Redner(in): Angela Merkel
Datum: 01. Juni 2017

Anrede: Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,sehr geehrte Frau Bundesministerin Wanka,sehr geehrter Herr Minister Wang,meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2017/06/2017-06-01-rede-merkel-deutsch-chinesisches-forum.html


Exzellenzen,

Ich freue mich, dass es heute diese Veranstaltung gibt, auf der Ministerpräsident Li Keqiang und ich gemeinsam etwas zur Zukunft sagen können. In der Tat, am 1. Juni, dem internationalen Tag der Kinder, ist ein Blick in die Zukunft von besonderer Wichtigkeit. Wir werden unseren Wohlstand nur sichern können, wenn wir immer wieder in die Zukunft hinein arbeiten. Dazu ist das Thema gerade richtig gewählt: "Innovation Gemeinsam Gestalten". Diese Veranstaltung greift damit den Titel des Aktionsplans auf, den der chinesische Ministerpräsident und ich 2014 miteinander vereinbart haben. Dieser Aktionsplan hat der Wissenschafts- und Forschungszusammenarbeit sehr viel Schwung verliehen.

Jetzt ist es an der Zeit, über die nächsten Etappen nachzudenken. Wir haben heute mit den Vereinbarungen, bei deren Unterzeichnung wir dabei waren, ja schon Wegmarken gesetzt. Das gilt zum Beispiel in Bezug auf die Kooperation beim Thema künstliche Intelligenz. Das ist aus meiner Sicht ein Zukunftsthema, dem sich China und Deutschland gemeinsam widmen müssen.

Deutschland und China sehen die Chancen der Veränderungen, die die Globalisierung und die Digitalisierung mit sich bringen. Wir sind überzeugt, dass wir diese Chancen gemeinsam nutzen und damit globalen Fortschritt mitgestalten können. Daraus erwächst für beide Länder, für Deutschland und China, aber auch eine besondere Verantwortung in globalen Fragen zum Beispiel für den Klimaschutz, die Prävention gewaltsamer Konflikte oder in der internationalen Handelspolitik.

Dies alles sind auch Themen, die wir auf unserem diesjährigen G20 -Gipfel in Hamburg auf die Tagesordnung gesetzt haben und die eine wichtige Rolle spielen. Anfang Juli werden in der Hafenmetropole Hamburg die Staats- und Regierungschefs der zwanzig größten Industrie- und Schwellenländer zusammenkommen. China saß von Anfang an am Tisch der G20. Der Einfluss Chinas ist hier über die Jahre gewachsen. Ich freue mich, dass sich Deutschland und China gemeinsam für bestimmte Prinzipien einsetzen, zum Beispiel für freien Handel und offene Märkte.

China ist seit Jahrtausenden eine traditionsreiche Handelsnation. Deshalb weiß China und das hat der Ministerpräsident eben noch einmal gesagt, dass freier Handel zum beiderseitigen und zum allseitigen Nutzen ist. Das Bekenntnis Chinas dazu, seine Einbindung in den freien Welthandel Schritt für Schritt auszubauen, ist insofern ein sehr wichtiges Bekenntnis. China ist dabei, hierzu auch eine Reihe nationaler Reformen anzugehen. Ich habe auch Verständnis dafür, dass solche Reformen nicht immer einfach sind. Wir erleben ja auch in Deutschland, wie viele Widerstandskräfte wir zu überwinden haben. Gerade im Zusammenhang mit der Digitalisierung könnte ich hier viele Beispiele nennen. Ich denke nur an die Einführung einer Gesundheitskarte, für die wir inzwischen schon eine Dekade brauchen, wobei wir immer noch nicht ganz am Ziel sind.

Wir bitten aber auch darum, dass sich China noch stärker für ausländische Investoren und internationale Handelsbeziehungen öffnet. Die dynamische Entwicklung Chinas ist sehr beeindruckend. Das Land weist immer noch überdurchschnittliche Wachstumsraten auf. Die beeindruckende Entwicklung hin zu einer der größten Volkswirtschaften der Welt verfolgen wir in Deutschland mit allergrößter Aufmerksamkeit. Denn Entwicklungen in anderen Teilen der Welt ganz besonders in einem so großen Land wie China sind für eine so offene und global vernetzte Volkswirtschaft wie die deutsche von unmittelbarer Bedeutung.

