Redner(in): Angela Merkel
Datum: 29. März 2017

Anrede: lieber Michael Kretschmer,liebe Kollegin aus dem Kabinett, Frau Wanka,liebe Kolleginnen und Kollegen,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2017/03/2017-03-29-rede-merkel-mut-zur-zukunft.html


Sehr geehrter Herr Vizepräsident des Deutschen Bundestags, lieber Herr Singhammer, lieber stellvertretender Fraktionsvorsitzender, lieber Michael Fuchs, aber vor allen Dingen Sie, meine Damen und Herren, die Sie heute hier bei der CDU / CSU-Fraktion zu Gast bei diesem so wichtigen Kongress sind,

Bevor ich zu dem konkreten Thema spreche, möchte ich aus aktuellem Anlass ein paar Worte zu Großbritannien und der Europäischen Union sagen.

Die britische Regierung hat nun offiziell ihre Absicht mitgeteilt, aus der Europäischen Union austreten zu wollen. Wir, Deutschland, aber auch die anderen Partner Großbritanniens in der Europäischen Union, haben uns diesen Tag sicherlich nicht gewünscht, denn wir verlieren einen starken und wichtigen Mitgliedstaat.

Aber wir respektieren natürlich die demokratische Entscheidung der britischen Wählerinnen und Wähler. Mit dem Antrag nach Artikel50 der EU-Verträge haben wir jetzt mehr Klarheit darüber, wie sich die britische Seite den weiteren Weg vorstellt und welche Ziele Großbritannien in den Verhandlungen verfolgen will.

Nun liegt es an uns, den 27anderen Mitgliedstaaten und den europäischen Institutionen, auf dieser Basis unsere eigenen Interessen und Ziele zu definieren. Wir werden deshalb in den kommenden Wochen über unsere Verhandlungsleitlinien beraten. Am 29. April, bei einem Sondertreffen des Europäischen Rates, wollen wir diese Leitlinien dann beschließen.

Die Bundesregierung hat sich auf diesen Prozess gut vorbereitet und wird sich zu allen aufkommenden Fragen natürlich positionieren. Ich will hier nur einige wenige Punkte nennen, weil sie mir besonders wichtig erscheinen:

Erstens: Für viele Menschen in Europa ist der angestrebte EU-Austritt Großbritanniens mit ganz konkreten Sorgen über die eigene persönliche Zukunft verbunden. Dies gilt besonders für die vielen deutschen und europäischen Staatsangehörigen, die in Großbritannien leben. Deshalb wird sich die Bundesregierung intensiv dafür einsetzen, dass die Folgen für den Alltag der betroffenen Menschen so gering wie möglich ausfallen werden.

Zweitens: Wir wissen, dass zwischen Großbritannien und der Europäischen Union, natürlich auch mit Deutschland, enge Verflechtungen bestehen, die sich aus den 44Jahren Mitgliedschaft ergeben haben. In den Verhandlungen muss zuerst geklärt werden, wie wir diese Verflechtungen nun geordnet entflechten. Dabei wird es auch um den Umgang mit den vielen Rechten und Pflichten gehen, die mit der Mitgliedschaft bisher verbunden sind. Erst wenn die Fragen dazu geklärt sind, können wir anschließend, aber dennoch hoffentlich bald über unser zukünftiges Verhältnis sprechen.

Drittens: Ich wünsche mir, dass Großbritannien und die Europäische Union enge Partner bleiben. Denn für mich ist und bleibt das Vereinigte Königreich ein Teil Europas, mit dem wir vieles teilen, nicht zuletzt unsere gemeinsamen Werte. Auf Basis dieser Werte und mithilfe fairer Regeln streben wir ein ausgewogenes Verhältnis von Rechten und Pflichten an.

