Redner(in): Monika Grütters
Datum: 01. Juni 2017
Untertitel: 34 Einrichtungen haben sich in Berlin zusammengeschlossen, um die deutsche Demokratie- und Freiheitsgeschichte lokal, regional und deutschlandweit zu fördern. Kulturstaatsministerin Grütters unterstützt dieses Ziel. "Ein würdiges und ihrer Bedeutung für unser Selbstverständnis angemessenes Gedenken an unsere Freiheits- und Demokratiegeschichte braucht seinen Platz in unserer Erinnerungskultur."
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2017/06/2017-06-01-bkm-demokratische-Orte.html
34 Einrichtungen haben sich in Berlin zusammengeschlossen, um die deutsche Demokratie- und Freiheitsgeschichte lokal, regional und deutschlandweit zu fördern. Kulturstaatsministerin Grütters unterstützt dieses Ziel."Ein würdiges und ihrer Bedeutung für unser Selbstverständnis angemessenes Gedenken an unsere Freiheits- und Demokratiegeschichte braucht seinen Platz in unserer Erinnerungskultur." Geschichte wiederholt sich nicht, aber wir können aus ihr lernen."Mit diesem Satz beginnt das schmale Büchlein" Über Tyrannei ", das gerade auf Deutsch erschienen ist. Sie kennen es vielleicht, auch wenn es sich mit seinen zugespitzten Formulierungen gerade nicht an Experten richtet, sondern an Bürgerinnen und Bürger, die das weltweite Erstarken der Populisten, Nationalisten und Demokratieverächter mit Sorge beobachten. Der renommierte amerikanische Historiker Timothy Snyder verdichtet die Erfahrungen aus der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts - aus dem Scheitern der Demokratie in den 1920er, 1930er und 1940er Jahren - darin zu" 20 Lektionen für den Widerstand "gegen Demagogen und Autokraten. Die Geschichte", heißt es darin,"ermöglicht es uns, Muster zu erkennen und Urteile zu fällen. ( ... ) Geschichte erlaubt uns, verantwortlich zu sein: nicht für alles, aber für etwas." Zweifellos sind es vor allem die bitteren Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, die für ein "Wehret den Anfängen!" gleichermaßen praktische Anleitung wie überzeugende Argumente liefern, indem sie es uns ermöglichen, Muster der Tyrannei zu erkennen. Doch was uns "erlaubt, verantwortlich zu sein", was uns erlaubt, Handlungsspielräume zu erkennen und Gefühle der Ohnmacht zu überwinden - , ist auch und gerade die Erinnerung an demokratische Sternstunden und demokratische Hoffnungsträger: an Momente, in denen demokratische Werte den Sieg davon getragen haben, und an Menschen, deren Mut, Zuversicht und Weitsicht diesen Siegen den Weg bereitet haben.
Deshalb begrüße ich Ihren Entschluss, meine Damen und Herren, den Einrichtungen und Orten, die an unsere Freiheits- und Demokratiegeschichte und an ihre Protagonisten erinnern, gemeinsam mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Vielen Dank für diese Initiative, vielen Dank für die Bereitschaft, die Kräfte Ihrer Einrichtungen zu vereinen, um im Sinne Ihres "Hambacher Manifests" den Weg von der Wiege der deutschen Demokratie bis zu einem demokratischen, wiedervereinten Deutschland nachzuzeichnen.
Es gehört zu den Besonderheiten der deutschen Geschichte, dass Deutschlands Entwicklung zu einem freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaat angesichts zahlreicher Umwege und Irrwege, Brüche und Abgründe selbst im Rückblick schwer als durchgängiger Weg erkennbar ist. Ja, nach all dem Leid, das Deutschland im 20. Jahrhundert über Europa und die Welt gebracht hat, ist es geradezu undenkbar, die nationalsozialistische Diktatur schlicht als dunkles Kapitel in einer nationalen Demokratie- und Freiheitsgeschichte, als vorübergehende Abkehr vom rechten Weg zu betrachten und die kommunistische Diktatur als Umweg in ein geeintes, demokratisches Deutschland. Mit einem solchen Geschichtsbild, in dem Gewalt und Grauen schlicht ihren Platz neben anderen Erinnerungen einnähmen, würden wir weder den Opfern der nationalsozialistischen Terrorherrschaft und des kommunistischen Unrechtsregimes gerecht, noch der immerwährenden Verantwortung aller nachfolgenden Generationen, für die Gegenwart Lehren aus den beiden totalitären Systemen, aus ihren Unterschieden und Gemeinsamkeiten zu ziehen.