Das spiegelt sich auch im weiter angewachsenen bilateralen Handelsvolumen wider. Im vergangenen Jahr erreichte es fast 170 Milliarden Euro. China ist damit 2016 unser wichtigster Handelspartner geworden noch vor Frankreich und vor den Vereinigten Staaten von Amerika. Wir betreiben aber nicht nur regen Außenhandel, wir investieren auch viel. Über 2.000 deutsche Unternehmen sind in China tätig. Auch die Zahl der chinesischen Unternehmen in Deutschland steigt. Das zeugt von Wirtschaftsbeziehungen, die für beide Seiten gewinnbringend sind und die auch in beiden Ländern Arbeitsplätze garantieren. Wir hatten heute übrigens auch eine Absichtserklärung, die ausschließlich Chinesen unterschrieben haben, da das betreffende deutsche Unternehmen von einem chinesischen Staatsbürger geführt wird. Das war ein Novum, glaube ich; so etwas hatten wir noch nicht.

Wir wollen also weiter anknüpfen an das, was bereits besteht. Um als Wirtschaftspartner im internationalen Wettbewerb attraktiv zu bleiben, müssen wir auch innovativ bleiben. Konsequenterweise liegt deshalb einer der Schwerpunkte unserer Zusammenarbeit im Bereich der Innovationszusammenarbeit. Ich glaube, wir sind uns einig, dass die größte Antriebskraft für Innovationen aus der Wirtschaft selbst kommen muss und zwar dann, wenn sie sich in marktwirtschaftlichen Strukturen mit einer funktionierenden Wettbewerbsordnung behaupten muss. Denn wenn jeden Tag Unternehmer beweisen müssen, dass irgendjemand auf der Welt ihre Produkte kaufen will, dann zwingt das zur Innovation. Denn kaum gibt es ein besseres Angebot, ist man auch vom Markt verschwunden.

Wir gehören heute zu den innovativsten Ländern der Welt. Ablesen lässt sich das an der Vielzahl weltmarktrelevanter Patente und auch daran, dass wir weltweit mit am meisten in Forschung und Entwicklung investieren. Darauf ist Deutschland stolz. Seit 2005 haben wir mit Blick auf den Bundeshaushalt unsere Ausgaben für Forschung und Entwicklung mehr als verdoppelt. Wir haben 2015 zum ersten Mal das Drei-Prozent-Ziel also das Ziel, drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung auszugeben erreicht. Mit 62,4 Milliarden Euro fällt dabei der größte Anteil auf die deutsche Wirtschaft selbst. Die maßgeblichen Treiber für Innovationen sind bei uns insbesondere die Unternehmen der Automobilbranche und die Unternehmen der Energiebranche.

Wir wissen aber auch, dass das Rückgrat der deutschen Wirtschaft ganz wesentlich auch aus mittelständischen Unternehmen besteht. Hier sehen wir eine rückläufige Tendenz der Investitionen in Forschung und Entwicklung. Deshalb müssen wir Anreize setzen und zwar richtige Anreize. Wir werden in der nächsten Legislaturperiode auch darüber nachdenken müssen, ob wir nicht für die kleineren und mittleren Unternehmen doch endlich einmal eine steuerliche Forschungsförderung einsetzen. An der Forschungsministerin liegt es nicht, dass wir das noch nicht geschafft haben, denn sie ist seit langem dafür.

Wir setzen aber auch auf Anreize bei Schlüsseltechnologien ich nenne als Stichworte die Digitalisierung, Industrie 4.0, autonomes Fahren und Biotechnologien. Wir fördern in Deutschland auch verbesserte Forschungsstrukturen durch Vernetzung von Unternehmen und Forschungseinrichtungen. Denn kleine und mittlere Unternehmen haben oft nicht die nötigen Forschungskapazitäten. Das heißt, sie brauchen Partner.