Viertens: Die Europäische Union ist eine historisch einmalige Erfolgsgeschichte. Sie bleibt es auch nach dem Austritt Großbritanniens. Dafür tragen wir Sorge. Die Europäische Union wird in den kommenden zwei Jahren nicht nur die Verhandlungen mit Großbritannien führen. Sie wird parallel auch an vielen anderen wichtigen Aufgaben weiterarbeiten, vor denen wir als Europäerinnen und Europäer gemeinsam stehen. Dabei geht es um gemeinsame europäische Antworten auf Globalisierung und Digitalisierung, auf den internationalen Terrorismus und die Entwicklungen in unserer Nachbarschaft, auf Flucht und Migration, aber auch auf den Klimawandel.

Vor wenigen Tagen haben die Staats- und Regierungschefs der 27verbleibenden Mitgliedstaaten und die Repräsentanten der europäischen Institutionen die Erklärung von Rom unterzeichnet. Darin bekennen wir uns noch einmal ausdrücklich zu einer gewinnbringenden europäischen Zusammenarbeit. Der 60. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge wurde dadurch zum Zeichen großer Einigkeit.

Jetzt gilt es, diesen Zusammenhalt der EU-27 beizubehalten, gerade auch in den Verhandlungen mit Großbritannien. Wir als Europäische Union werden die kommenden Gespräche fair und konstruktiv führen. Ich hoffe, dass auch die britische Regierung in diesem Geiste an die Verhandlungen herangeht. Die britische Premierministerin hat mir das gestern in einem Telefonat zugesichert.

Der heutige Tag ist damit auch ein Tag des Aufbruchs. Deshalb komme ich jetzt zu dem Titel dieses Kongresses, der "Mut zur Zukunft" heißt. Er beschäftigt sich mit dem Innovationsstandort Deutschland. Ich finde, dass das ein sehr passender Titel für die Herausforderungen unserer Zeit, aber auch für die Diskussionen ist, die wir führen.

Ich will noch einmal an die Ruck-Rede von Bundespräsident Roman Herzog erinnern. Mit ihr hat er vor 20Jahren ziemlich eindrücklich beschrieben, was unter "Mut zur Zukunft" zu verstehen ist. Er rief uns damals ins Gewissen, und ich möchte ihn zitieren: "Die Fähigkeit zur Innovation entscheidet über unser Schicksal." Ich will das noch einmal wiederholen: "Die Fähigkeit zur Innovation entscheidet über unser Schicksal." Sehr einfach, aber es muss eben gemacht werden.

Wir können heute sagen, dass wir uns in den letzten Jahren diese Mahnung zu Herzen genommen haben. Es ist eben schon von Michael Kretschmer gesagt worden: Deutschland gehört heute zu den innovativsten Ländern der Welt. Wir haben das, was sich eigentlich alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union vorgenommen haben, erreicht, nämlich drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung auszugeben. Das haben wir dadurch erreicht, dass wir eben investiert haben und auf inzwischen über 17Milliarden Euro im Bundehaushalt der Bundesministerin für Bildung und Forschung gekommen sind.

Wir haben dieses Geld nicht einfach nur angehäuft, sondern wir haben es auch sinnvoll in neue Strukturen investiert und haben Verlässlichkeit geschaffen, also etwas, das man gerade im Forschungs- und Innovationsbereich besonders braucht.

Die Hightech-Strategie ist sicherlich so etwas wie das Kernstück unserer Innovationspolitik. Es geht darum, Kräfte zu bündeln, um gezielt diejenigen Felder zu bestellen, die für unseren Wohlstand von besonderer Bedeutung sind. Wir haben zu Beginn dieser Legislaturperiode die ganze Hightech-Strategie noch einmal überarbeitet und konzentriert. In Bezug auf diese Hightech-Strategie wird jedes Mal eine Bestandsaufnahme gemacht und gesagt, wo wir stehen, um dann zu schauen, wie wir an die Spitze der Entwicklung kommen. Wir haben dabei die folgenden Bereiche identifiziert, über die Sie heute sicherlich schon gesprochen haben: digitale Wirtschaft und Gesellschaft, nachhaltiges Wirtschaften und Energie, innovative Arbeitswelt, gesundes Leben, intelligente Mobilität und zivile Sicherheit.

