Redner(in): Monika Grütters
Datum: 23. April 2017

Untertitel: In Bergen-Belsen hat Kulturstaatsministerin Grütters einen Missbrauch der Erinnerungskultur kritisiert. "Wir widersprechen mit aller Entschiedenheit, wenn neue politische Kräfte in unserem Lande aus der Hetze gegen den Umgang Deutschlands mit seiner Geschichte politischen Profit für ihre nationalistische Ideologie zu schlagen versuchen." Mit Blick auf immer weniger Zeitzeugen seien neue Wege der Vermittlung nötig. Gerade für kommende Generationen seien authentische Gedenkstätten als Lernorte wichtig.
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2017/04/2017-04-23-bkm-bergen-belsen.html


In Bergen-Belsen hat Kulturstaatsministerin Grütters einen Missbrauch der Erinnerungskultur kritisiert."Wir widersprechen mit aller Entschiedenheit, wenn neue politische Kräfte in unserem Lande aus der Hetze gegen den Umgang Deutschlands mit seiner Geschichte politischen Profit für ihre nationalistische Ideologie zu schlagen versuchen." Mit Blick auf immer weniger Zeitzeugen seien neue Wege der Vermittlung nötig. Gerade für kommende Generationen seien authentische Gedenkstätten als Lernorte wichtig. 15. April 1945, Bergen-Belsen. Ein Jeep fährt ein in die Unterwelt. Ein MP-Seargent mit roter Mütze, rötlichblondem Bärbeißer-Schnurrbart, lässt sich durch einen Lautsprecher vernehmen: , Von diesem Tag an steht das Lager unter dem Schutz der Streitkräfte Seiner Britischen Majestät. ‘ Ein jeder Schattenmensch fühlte sich direkt angeredet von dieser Majestät. Ein jeder, der noch einen Funken Leben hatte, vergoss oder verdrückte ein paar Dankestränen."So schilderte der österreichische Schriftsteller Jean Améry den Moment der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen vor 72 Jahren, und man spürt in dieser distanzierten Beobachtersprache, wie schwer es den körperlich und seelisch ausgezehrten Überlebenden - Schatten ihrer selbst - gefallen sein muss, aus jenem letzten" Funken Leben " noch irgendeine Empfindung, und sei es auch einfach nur Dankbarkeit, aufzubringen.

Für die Befreier muss die Konfrontation mit der "Unterwelt" - wie Jean Améry es formuliert hat - ein grauenvoller, sich für ewig ins Gedächtnis brennender Anblick gewesen sein: Tausende nicht bestattete Leichen. Todkranke Menschen, zu Skeletten abgemagert. Ein britischer Sanitätsoffizier beschrieb das Lager, das anders als andere Konzentrationslager vor der Befreiung nicht evakuiert worden war, als "den entsetzlichsten Ort", den er je gesehen habe - ein Ort, an dem Kriegsgefangene zugrunde gerichtet worden waren; ein Ort, an den ab 1943 jüdische, später auch kranke Häftlinge deportiert wurden; ein Ort, der schließlich Ziel von Räumungstransporten aus anderen Konzentrationslagern wurde; ein Auffang- und Sterbelager für politische Häftlinge, aber unter anderem auch für Sinti und Roma, Homosexuelle, polnische Häftlinge; ein Ort des Massensterbens durch Hunger, Erschöpfung und Epidemien. Der Toten wie auch der Überlebenden, die an diesem Ort der Qualen durch die Hölle gegangen sind, gedenken wir heute, da sich der Tag der Befreiung Bergen-Belsens im April zum 72. Mal jährt. Im Erinnern wollen wir ihnen, die von den Nationalsozialisten entrechtet und verfolgt, gepeinigt und ermordet wurden, Raum in unserem Leben, in unserem Denken, Fühlen und Handeln geben.

Zahlreiche Überlebende haben über die Jahrzehnte den Mut und die Kraft gefunden, ihre Erinnerungen mit uns, den Nachgeborenen, zu teilen, und die "Schattenmenschen", die Jean Améry beschrieben hat, damit ins Licht der Wahrnehmung als Menschen zurück zu holen. Ich bin dankbar, dass einige von ihnen heute mit ihren Angehörigen unter uns sind. Wie schwer mag es Ihnen fallen, meine Damen und Herren, an diesen Ort zurück zu kehren, an dem man Ihnen einst alles genommen hat bis auf die nackte Existenz! Umso mehr liegt es mir am Herzen, dass Sie wissen, wie viel uns Ihre Kraft, Zeuginnen und Zeugen der schmerzhaften, historischen Wahrheit zu sein, bis heute bedeutet. Ihre persönlichen Erinnerungen vermitteln nicht nur das notwendige Wissen, was unter nationalsozialistischer Terrorherrschaft geschehen ist, sondern sprechen in besonderer Weise auch das moralische Empfinden an. Wenn Sie erzählen, bleibt der Zivilisationsbruch des Holocaust kein Kapitel im Geschichtsbuch, sondern wird zum Blick in den Spiegel des Menschseins: zur Konfrontation mit der Unmenschlichkeit, zu der Menschen imstande sind und die deshalb jeden Menschen immer auch persönlich etwas angeht. Diese Einsicht brauchen wir, um der immerwährenden Verantwortung für die Erinnerung an die Opfer gerecht zu werden, die das von Deutschen verschuldete, unermessliche Leid und Unrecht uns auferlegt.

