Redner(in): Hans Martin Bury
Datum: 11.06.2001

Untertitel: Ich freue mich, dass auch die zweite Veranstaltung der SPD-Fraktion zum Thema Nachhaltigkeit binnen kurzer Zeit auf so großes Interesse stößt.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/85/44085/multi.htm


ich freue mich, dass auch die zweite Veranstaltung der SPD-Fraktion zum Thema Nachhaltigkeit binnen kurzer Zeit auf so großes Interesse stößt. Die heutige Resonanz bestätigt mich in meiner Überzeugung, dass das Thema Nachhaltige Entwicklung die politische Diskussion der kommenden Jahre prägen wird - in Deutschland ebenso wie in Europa und weltweit.

Es ist daher nur folgerichtig, dass sich in dieser Woche die europäischen Regierungschefs in Göteborg mit einer Nachhaltigkeitsstrategie für Europa befassen.

Ebenso wie in Deutschland wollen wir auch in Europa eine Nachhaltigkeitsstrategie, die visionär und handlungsorientiert zugleich ist.

Wir brauchen klare Ziele, Zeitpläne und Vorschläge für konkrete Maßnahmen. Die Europäische Kommission hat hierfür mit ihrem soeben von Frau Groebner skizzierten Entwurf wertvolle Vorarbeit geleistet.

Die Bundesregierung begrüßt grundsätzlich den Entwurf. Die Auswahl der Themenfelder zeigt, dass die Überlegungen der Kommission vielfach in die gleiche Richtung gehen, wie in Deutschland.

Unterschiedliche Auffassungen gibt es allerdings über die Förderung fossiler Energien. Die Forderung der EU-Kommission, Subventionen für fossile Brennstoffe bis spätestens 2010 auslaufen zu lassen, würde nur dazu führen, dass in Deutschland heimische Kohle durch billigere Importkohle ersetzt würde. In Sachen Nachhaltigkeit wäre damit nichts gewonnen.

Die Bundesregierung lehnt diesen Vorschlag der EU-Kommission deshalb ab.

Zu den Kernthemen einer EU-Nachhaltigkeitsstrategie gehört für mich vor allem die Neuorientierung der europäischen Agrarpolitik und ihre Verknüpfung mit den Themen Umwelt und Gesundheit. Gerade in diesem Bereich gibt es gute Voraussetzungen, um europaweit eine nachhaltige Entwicklung einzuleiten.

Die Krise der Landwirtschaft hat die Notwendigkeit entsprechender Reformen deutlich gemacht. Und in kaum einem anderen Gebiet hat die Europäische Union so umfassende Kompetenzen.

Wir haben die Chance, nachhaltige Landwirtschaft jetzt zu einem großen europäischen Projekt zu machen. In Göteborg muß deutlich werden, dass wir diese Chance nutzen wollen.

Wir machen nicht nur Vorschläge für die europäische Strategie. Zukunftsfähigkeit ist auch der rote Faden des Regierungshandelns in Deutschland.

Die amerikanische Regierung will die in Kyoto vereinbarte Verminderung der Treibhausgase nicht umsetzen, weil dies angeblich der Wirtschaft schade. Hintergrund sind die aktuelle wirtschaftliche Lage in den USA und die Versorgungsengpässe in Kalifornien.

Uns liegt genauso viel an einer leistungs- und wettbewerbsfähigen Energiewirtschaft wie dem amerikanischen Präsidenten. Und dennoch - oder besser - gerade deshalb halten wir an unserer offensiven Klimaschutzpolitik fest.

Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass wir den angeblichen Gegensatz zwischen Klimaschutz und den berechtigten energiewirtschaftlichen Zielen überwinden und im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung beide Ziele optimal miteinander verknüpfen wollen.

Die Steigerung der Energie- und Ressourceneffizienz ist nicht nur ökologisch, sondern auch energiewirtschaftlich der strategisch richtige Ansatz:

Denn weniger Energieverbrauch bedeutet nicht nur weniger Treibhausgase, sondern auch weniger Energiekosten für die Wirtschaft. Der Einsatz innovativer, effiezienter Technologien rechnet sich also doppelt.