Sie sehen also: Forschung und Innovation breiten sich in die gesamte gesellschaftliche Lebenswirklichkeit aus. Nun ist es einfach, Aufgabenfelder zu benennen, aber wir müssen natürlich auch die entsprechenden Arbeiten durchführen.

Für Verlässlichkeit und Planungssicherheit sorgt hierbei unser Pakt für Forschung und Innovation, der sich mit den außeruniversitären Forschungseinrichtungen beschäftigt. Wir haben hier wirklich Verlässlichkeit hineingebracht: Der Etat ist wie vereinbart gestiegen, in dieser Legislaturperiode jetzt um 3Prozent pro Jahr und wir haben die Anteile der Länder an der Steigerung übernommen.

All das haben wir immer auch mit dem Gedanken getan: Wie können wir die universitäre Forschung steigern? Denn wir haben gesehen, dass ein Auseinanderklaffen von universitärer und außeruniversitärer Forschung letztendlich auch nicht gut ist, schon gar nicht für die Ausbildung der vielen jungen Leute.

Wir haben, um mit der Dualität von Bund und Ländern besser umgehen und um besser zwischen den Bildungsbereichen und den Forschungsbereichen kooperieren zu können, in dieser Legislaturperiode endlich auch Artikel91b des Grundgesetzes geändert. Wir haben außerdem ein umfassendes Paket zur Förderung der Spitzenforschung an Universitäten vorgelegt und die Exzellenzinitiative weiterentwickelt.

Der gemeinsame Hochschulpakt bringt 760.000 zusätzliche Studienplätze und sorgt für bedarfsgerechte Studienangebote, wovon natürlich die Studentinnen und Studenten profitieren. Wir tragen damit auch Vorsorge für die demografisch schwierigeren Jahre, in denen wir weniger junge Menschen haben werden. Wir haben jetzt mit unserem Tenure-Track-Programm auch noch einmal einen Akzent gesetzt, um nach dem Studium die wissenschaftliche Laufbahn besser voranzubringen.

Insoweit kann man sagen, dass vieles in dieser Bestandsaufnahme sehr erfreulich ist. Ich könnte hier jetzt noch eine ganze Weile darüber sprechen, aber das Motto heißt ja "Mut zur Zukunft" und nicht "Belobigung der Gegenwart". Aber einfach einmal zu sagen, was wir schon geschafft haben, gibt uns natürlich eine gute Plattform, um dann zu schauen: Wo wollen und müssen wir denn hin?

Wir wissen, dass lebenslanges Lernen, Weiterbildung und berufsbegleitende Qualifizierung ganz wichtig sind, und haben deshalb gerade im Bereich der MINT-Qualifikationen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik vieles angeschoben, was wir weiterführen müssen. Wir haben viel getan, um auch Frauen offener zu machen für die naturwissenschaftlichen Fächer. Insofern ist da doch einiges erreicht worden.

Ebenfalls unter der Überschrift, was erreicht wurde: Wir vom Bund haben das BAföG übernommen. Da gab es große Diskussionen darüber, dass nun wir immer die seien, bei denen die Studenten anklopfen und sagen: Wir haben nicht genug. Es hat sich bis jetzt aber ganz gut entwickelt. Wir konnten auch schon die erste BAföG-Erhöhung durchsetzen.

Nun müssen wir feststellen, dass Schweden rund 3, 5Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung ausgibt und dass auch etwa in Israel und Südkorea der Wert höher ausfällt als bei uns, aber ansonsten sind wir ganz gut.

Wir müssen vor allen Dingen feststellen, dass wir in einer Zeit leben, in der sich revolutionäre, manchmal sagt man disruptive, aber auf jeden Fall gewaltige, Veränderungen abspielen, getrieben durch die Entwicklung dessen, was wir Digitalisierung nennen. Das sind Entwicklungen, die nicht nur im Bereich des technisch Machbaren sind, sondern die sich mit der Vernetzung all dessen befassen, was es gibt: der Menschen untereinander, der Dinge untereinander.