Wir erleichtern die Bereitstellung von Wagnis- und Wachstumskapital. Das ist ein Thema, das sich in Deutschland schwer entwickelt, weil die Erfahrung mit Investitionen in Wagnis- und Wachstumskapital nicht so ausgeprägt ist wie zum Beispiel in den Vereinigten Staaten von Amerika. Aber wir haben hierbei Schritte nach vorne gemacht.

Außerdem haben wir mit der Hightech-Strategie einen programmatischen Handlungsrahmen für Forschung, Entwicklung und Innovation insgesamt abgesteckt. Darin benennen wir die technologischen Schwerpunktbereiche, die aus unserer Sicht besonders zukunftsträchtig sind. Wir analysieren auch, wo wir im Weltmarkt stehen und wo wir besser werden müssen. Mit der Hightech-Strategie wollen wir auch Brücken von der Grundlagenforschung bis zur Anwendung schlagen. Ich glaube, diese Vorgehensweise ist der des chinesischen "National Medium- and Long-Term Program for Science and Technology Development" sehr ähnlich. Insofern ergeben sich hieraus auch sehr gute Möglichkeiten der Kooperation.

Innovation setzt immer wieder kluge Köpfe voraus. Deshalb ist es auch wichtig, für eine attraktive Wissenschaftslandschaft mit exzellenten Ausbildungs- und Forschungsbedingungen zu sorgen. Deutschland ist mit seinen Hochschulen und außeruniversitären Forschungsstätten ein Anziehungspunkt für Fachkräfte und Spitzenkräfte aus aller Welt. Wir wollen auch immer mehr junge Leute aus dem Ausland bei uns studieren lassen und freuen uns, dass der Zuspruch dazu vorhanden ist. Mit großem Abstand vorn liegen die Studierenden aus China.

Auch unser duales System der beruflichen Bildung gilt international als ein Vorzeigemodell, um jungen Menschen gute Karriere- und Berufsaussichten zu bieten. Daher haben wir auch in diesem Bereich die Bildungskooperation unserer Länder vertieft. Zunehmend stehen dabei auch anwendungsorientierte Vorhaben im Vordergrund, an denen die Industrie verstärkt beteiligt ist. Ein konkretes Beispiel für unsere Zusammenarbeit ist die Chinesisch-Deutsche Hochschule für Angewandte Wissenschaften an der Tongji-Universität in Shanghai. Daran beteiligt sind 26 deutsche Fachhochschulen. Wir haben zum Beispiel auch schon in der Heimatstadt des Ministerpräsidenten, in Hefei, eine Kooperation von Hochschulen gesehen. Der Besuch in Hefei ist mir noch in ganz klarer Erinnerung.

Aber damit ist unsere Innovationspartnerschaft natürlich noch nicht an ihre Grenzen gelangt. Wir wollen sie weiter ausbauen. Und dazu müssen wir uns auch immer wieder die Rahmenbedingungen anschauen. Wissenschaft muss sich frei entfalten können. Die Freiheit der Wissenschaft ist nicht nur ein wichtiger ideeller Wert, sondern ein fundamentales Menschenrecht. Sie ist Voraussetzung für Kreativität und Forschergeist. Zu den notwendigen Rahmenbedingungen für unsere Forschungs- und Innovationskooperation gehören natürlich die Gewährleistung von Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der Menschenrechte. Hier, genauso wie in unserer wirtschaftlichen Zusammenarbeit insgesamt, sind staatliche Institutionen zur Gewährleistung des "rule of law" unabdingbar.