Die doppelte Diktaturerfahrung Deutschlands im 20. Jahrhundert hat deshalb aus guten Gründen eine herausgehobene Bedeutung in der Erinnerungspolitik: Wir sind und bleiben dies den Opfern schuldig, und wir ziehen aus der doppelten Diktaturerfahrungen unsere Lehren, unsere "Lektionen für den Widerstand" gegen totalitäre Ideologien um Timothy Snyders Formulierung nochmals aufzugreifen. Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes soll in diesem Sinne dazu beitragen, das Vergangene als das wieder Mögliche zu erkennen: Sie soll den Blick schärfen für Entwicklungen, die einst zu Antisemitismus, Rassismus und Ausgrenzung, zu Krieg und Vernichtung, zu Gewalt und Unterdrückung geführt haben. Dafür brauchen wir in besonderer Weise die Zeugnisse und die authentischen Gedenkorte aus dieser Zeit, um deren Erhalt sich Bund und Länder in Deutschland gemeinsam kümmern ein Engagement, das wir im Rahmen der Gedenkstättenkonzeption stetig weiter entwickeln und an die Erfordernisse der Gegenwart anpassen: an den sukzessiven Abschied von den Zeitzeugen beispielsweise, der uns zwingt, neue Formen lebendiger Erinnerung und eindringlicher Vermittlung zu entwickeln, die ohne die Wirkmacht persönlicher Erfahrungen auskommen; aber auch an die wachsende Zahl von Menschen in unserem Land, die weil zu jung oder nach Deutschland eingewandert keine persönlichen Bezüge zu den totalitären Diktaturen im 20. Jahrhundert haben.
Angesichts der besonderen Verantwortung und Herausforderungen, mit denen die nationalsozialistische Terrorherrschaft einerseits und das SED-Unrechtsregime andererseits die Erinnerungspolitik konfrontieren, ist mir sehr daran gelegen, dass die zweifellos wichtige und für unser Selbstverständnis unverzichtbare Erinnerung an unsere Demokratiegeschichte dazu weder tatsächlich noch gefühlt in ein Konkurrenzverhältnis tritt. Das kann auch nicht in Ihrem Sinne sein, meine Damen und Herren: Dem berechtigten und unterstützenswerten Anliegen, anhand der Orte deutscher Demokratie-geschichte die knapp 200-jährige Geschichte eines Kampfes um Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Demokratie stärker im öffentlichen Bewusstsein zu verankern, wäre gewiss nicht gedient, wenn auch nur der Eindruck entstünde, dass damit das Gewicht des Gedenkens an den Holocaust und an die Opfer totalitärer Diktaturen relativiert werden soll oder relativiert werden könnte. Deshalb bin ich der Meinung, dass die Fördermittel im Rahmen der Gedenkstättenkonzeption des Bundes weiterhin der aufklärenden Erinnerung an Nationalsozialismus und SED-Herrschaft vorbehalten bleiben sollten und dass wir auf diese Weise die besondere Bedeutung unterstreichen sollten, die wir der Aufarbeitung zweier totalitärer Diktaturen beimessen.
