerin Grütters lobte die Ausstellung als ein Beispiel für die exzellente Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Großbritannien in der Kultur. Sie zeichne ein umfassendes und ausgewogenes Bild deutscher Geschichte und zeige auch sonst verborgene Facetten deutscher Identität. - Die Rede im Wortlaut:
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2016/10/2016-10-07-gruetters-britischer-blick.html


Kulturstaatsministerin Grütters lobte die Ausstellung als ein Beispiel für die exzellente Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Großbritannien in der Kultur. Sie zeichne ein umfassendes und ausgewogenes Bild deutscher Geschichte und zeige auch sonst verborgene Facetten deutscher Identität. - Die Rede im Wortlaut:

Uns Deutschen eilt bis heute ein Ruf voraus, den Heinrich Heine einmal so beschrieben hat: "Die Deutschen", konstatierte er,"haben die merkwürdige Angewohnheit, dass sie bei allem, was sie tun, sich auch etwas denken." Deshalb sind wir berühmt-berüchtigt als notorische Nörgler, grüblerische Geister und bisweilen auch als belehrende Bescheidwisser. Wer sich da im Ausland aufmacht, 600 Jahre deutsche Geschichte zu durchstreifen und seinen Landsleuten anhand von 200 Objekten der Kulturgeschichte die deutsche Seele nahe zu bringen, muss schon mehr als ein Deutschland-Versteher sein:

Er muss ein wahrer Deutschland-Liebhaber sein.

Genau das war mein Eindruck, als ich zusammen mit Neil MacGregor, damals noch Direktor des British Museum, vor ziemlich genau zwei Jahren in London die Ausstellung "Germany: Memories of a Nation" eröffnen durfte. Mich hat damals nicht nur die Vielfalt der Exponate begeistert, die sich zu einem differenzierten Bild der Kulturnation Deutschland zusammenfügen. Sehr berührt hat mich vor allem die Haltung, die aus diesem Bild spricht: der Anspruch, ein umfassendes und ausgewogenes Bild deutscher Geschichte zu zeichnen - und das auch noch im Jahr 2014, das durch die Häufung herausragender Gedenktage zu Recht von den Erinnerungen an das unfassbare Leid geprägt war, das Deutschland im 20. Jahrhundert über Europa gebracht hat. Das British Museum holte Facetten deutscher Identität ins Licht der Öffentlichkeit, die im dunklen Schatten unserer nationalsozialistischen Vergangenheit oft unsichtbar bleiben.

Deshalb freue ich mich sehr, dass die vielfach hoch gelobte Ausstellung nun unter dem Titel "Der Britische Blick: Deutschland - Erinnerungen einer Nation" leicht überarbeitet endlich auch in Berlin zu sehen ist. Sie hat in Großbritannien viel Interesse für deutsche Geschichte und Kultur geweckt, und ich bin sicher: Sie kann auch hier in Berlin zum Perspektivenwechsel beitragen und die ( angesichts der gegenwärtigen politischen Lage ja gerade sehr aktuelle ) Diskussion darüber bereichern, was uns als Deutsche und als Europäer ausmacht. Dafür danke ich Neil MacGregor, der heute Morgen zwar bei der Pressekonferenz geredet hat, heute Abend aber - was lange bekannt war -wegen eines Vortrags beim Wissenschaftskolleg leider nicht hier sein kann, und ich danke auch Ihnen, verehrter Herr Cook, dem Kurator der Ausstellung.

Als britischer Blick auf Deutschland und als Einladung zum Perspektivenwechsel und zur Völkerverständigung steht die Ausstellung exemplarisch für die zahlreichen exzellenten Kulturkooperationen, die Großbritannien und Deutschland - zum Glück! - auch in diesen nicht einfachen Zeiten des Umbruchs in der Europäischen Union verbinden. Mir ist sehr daran gelegen, dass Deutschland und Großbritannien im regen kulturellen Austausch ihre in gemeinsamen Werten wurzelnde Freundschaft pflegen. Ein herzliches Dankeschön deshalb auch den kooperierenden Einrichtungen, die - wie beispielsweise das Deutsche Historische Museum - Exponate als Leihgaben zur Verfügung gestellt haben, und natürlich Ihnen, lieber Herr Professor Sievernich, für die gelungene Präsentation im Martin-Gropius-Bau. Ich freue mich, dass ich Sie dabei mit zusätzlichen Mitteln aus meinem Kulturetat unterstützen konnte. Der Martin-Gropius-Bau erweist sich dabei einmal mehr als Schaufenster für herausragende internationale Projekte in Berlin, die kaum irgendwo sonst in einem so großen und ihrer Bedeutung angemessenen Rahmen gezeigt werden können. Deshalb plane ich, den Etat für den Martin-Gropius-Bau um 500.000 Euro zu erhöhen.