Forschung, Wissenschaft und eine innovative Wirtschaft haben darüber hinaus eine wichtige gesellschaftliche Bedeutung. Wir setzen darauf, und meiner Ansicht nach geht es auch darum, dass alle gesellschaftlichen Gruppen am wissenschaftlichen und technischen Fortschritt beteiligt werden. Dies ist eine große Aufgabe, der wir uns auch in Deutschland immer wieder neu zu stellen haben. Wenn wir uns die Gruppen in unserer Bevölkerung anschauen gerade auch zum Beispiel Menschen mit Migrationshintergrund, dann sehen wir, dass die Bildungschancen und die Beteiligung und der Anteil am Forschungssektor noch nicht so hoch sind, wie wir es wollen. Deshalb bin ich überzeugt, dass die aktive Einbeziehung von Minderheiten und ihre Gleichbehandlung auch zur Verhinderung von Radikalisierung die beste vorbeugende Politik ist.

Wichtig für unsere Zusammenarbeit ist darüber hinaus die ungehinderte Arbeit der deutschen Förderer- und Mittlerorganisationen in China. Nachdem die Stiftungen in China unter dem neuen NGO-Gesetz neu registriert werden konnten, gilt es nun, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass auch sie wie auch die Nichtregierungsorganisationen ihre Tätigkeiten in vollem Umfang wieder aufnehmen können.

Wir müssen auch noch einmal schauen, wie hoch der Aufwand für Hochschulen und Wissenschaftsorganisationen ist, wenn man Partnerschaft leben will. Das Ganze muss sich in einem vertretbaren Ausmaß halten. Außerdem müssen Studienleistungen gegenseitig anerkannt werden, um es jungen Menschen leichter zu machen.

All dies ist für eine stärkere Kooperation in Bildung und Wissenschaft sehr wichtig. Aber wir haben schon viele Schritte geschafft. Daher bin ich optimistisch, dass wir auch weitere Schritte schaffen werden.

Auch in der Wirtschaft brauchen wir natürlich geeignete Grundlagen, um gemeinsame Innovationsprojekte in Angriff zu nehmen. Wir brauchen einen fairen Marktzugang. Der Ministerpräsident hat auch darüber gesprochen, wie sich die Negativliste immer wieder verändert und dass ein freier Zugang für viele inzwischen möglich ist.

Ganz wichtig auch das wurde vom Ministerpräsidenten angesprochen ist der Schutz des geistigen Eigentums. Handels- und Geschäftsgeheimnisse müssen Bestand haben, auch wenn das in Zeiten der Cybermöglichkeiten manchmal gar nicht so einfach ist.

Auf der Basis der vereinbarten Partnerschaft und unseres intensiven Dialogs sollte es uns möglich sein, geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen. Dann können wir in Zukunft auch noch mehr erreichen, als wir heute schon geschafft haben. Wir sind uns dessen bewusst. Deswegen wollen wir die Deutsch-Chinesische Plattform Innovation weiterentwickeln. Wir arbeiten an gemeinsamen Fördermechanismen für bilaterale Kooperationsprojekte in Wissenschaft und Technologie. Deswegen schlagen wir vor, einen Deutsch-Chinesischen Forschungsfonds einzurichten. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung plant, hierfür bis zu vier Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung zu stellen. Das kann den Ausbau unserer Kooperation auf der Basis unserer jeweiligen Länderstrategien erleichtern.

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Li Keqiang, meine Damen und Herren, jeder Staat hat seine eigenen Interessen. Aber in einer immer enger vernetzten Welt überschneiden sich die nationalen Interessen mehr und mehr. Daher gilt auch mehr denn je: Im Gegeneinander binden wir unnötig Kräfte, im Miteinander aber bündeln wir unsere Kräfte. Genau darauf kommt es an. Gemeinsame Aufgaben sind auch gemeinsam anzugehen. Daher freue ich mich, wenn sich die deutsch-chinesischen Beziehungen weiter gut entwickeln. An gemeinsamen Herausforderungen für uns mangelt es ja nun wahrlich nicht. Deshalb sollte es für uns Ansporn sein, diese Herausforderungen auch gemeinsam anzunehmen.

Ich wende mich an Sie, die Sie dies alles in vielen Facetten auch täglich tun und leben und sich dafür einsetzen. Danke dafür, dass Sie diese Arbeit zum Wohle unserer beiden Länder leisten. Auf weitere gute Erfolge in dieser Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Innovation. Herzlichen Dank.