Dennoch braucht ein würdiges, ihrer Bedeutung für unser Selbstverständnis angemessenes Gedenken an unsere Freiheits- und Demokratiegeschichte seinen Platz in unserer Erinnerungskultur - und hier leisten Sie alle, vielfach mit Unterstützung des Bundes, ja auch hervorragende Arbeit. Dass wir Deutschen gerade im Umgang mit prägenden freudigen und hoffnungsvollen historischen Ereignissen trotzdem durchaus noch Nachholbedarf haben, zeigen die Erfahrungen mit dem Freiheits- und Einheitsdenkmal. Glücklich, ja vielleicht sogar stolz und selbstbewusst zurückzuschauen auf die eigene Freiheits- und Demokratiegeschichte, das fällt uns offenbar besonders schwer. Immerhin hat der Beschluss, der Friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung ein Denkmal zu setzen, eine durchaus produktive, öffentliche Debatte über den Wert der hart erkämpften Freiheit und Einheit ausgelöst. Aber anders als beispielsweise - nach langen Jahren des Streitens - beim Holocaust-Mahnmal ist es ( bisher ) nicht gelungen, die gesellschaftliche Selbstverständigung in ein weithin sichtbares Wahrzeichen unseres Selbstverständnisses münden zu lassen was sicherlich auch damit zu tun hat, dass die vielen ermutigenden Beispiele des Demokratie- und Freiheitskampfs vom Hambacher Fest über die März-Revolution, den Widerstand gegen die NS-Diktatur bis zur Friedlichen Revolution 1989 ihren angemessenen Platz in unserem Selbstverständnis eben tatsächlich noch nicht gefunden haben.
Umso wichtiger ist und bleibt die Unterstützung von Museen und Gedenkstätten als "Orte der Demokratiegeschichte". Und deshalb engagieren sich Bund und Länder hier ja bereits intensiv: Beispielhaft sei die von Bund und dem Land Rheinland-Pfalz gemeinsam geförderte Stiftung Hambacher Schloss genannt. Andere Beispiele sind die durch den Bund geförderten Politikergedenkstiftungen oder auch das Deutsche Historische Museum. 2018 wird das DHM der Weimarer Republik eine große Sonderausstellung widmen und dabei gewiss auch die Fragen, die Ihre AG bewegen, weiter vertiefen. Der Bund fördert aber auch Orte der Demokratiegeschichte, die bisher nicht in ihrer AG vertreten sind. So hat etwa die Robert-Havemann-Gesellschaft mit finanzieller Unterstützung von BKM an 18 Schauplätzen der Friedlichen Revolution in Berlin Erinnerungs- und Informationsstelen errichtet. Sie markieren Orte im Osten wie im Westen Berlins, die eng mit dem historischen Geschehen 1989/90 verbunden sind: Treffpunkte oppositioneller Gruppen, Orte der Konfrontation mit der SED-Diktatur und Gebäude, in denen Demokratiegeschichte geschrieben wurde. Ein vergleichbares Projekt gab es auch in Leipzig.
Sie sehen, meine Damen und Herren, die "Orte der Demokratiegeschichte" sind alles andere als ein "blinder Fleck" auf der Landkarte der Erinnerungskultur, und ich darf Ihnen versichern, dass wir die von uns geförderten Einrichtungen auch weiterhin unterstützen werden, denn ich bin sicher: Es stärkt die Kräfte der Zivilgesellschaft und damit auch die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie, wenn wir die Chance haben, nicht nur am eigenen Versagen, am Ringen und Hadern mit der Vergangenheit zu reifen, sondern auch im Bewusstsein der eigenen Freiheitstraditionen zu wachsen.
Zu einer lebendigen Erinnerungskultur gehören aber natürlich nicht nur die Blicke, sondern auch kontroverse Debatten. Was unsere Demokratie ausmacht, welche Erfahrungen aus der Vergangenheit uns heute helfen, die Demokratie zu verteidigen, wie wir diese Erfahrungen in geeigneter Weise vergegenwärtigen und Geschichte mit ihren "Lektionen für den Widerstand" gegen Demagogen, Populisten und Autokraten als Erfahrungsschatz bewahren - darüber darf, kann und soll öffentlich diskutiert und auch gestritten werden. Nicht zuletzt in diesem Sinne wünsche ich der Arbeitsgemeinschaft "Orte der Demokratiegeschichte" viel Erfolg und Ihren Einrichtungen damit noch mehr öffentliche Aufmerksamkeit. Vielen Dank Ihnen allen für Ihr Engagement! Auf eine produktive konstituierende Arbeitsgruppensitzung!