Die meisten Unternehmen haben das längst erkannt: Sie suchen gezielt nach Energiesparmöglichkeiten und investieren in moderne Energietechnik. Und davon gehen wieder Impulse für mehr Beschäftigung aus.

Wir nutzen die Wachstumschancen, die sich aus der ökologischen Notwendigkeit zum Klimaschutz ergeben.

Wer dagegen jetzt beim Klimaschutz nachläßt, wird auf dem Zukunftsmarkt hocheffizienter Energietechnologien seine Wettbewerbsfähigkeit verschlechtern.

Nachhaltige Energiepolitik bedeutet auch, technologische Pfade, die sich als nicht zukunftsfähig erwiesen haben, zu verlassen.

Kernenergie ist keine nachhaltige Form der Stromerzeugung. Denn dabei entstehen in großem Umfang radioaktive Abfälle, die künftige Generationen belasten. Wir haben uns deshalb mit den Energieversorgungsunternehmen darauf verständigt, die Laufzeiten der Kernkraftwerke zu begrenzen und keine Neuanlagen zu genehmigen.

Der Bundeskanzler wird heute abend gemeinsam mit den Vorstandsvorsitzenden der Energieversorgungs-Unternehmen die Vereinbarung über die geordnete Beendigung der Kernenergienutzung unterzeichnen.

Damit ist der Ausstieg aus der Kernenergie besiegelt.

Wir haben aber von Anfang an gesagt, dass es nicht reicht, nur aus der Kernkraftnutzung auszusteigen. Wir sagen auch, was an die Stelle der Kernkraftwerke treten soll.

Im Mittelpunkt einer zukunftsfähigen Energiepolitik stehen die Steigerung der Energieeffizienz und der Ausbau der erneuerbaren Energien. Das ist unsere Antwort auf steigende Ölpreise und auf die Herausforderungen des Klimaschutzes.

Mit der ökologischen Steuerreform haben wir wirksame Anreize zur Steigerung der Energieeffizienz gesetzt.

Vor gut einem Jahr ist das Erneuerbare-Energien-Gesetz in Kraft getreten, mit dessen Hilfe wir den Anteil erneuerbarer Energien bis zum Jahr 2010 verdoppeln wollen. Das bislang erzielte Ergebnis kann sich sehen lassen.

So sind im vergangenen Jahr in Deutschland Windkraftanlagen mit einer Leistung von rund 1660 Megawatt errichtet worden. Damit ist die installierte Leistung auf mehr als 6000 Megawatt gestiegen.

Die installierte Windkraft-Leistung entspricht - rein rechnerisch - bereits fünf Kernkraftwerken. Allein die Windenergie hat im Jahr 2000 rund 7 Millionen Tonnen CO2 eingespart und damit einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz geleistet.

Schließlich sind - und das ist besonders erfreulich - 30.000 neue Arbeitsplätze geschaffen worden.

Ein weiteres Beispiel ist unser CO2 -Gebäudesanierungsprogramm, das Anfang dieses Jahres angelaufen ist. Bis 2005 stellen wir aus dem Bundeshaushalt insgesamt 2 Milliarden DM für zinsgünstige Kredite zur Verfügung, die über die KfW abgerufen werden können. Damit können Hausbesitzer undichte Fenster austauschen, Fassaden isolieren und Heizungen erneuern. Diese Maßnahmen sparen Energie, senken die Heizkosten und sollen den CO2 -Ausstoß um abermals bis zu 7 Millionen Tonnen verringern.

Gleichzeitig schafft und sichert das Programm Arbeitsplätze in der mittelständischen Bauwirtschaft sowie im Sanitär- und Heizungsgewerbe.

Der Staatssekretärsausschuss für Nachhaltige Entwicklung wird in Kürze weitere Projeke auf den Weg bringen.

Im Bereich "Zukunftsfähige Energieversorgung" setzen wir zum Beispiel auf offshore-Windparks. Schon jetzt liegen dafür Anträge in einer Größenordnung von über 10.000 MW vor. Diese Potenziale müssen wir nutzen. Wir wollen entsprechende Gebiete ausweisen und damit den Weg für effiziente offshore-Windkraftnutzung freimachen.