Diese Entwicklungen werden unsere Gesellschaft tiefgreifend verändern. Manch einer hat gesagt, das könne man mit der Entstehung des Buchdrucks vergleichen. Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, ob das überhaupt als Bild ausreicht oder ob die Veränderung qualitativ nicht noch sehr viel tiefgreifender sein wird.

Wenn man in einem solchen Zeitraum qualitativer Veränderungen lebt, dann ist es natürlich immer sehr schwer zu verstehen, was da eigentlich vonstattengeht. Man kann sich dann am besten einmal zurückbesinnen und überlegen, wie es war, als die Industrialisierung, also der Wandel von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft, stattfand.

Bei der Mobilität wird vieles mit dem Weg von der Kutsche zum Automobil verglichen. Wenn man diese Vergleiche nimmt, dann muss man aufpassen, dass man noch positiv gestimmt ist, jedenfalls mit Blick auf die Automobilhersteller. Denn von den Kutschenbauern hat kaum einer überlebt. Und man hat nicht den Eindruck, dass die Einführung des Autos auf der Straße in Europa und in Deutschland von denen, die Pferde besessen haben und Kutschen gebaut haben, besonders gefördert wurde.

Die eigentliche Herausforderung für uns in der Politik, die wir diese Veränderung technisch und gesellschaftspolitisch auch nicht besser, sondern vielleicht sogar noch schlechter verstehen können, für deren Entwicklung wir aber die Leitplanken festlegen müssen, liegt für uns nun darin, herauszufinden: Wer sind eigentlich unsere Ansprechpartner, wenn wir über diese Veränderung reden wollen? Unsere klassischen Ansprechpartner kennen wir seit 40, 50, 60Jahren. Aber wehe, die verhalten sich wie die Kutschenbauer Ende des 19. Jahrhunderts oder Anfang des 20. Jahrhunderts. Woher wissen wir, ob die besser sind als die Kutschenbauer und Pferdebesitzer des vergangenen Jahrhunderts? Sie behaupten natürlich, sie seien das, sie wüssten das alles usw.

Wir tun gut daran, gemeinsam auf eine Reise zu gehen und den Blick in die neue Welt hineinzuwerfen. Denn die Veränderungen werden sich vollziehen. Die Gefahr für Deutschland liegt darin, dass wir in der Welt der Industrialisierung sehr gut sind. Diejenigen, die nicht so gut sind, haben vielleicht schneller im Blick, zu sagen: Na ja, da liegt unsere neue Chance. Wenn sie aber im Spitzenbereich der gegenwärtigen oder kurz vergangenen Entwicklung liegen und erkennen sollen, dass jetzt noch einmal etwas ganz anderes passiert, dann liegt die Gefahr darin, dass sie selbstgenügsam sind, sich noch ein paar Monate und Jahre weiter retten und sagen "Geht doch immer noch, geht doch immer noch" und eines Tages feststellen, dass um sie herum schon irgendetwas anderes passiert.

Manchmal habe ich ein bisschen Sorge, dass wir, weil wir uns ein wenig gegen das Neue sperren, auch ein bisschen ignorant werden gegenüber dem, was anderswo passiert. Das wäre ganz fatal.

Wenn man sich beispielsweise mit Blick auf die Gesundheitskarte und auf alle, die jetzt schon viel Digitalisierung im Gesundheitswesen haben, sagt "Wer weiß, ob das sicher ist, wir sind doch mit unseren Sachen ganz auf der sicheren Seite", dann wacht man eines Tages auf, und es ist plötzlich nicht mehr nur das kleine Estland, das das besser kann, sondern dann ist das eben auch Dänemark und dann sind das vielleicht eines Tages auch BRICS-Staaten.

Wenn man heute einmal um die Welt reist und fragt, wer sich mit der elektronischen Signatur so schwer tut wie die Bundesrepublik Deutschland, dann findet man nicht viele Länder. Ein paar haben noch gar nicht angefangen, andere können es, aber dass man sich jahrelang damit befasst und es dann erst einmal drei Jahre lang auf Eis legt und überlegt, ob man es wirklich kann, das kommt selten vor.