Deshalb widersprechen wir mit aller Entschiedenheit, wenn neue politische Kräfte in unserem Land unsere Erinnerungskultur, an der unsere Gesellschaft und unsere Demokratie gereift sind, für parteipolitische Zwecke missbrauchen und aus der Hetze gegen den Umgang Deutschlands mit seiner Geschichte politischen Profit für ihre nationalistische Ideologie zu schlagen versuchen. Und deshalb werden wir auch weiterhin unser Möglichstes tun, um Menschen vor eben dieser Ideologie des Eigenen zu warnen, die in der Abwertung des Anderen Rassismus nährt, Ausgrenzung fördert, und die einst unermessliches Leid über Deutschland und Europa gebracht hat.

Weil es 72 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager immer weniger Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gibt, werden Lernorte wie die Gedenkstätte Bergen-Belsen dafür immer wichtiger, gerade für die junge Generation. Sie klären auf, informieren und vergegenwärtigen das Geschehene dabei mit der Eindringlichkeit des authentischen Ortes, der sichtbar die Spuren des in Worten und Zahlen so schwer Fassbaren trägt. Deshalb erhält und fördert die Bundesregierung Gedenkstätten und Erinnerungsorte, und ich bin dankbar, dass die vor Ort Verantwortlichen so wie Sie, lieber Herr Dr. Wagner, und Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - mit viel Sachverstand, Empathie und Engagement an neuen Konzepten und Angeboten der Vermittlung arbeiten. Es freut mich, dass wir Ihre Trägerstiftung, die Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten, im Rahmen der Gedenkstättenkonzeption des Bundes in den kommenden Jahren mit zwei neuen Projektförderungen unterstützen können.

Neue Wege der Vermittlung brauchen wir heute nicht zuletzt auch deshalb, weil Deutschland in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten Heimat für Millionen von Menschen geworden ist, deren Wahrnehmung und Einstellungen von einem in ihren Herkunftsländern weit verbreiteten Antisemitismus geprägt sind. Die in vielerlei Hinsicht bereichernde Vielfalt einer weltoffenen Gesellschaft ist eben nicht in jeder Hinsicht unproblematisch: In der Frage der Anerkennung der Lehren, die Deutschland aus der verbrecherischen Herrschaft der Nationalsozialisten gezogen hat, darf es keine "Vielfalt" geben - hier gibt es nur eine einzige Haltung: Die Aufarbeitung des Holocaust und die Versöhnung zwischen Deutschen und Juden sind Teil unseres Selbstverständnisses und nicht verhandelbar. Das müssen wir allen vermitteln, die in Deutschland leben wollen. Das bedeutet zum Beispiel, klare Worte zu finden und einzuschreiten, wenn jüdische Kinder in der Schule gemobbt werden oder ein Rabbiner wegen seiner Kippa von Jugendlichen auf der Straße angepöbelt, gar zusammengeschlagen wird. Deutschland darf nie wieder ein Land sein, in dem Menschen jüdischen Glaubens Gewalt und Diskriminierung von wem auch immer schutzlos ausgesetzt sind! Einmal wird dieser schreckliche Krieg doch aufhören, einmal werden wir auch wieder Menschen und nicht allein Juden sein ", schrieb Anne Frank im April 1944 in ihr Tagebuch. Sie selbst starb hier in Bergen-Belsen an Typhus, wenige Wochen vor der Befreiung. Ihr Tagebuch ist geblieben und berührt nach wie vor Millionen Menschen in Deutschland und weltweit. Geblieben ist auch ihr unerschütterlicher Glaube an Humanität und an die Möglichkeit eines friedlichen Zusammenlebens. Ihre Hoffnung, dass das Gemeinsame über dem Trennenden stehen möge, dass der Mensch wichtiger ist als seine Herkunft oder Religion, bleibt unsere immerwährende Verpflichtung!