Einen weiteren Schwerpunkt bei der "Zukunftsfähigen Energieversorgung" legen wir auf die Brennstoffzelle. Sie kann in unseren Häusern Strom und Wärme gleichzeitig liefern.

Durch das Zusammenschalten vieler solcher Anlagen zu einem "virtuellen Kraftwerk" könnte die Brennstoffzelle zu einer Schlüsseltechnologie für einen Strukturwandel hin zu einer dezentralen, hocheffizienten Energieerzeugung werden.

Gleiches gilt möglicherweise für den Einsatz der Brennstoffzelle in Fahrzeugen. Vor über hundert Jahren wurden in Deutschland mit der Erfindung des Otto- und des Dieselmotors die Grundlagen für die Massenmobiltät des 20. Jahrhunderts gelegt.

Wenn wir diese Mobilität unter den geänderten ökologischen Bedingungen des 21. Jahrhunderts erhalten wollen, brauchen wir heute wieder einen solchen technologischen Quantensprung.

Deutschland ist schon heute weltweit führend, wenn es um wasserstoffbetriebene Antriebskonzepte geht. Gemeinsam mit der Automobilindustrie und der Mineralölwirtschaft wollen wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass das erste zero-emission-car in Deutschland in Serie geht.

Zu umweltverträglicher Mobilität gehört selbstverständlich ebenso die Stärkung des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs.

Auch hier wollen wir Projekte im wahrsten Sinne "auf die Schiene setzen".

In Modellregionen wollen wir zeigen, dass die Bahn nicht nur auf den Hauptstrecken, sondern auch in der Fläche attraktiv sein kann. Dazu gehört u. a. die Verbesserung des Netzzugangs.

In unserem dritten Schwerpunktbereich "Umwelt, Ernährung und Gesundheit" werden wir in Modellregionen die Idee einer multifunktionalen Landwirtschaft praktisch erproben. Hier geht es darum, den Betrieben vor Ort neben der Nahrungsmittelproduktion zusätzliche Einkommensquellen zu erschließen, beispielsweise im Tourismus oder in der Erzeugung von Biomasse.

Auch dieses Projekt zeigt die Verknüpfung von ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Gesichtspunkten.

Die beste Strategie und erfolgreiche Pilotprojekte würden nicht ausreichen, wenn sich die Erwartung nur an die Regierung richtete. Eine nachhaltige Entwicklung kann nicht vom Staat verordnet werden.

Nur wenn auch Wirtschaft und Gesellschaft das Thema zu ihrer Sache machen, werden wir Erfolg haben. Wir brauchen deshalb eine breite öffentliche Diskussion darüber, auf welchen Wegen wir eine nachhaltige Entwicklung erreichen. Für diesen gesellschaftlichen Dialog kommt dem vom Bundeskanzler eingesetzten Rat für Nachhaltige Entwicklung zentrale Bedeutung zu. Der Rat hat im April seine Arbeit aufgenommen.

Ich bin sicher: Wir werden vom Rat wichtige weiterführende Impulse für die na-tionale Nachhaltigkeitsstrategie und Vorschläge für konkrete Maßnahmen bekommen.

Der Rat wird ein Forum für die vielen Aktivitäten und Ideen sein, die es in der Gesellschaft gibt. Dazu gehören beispielsweise die vorbildlichen Initiativen im Rahmen der Lokalen Agenda 21, die wir heute schon in vielen Gemeinden finden.

Wie wollen wir in Zukunft leben? Auf diese Frage eine Antwort zu geben und mit festem Blick auf die Realitäten eine konkrete Vision zu entwickeln, ist eine große Herausforderung für Deutschland und Europa. Die Bundesregierung hat diese Herausforderung angenommen.

Wir setzen Rahmenbedigungen für nachhaltige Entwicklung und initiieren neue, zukunftsfähige Entwicklungen. Wir setzen dabei vor allem auf die Kreativität der Menschen, auf ihre innovativen Ideen. Eine europäische Debatte über nachhaltige Entwicklung sollte meiner Meinung nach die nationalen Strategien bündeln und im Sinne von best practice zu einem europaweiten Wettbewerb der besten Ideen führen.