Wir müssen und das wird ein zentraler Bestandteil unserer Arbeit und auch unseres Programms für die nächste Legislaturperiode sein als Staat erst einmal selber die Digitalisierung als Veränderung in unseres Umgangs zwischen Institutionen und Bürgern implementieren. Dazu ist uns ein bahnbrechender Schritt im Zusammenhang mit den Bund-Länder-Finanzverhandlungen gelungen. Wir haben nämlich die Länder davon begeistert, dass wir für jeden Bürger einen gemeinsamen Zugang zu seinem Staat brauchen. Der muss dann natürlich auch auf die Kommunen erweitert werden. Das heißt, der Bürger muss sich nicht darum kümmern, ob das nun eine kommunale, eine Landes- oder eine Bundeszuständigkeit ist, sondern der Bürger registriert sich und bekommt Zugriff auf alle denkbaren Leistungen. Das umzusetzen wird die Aufgabe der nächsten vier Jahre sein. Dafür müssen wir dann natürlich auch die richtige Balance zwischen Sicherheit und digitalen Möglichkeiten finden. Aber dabei sollten wir uns an den wirklich Effizientesten auf der Welt orientieren. Ich sage Ihnen voraus: Das wird noch ein großes Stück Arbeit.

Wenn wir das aber machen und wenn das selbstverständlich wird, dann werden wir vielleicht auch mit noch mehr Einblick mit anderen sprechen können, in der Industrie, in der Wissenschaft, in der Forschung und mit den Start-ups, um wirklich auch diese neuen Wege beschreiten zu können. Da haben wir in dieser Legislaturperiode mit der Digitalen Agenda einen richtigen Schwerpunkt gesetzt.

Wir haben eine gemeinsame Plattform entwickelt, im Rahmen derer Industrie4.0 von großen Unternehmen bis hin zu den Mittelständlern entwickelt werden kann. Wir sind ganz gut dabei, auch zusammen mit den Vereinigten Staaten von Amerika, wenn es darum geht, uns um die Standards in diesem Bereich zu kümmern. Die Tatsache, dass Industrie4.0 sehr viel mit dem Internet der Dinge und mit der Digitalisierung der Produktionsprozesse zu tun hat, hat sich nicht nur bei den großen Unternehmen herumgesprochen, sondern das ist auch Zug für Zug im Mittelstand klar geworden, also dass sich die gesamte Fertigungskette und vieles andere verändert, dass man etwa Entwicklungen erst digital vormacht, bevor man sie dann hinterher im Realen nachbildet. Dafür gibt es viele, viele gute Beispiele.

Wo ich auch immer ein bisschen Sorge habe, und manch einer mag das von mir schon gehört haben, ist die Frage: Ist auch klar, dass sich sozusagen nicht nur die Produktionskette verändert, sondern dass sich vor allen Dingen das Verhältnis des Produzenten zu seinem Kunden dramatisch verändert? Der eigentliche Punkt liegt nämlich darin, dass der Kunde seine Wünsche über die Möglichkeiten der Digitalisierung in Zukunft völlig individuell formulieren wird und der Produzent darauf reagieren muss. Wer die Kunden-Produzenten-Beziehung in der Hand hat, wer da sozusagen die Feder führt, der wird derjenige oder diejenige sein, der oder die die Wertschöpfung in ihrem Maximum erhält, also den Gewinn sozusagen in der Hand hält und die Prozesse steuert. Deshalb ist im Augenblick nach meiner festen Überzeugung ein Wettlauf im Gange: zwischen denen, die produzieren da sind wir stark, und denen, die die Kundenbeziehungen besser in der Hand haben, den sogenannten konsumentenorientierten Internetzugang. Da liegen die Schwerpunkte eher in Asien und den Vereinigten Staaten von Amerika als dass sie schon bei uns liegen.