Unter den Exponaten, die Ihnen beim Rundgang durch die Ausstellung als "Erinnerungen einer Nation" begegnen, meine Damen und Herren, sind zahlreiche Objekte, die zwar im kollektiven Gedächtnis der Deutschen gespeichert sind, die Deutschland in Großbritannien aber in völlig neuem Licht erscheinen ließen - das Wägelchen zum Beispiel, mit dem eine Flüchtlingsfamilie aus Ostpommern nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Habseligkeiten nach Westen transportierte. Vielen Briten war die Vertreibungsgeschichte der Deutschen nicht bewusst."Dieser Handwagen" - so formulierte es Neil MacGregor in einer Rede - "hat das frühere Deutschlandbild vertieft und nuanciert. Hat ihm eine bisher unbekannte, rein menschliche Dimension gegeben." Mich persönlich hat vor zwei Jahren in London ein anderes Exponat ganz besonders berührt: Ernst Barlachs "Der Schwebende", eine Bronze-Engel mit den Gesichtszügen der Künstlerin Käthe Kollwitz, entstand 1927 zum Gedenken an die Toten des Ersten Weltkriegs. Er wurde 1937 als entartete Kunst von den Nationalsozialisten eingeschmolzen, überlebte aber das Dritte Reich in zwei späteren Abgüssen: einer in Ost- und einer in Westdeutschland. Für mich war es ein Gänsehaut-Moment, den Barlach-Engel als Schlusspunkt der Ausstellung "Germany: Memories of a Nation" zu sehen. Ich hätte ihn dort nicht erwartet, und doch gehört er genau dorthin mit seiner Geschichte, die das ganze präzedenzlose Leid des 20. Jahrhunderts spiegelt. Er erzählte unseren britischen Nachbarn von den Toten des Krieges, von den Schrecken einer barbarischen Diktatur, von der deutschen Teilung. Wie auch der Handwagen der Flüchtlingsfamilie trug er in London zum Verstehen deutscher Vergangenheit bei. Verstehen ermöglicht Verständnis, und Verständnis ist die Voraussetzung für Verständigung. So werden aus historischen Zeugnissen Botschafter der Versöhnung und der Hoffnung.

Heute sieht sich Deutschland als Partner in Europa und der Welt. Unser Bekenntnis zu einem vereinten Europa verbinden wir mit der großen Hoffnung, dass auch und gerade Großbritannien in Europa trotz Brexit weiterhin eine starke Stimme sein möge. Wir brauchen Großbritannien mit seiner langen Tradition der Demokratie und der Freiheit, um den Kulturraum Europa mit Leben zu erfüllen. Gerade uns Deutschen ist sehr daran gelegen, denn Großbritannien hat entscheidend dazu beigetragen, dass das politisch und wirtschaftlich zerstörte und auch moralisch verwüstete Deutschland nach dem 2. Weltkrieg wieder auf die Beine kam. Das werden wir den Briten niemals vergessen!

Wie gegenwärtig dieses Geschenk Großbritanniens immer noch ist, illustriert ein bemerkenswerter Bucherfolg: Der Zufall wollte es, dass in Deutschland just zur Eröffnung der Ausstellung "Memories of a Nation" in London vor zwei Jahren ein Zeitdokument auf den Bestsellerlisten landete, das die britische Sicht auf die Deutschen aus der Perspektive der Besatzer in den 1940er Jahren offenbart."Instructions for British Servicemen in Germany 1944", heißt das schmale Büchlein, das vom britischen Außenministerium rund fünf Monate nach der Landung der Westalliierten in der Normandie gedruckt wurde, um den Soldaten im feindlichen deutschen Gebiet Orientierung zu geben und sie auf ihre Aufgaben vorzubereiten. Darin finden sich teils kuriose Beobachtungen, etwa diese: "Sie sehen aus wie wir, nur dass es den drahtigen Typus seltener gibt, sondern eher große, fleischige, hellhaarige Männer und Frauen ( … ) ." Die Deutschen wüssten nicht, wie man Tee zubereitet, verstünden aber durchaus etwas von Kaffee, heißt es außerdem, und auf Befremden stößt die deutsche Sentimentalität: "Selbst kinderlose alte Ehepaare bestehen auf ihrem eigenen Weihnachtsbaum." Vor allem aber, und das macht die Lektüre so berührend, wirbt diese Schrift selbst im Angesicht der Gräuel, die Deutschland zu verantworten hat, für demokratische Zivilisiertheit, für Fairness und Humanität, ich zitiere aus dem englischen Original: "It is good for the Germans ( … ) to see that soldiers of the British democracy are self-controlled and self-respecting, that in dealing with a conquered nation they can be firm, fair and decent. The Germans will have to become fair and decent themselves, if we are to live with them in peace later on."

Das Gedenken und die systematische Aufarbeitung unserer Vergangenheit sind heute ein maßgeblicher Teil unserer Kulturpolitik und unseres nationalen Selbstverständnisses. Wir haben Freiheit und Demokratie in Deutschland schätzen und lieben gelernt. Großbritannien hat alles in seiner Möglichkeit stehende getan, uns dabei zu helfen. Dadurch sind unsere Nationen sich wieder nahe gekommen. Umso trauriger bin ich als glühende Europäerin, dass Großbritannien - ausgerechnet unser naher Nachbar Großbritannien! - die Europäische Union verlässt und dass Europa sich gegenwärtig so schwer tut, in Krisenzeiten zusammen zu stehen. Möge die Ausstellung uns und all ihren Besucherinnen und Besuchern bewusst machen, wie kostbar Partnerschaft und Zusammenhalt in Europa sind!