Nun haben wir aber durch die Verschmelzung beider Bereiche, der Produktion und der Kundenbeziehungen, sowie auch durch die Digitalisierung der Produktion noch einmal eine Schnittstelle, an der wir andocken und wo wir unsere Fähigkeiten voll einbringen können. Die Schnittstelle müssen wir nutzen, und wir müssen sie so nutzen, dass wir nicht nur unseren Produktionsprozess verändern, sondern auch unseren Kunden-Produzenten-Prozess.

Die Start-ups müssen auf geschickte Art und Weise mit unserer klassischen Wirtschaft noch besser zusammengebracht werden. Das müssen wir gut hinbekommen. Dazu brauchen wir die Start-ups, die vielen, die uns Anwendungen geben und die uns zeigen, was man mit den großen Datenmengen, die man heute von den vielen verschiedenen Kunden zur Verfügung hat, machen kann. Da darf man nicht warten, bis der klassische Industrieproduzent denn nun sein Start-up findet, sondern da muss man vielleicht auch staatlicherseits Incentives dafür setzen.

Wir müssen einmal schauen, wenn wir die steuerliche Forschungsförderung machen, ob wir da einen Schwerpunkt setzen, damit die sich verkoppeln, also dass man dafür belohnt wird, dass man mit Start-ups zusammenarbeitet. Denn dieser Findungsprozess, wer wen braucht, darf nicht zu einseitig und auch nicht zu langsam stattfinden. Es müssen sich vielmehr beide Seiten gegenseitig befruchten. Wir sehen zum Beispiel auch in Israel, wie wunderbar das geht.

Nun spreche ich hier über vieles, das von der Voraussetzung lebt, dass man überhaupt die IT-Möglichkeiten und die Möglichkeiten der Digitalisierung nutzen kann. Das heißt, man muss irgendwie Empfang haben, und man muss irgendwie eine Breitbandanbindung haben. Wir streben an, dass jedem Haushalt Internet mit einer Geschwindigkeit von 50Megabit pro Sekunde zur Verfügung steht. Damit kann man sich in Ruhe seine Videos anschauen und dies und jenes machen. Aber damit hat man weder das Internet der Dinge noch das autonome Fahren noch die Telemedizin noch die Echtzeitübertragung von sonstigen Daten. Das heißt, 5 G oder Echtzeitübertragung ist notwendig. Glasfaserausbau und 5 G -Standard ausrollen das ist das, was wir machen müssen.

Das führt uns dann sehr schnell dazu, dass wir dies nicht nur in Deutschland tun müssen, sondern wir müssen es in Europa tun, um von den Vorzügen des gemeinsamen Marktes in Form eines digitalen Binnenmarktes profitieren zu können.

Wir müssen dann auch das entsprechende Regelwerk einführen. Die Datenschutz-Grundverordnung ist jetzt da. Wir sind nach dem EuGH-Urteil gerade wieder beim Telemediengesetz dabei, darüber zu sprechen, wie man denn nun Zugang zu freiem WLAN bekommt. Ich sage mal: Das ist nicht Industrie 4.0, aber Neuauflage 2.0 zwischen Rechtspolitikern und Innenpolitikern auf der einen Seite und Internetpolitikern auf der anderen Seite, wie wir da am besten vorgehen.

Das stellt uns jedes Mal wieder vor die Frage: Wie offen wollen wir sein, und wie risikoaffin müssen wir sein? Ich könnte mir vorstellen, dass wir, wenn wir es geschickt machen in der Europäischen Union, eine Regelung sui generis finden, dass nicht alles beliebig gesammelt und gestapelt werden kann, zumindest dass der Bürger informiert ist.

Das alles führt uns zum Punkt der Bildung. Die Bundesbildungsministerin hat gerade mit Blick auf die Schulen viele gute Ideen. Wir sind manchmal erstaunt, dass unsere guten Ideen bei den Ländern gar nicht so viel Anklang finden. Aber ich denke, wir müssen schon sehen, dass auch die Lehrer gebildet werden müssen, weil sie in diese Entwicklung genauso hineinwachsen wie wir als Politiker. Wir brauchen die Infrastruktur. Wir brauchen Bildungsinhalte. Dabei kann der Bund hilfreich sein. Das werden wir in der nächsten Legislaturperiode noch einmal mit Interesse angehen.

Wir werden dramatische Veränderungen in der Mobilität bekommen. Wenn man vor zwei oder drei Jahren vom autonomen Fahren gesprochen hat, dann gab es zumindest auf CDU-Versammlungen immer ein leises Lachen. Heute ist es mit dem Lachen schon weniger geworden. Man traut sich nicht mehr richtig, das zu sagen, aber die meisten denken, dass sie es doch nicht mehr erleben. Hier in diesem Saal ist es anders. Aber wenn das Durchschnittsalter der Mitglieder einer Partei bei über 60Jahren liegt, dann hat man mit dem Phänomen schon zu kämpfen. Dabei ist es vielleicht gerade für die Älteren von besonderer Bedeutung. Vielleicht ergeben sich Möglichkeiten, die wir heute noch gar nicht vor uns sehen.

Die gesamte Mobilitätskette wird sich ändern. Ich will das hier nicht alles darstellen. Unsere Autohersteller haben 2015 hierzulande fast 22Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung investiert. Es passiert viel, denn die Automobilindustrie, die wirklich eine tragende Säule unseres wirtschaftlichen Wohlstands ist, hat im Grunde genommen mit drei wie man sagt disruptiven Entwicklungen zu kämpfen: Die Antriebstechnologien werden wahrscheinlich neu sein, die Frage des autonomen Fahrens, also die Digitalisierung im Auto, wird kommen und ebenso die Frage, ob ich ein Auto eigentlich noch selber besitzen muss oder ich mich in der Frage des Eigentums ganz anders verhalten kann. Das wird sich zuerst in den Ballungsgebieten zeigen. Das kommt erst später in den ländlichen Gebieten, völlig klar. Aber in den Ballungsgebieten sehen wir es im Grunde schon.

Alle drei Entwicklungen sind miteinander verknüpft. Denn je mehr man autonom fahren kann, desto unwichtiger wird sein, welche Antriebstechnologien man hat. Dann zählt der Wert der Beschleunigung von 0 auf 100 nicht mehr ganz so stark. Wobei die Elektromotorfreunde jetzt wahrscheinlich sagen würden, dass das da auch gut geht. Jedenfalls verändern sich die Dinge rapide. Darauf müssen wir Antworten geben, von der Berufsausbildung über die Arbeitsorganisation bis zum Verständnis dessen, was wir an Parkinfrastruktur haben müssen oder was wir an Angeboten für den öffentlichen Personennahverkehr machen müssen.

Damit kommen wir dazu, was ich von meinem japanischen Kollegen auf der CeBIT gehört habe, dass Japan über die Gesellschaft 5.0 nachdenkt. Damit kommen wir nämlich zu den Fragen: Was bedeutet das denn für unsere gesellschaftlichen Beziehungen? Wie gestaltet sich das mit der Arbeitszeit? Wie ist es mit der Verfügbarkeit, wenn man in Start-ups arbeitet? Wie ist es aber auch mit dem Wunsch, Eigentum zu besitzen? Wie ist es mit den klassischen Tarifverträgen, wenn alle Busfahrer jetzt in kleinere Einheiten umsteigen und wir viel individueller angepassten Verkehr organisieren? Was bedeutet das für das Selbstbewusstsein der Busfahrer? Was können wir ihnen an Beständigkeit versprechen?

Ich sehe viele Chancen. Wir dürfen das nicht immer so diskutieren, als fielen jetzt alle Arbeitsplätze weg. Ich habe viele Unternehmen besucht, in denen man die Digitalisierung weit vorangetrieben hat. Sie haben vielleicht etwas andere Arbeitsplätze. Aber ich habe noch niemanden gefunden, der behauptet hat, dass sich die Zahl der Arbeitsplätze bei ihm halbiert hat. Da wird auch viel Dramatik entwickelt.

Aber es wird sich vieles verändern. Deshalb ist Weiterbildung wichtig. Ich betone aus aktuellem Anlass: Weiterbildung möglichst für den, der Arbeit hat, und nicht erst warten, bis er arbeitslos ist, um dann darüber zu debattieren, wie lange er ausgebildet werden kann und wie lange er Arbeitslosengeld braucht.

Das Letzte, um noch einmal auf den gesellschaftlichen Aspekt zu kommen: Wir werden vieles können, was wir bisher nicht konnten. Gerade auch im gesundheitlichen Bereich werden sich dramatische Veränderungen ergeben, die Auswirkungen bis tief in die Versicherungssysteme und auch für die Verlängerung der Lebenszeit haben können. Neue ethische Fragen werden sich stellen. Darauf sollten wir relativ früh Antworten zu geben versuchen und dies alles in einem Bewusstsein mit Mut, nicht so sehr mit dem Mut des Verzweifelten, sondern mit einem gut fundierten, ruhigen Angang an Entwicklungen, die wir offen aufnehmen und die uns ermuntern sollten, einfach da, wo es notwendig ist, neu zu denken, aber all das, was wir an Erfahrung haben, auch mit einzubringen und keine Generation aus dem Blick zu nehmen.

Das heißt auch, dass wir uns mit einer ganz neuen Gruppe von Unternehmen beschäftigen müssen. Sie sind zum Teil nicht so organisiert oder anders organisiert, als wir das kennen. Zumindest streben sie nicht sofort nach Mitgliedschaft im BDI und DIHK. Man muss sich mit neuen Verbändestrukturen auseinandersetzen. Das ist keine Kritik. Ich sage nur, dass man das feststellt. Sie streben noch nicht einmal alle nach der Mitgliedschaft im Bitkom, von dem wir dachten, dass wir damit unseren neuen Hafen gefunden hätten. Das heißt, wir müssen neue Kontakte etablieren und auch neue Fördermöglichkeiten ins Auge fassen.

Wir haben uns jahrelang mit der Frage von besseren Verlustverrechnungen bei wachsenden Start-ups herumgeschlagen und von einer besseren Anfangsfinanzierung durch Venture-Capital. Dabei liegt Europa immer noch weit hinter den Vereinigten Staaten von Amerika zurück. Da müssen wir also noch vieles, vieles tun, was notwendig ist. Aber die Erarbeitung unseres Wahlprogramms gibt uns dazu zum Beispiel eine sehr gute Grundlage.

Ich wünsche mir, dass sich möglichst viele an dieser Diskussion intensiv beteiligen. Eine solche Diskussion gibt es nicht oft. Wir haben sie meistens nur bei krisenhaften Entwicklungen. Als wir zum Beispiel die Bankenkrise hatten, mussten wir uns dauernd Expertise bei Banken holen, weil wir selber nicht so genau wussten, wie sich das alles mit den Derivaten und diesem und jenem entwickelt hat.

Jetzt sind wir noch in der Lage, manche Dinge evolutionär vorzubereiten, Fachwissen einzuholen, uns zu überlegen, wie wir die gesetzlichen Leitplanken schaffen, wie wir Monopolbildung verhindern und auch mittelständischen Unternehmen eine Chance auf diesem Markt geben. Es ist wichtig, dass wir nicht nur ganz kleine Unternehmen haben, die anschließend von den ganz Großen aufgekauft werden. Sondern eine Stärke der deutschen Wirtschaft war immer unser Kartellrecht, das auch dem Mittelstand Luft zum Atmen gegeben hat. All das muss durchdacht werden.

Damit, lieber Michael Fuchs, gibt es außer wichtigen Dingen wie der besseren Berücksichtigung von geringwertigen Wirtschaftsgütern ich sage das ausdrücklich noch viele andere Fragen zu bedenken, um die Zukunft zu gestalten. In diesem Sinne danke ich Ihnen für Ihre Anwesenheit und wünsche uns allen alles Gute.