Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 04.12.2001

Untertitel: Regine Hildebrandt war eine kämpferische Frau und Politikerin. Sie hat gekämpft - und häufig das erreicht, was ihr wichtig war.
Anrede: Sehr geehrte Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/40/64340/multi.htm


verehrte Familie Hildebrandt! Wer kämpft, der kann verlieren.

Wer nicht kämpft, der hat schon verloren."

Mir scheint, es gibt nur wenige Menschen, zu deren Leben dieser Satz von Bertolt Brecht so gut passt wie zu Regine Hildebrandt.

Regine Hildebrandt war eine kämpferische Frau und Politikerin. Sie hat gekämpft - und häufig das erreicht, was ihr wichtig war. Doch ihre Erfolge haben sie nie überheblich gemacht. Und sie hat nicht nur einmal in ihrem Leben das Scheitern erfahren. Doch das hat sie nie entmutigt.

Sie wusste um die Vergänglichkeit von Erfolgen - aber auch von Niederlagen. Sie wusste, dass die kleinen und die großen Dinge des Lebens - und ganz obenan die Freiheit der Menschen - jeden Tag aufs Neue erkämpft werden müssen. Aber dass sie auch erkämpft werden können.

Sie hat uns allen gezeigt: Wenn man die Dinge so nimmt, wie sie sind, heißt das noch lange nicht, sich mit ihnen abzufinden.

Regine Hildebrandt war eine Frau, die anderen Menschen Mut gemacht hat. Eine, die Zuversicht geben konnte. Für viele Menschen, nicht nur in Not und Verzweifelung, war sie eine Hoffnung. Es lohnt, aufrichtig zu sein und sich für die Probleme zu interessieren - das war ihre Botschaft.

Unrecht und Ungerechtigkeit konnte sie genauso erzürnen wie Selbstmitleid und Selbstgerechtigkeit. Resignation war ihre Sache nicht. Sie hat nie über den Undank der Geschichte gejammert. Nie über die sogenannten Verhältnisse lamentiert. Und auch ihr persönliches Schicksal hat sie nie beklagt. Den Kopf hängen lassen - das war für sie selbst undenkbar. Und das hat sie auch anderen nicht durchgehen lassen.

Dass Regine Hildebrandt eine kämpferische Frau und Politikerin war, das haben nicht zuletzt ihre politischen Freunde erfahren. Wenn sie für eine Sache stritt, wenn sie von einer Sache überzeugt war, dann konnte sie hart sein wie Stahl. Sie war keine, die schnell aufgab; und auch keine, die sich um des lieben Friedens willen von ihrer Meinung abbringen ließ.

Gewiss, sie konnte anderen zuhören. Aber vor allem konnte sie ihre Gesprächspartner stets so überzeugen, dass sie ihr ganz einfach zuhören mussten.

Der Wirkung ihrer Worte und ihrer Sprache konnte sich niemand entziehen. Sie sagte, was sie dachte. Direkt und ohne Umschweife, sozusagen völlig ungeschützt. Sie hat sich nie verbiegen wollen, deswegen waren ihr taktische Winkelzüge fremd. Eine Meisterin der hohen Diplomatie war sie vielleicht nicht. Aber sicher auch keine weltvergessene Missionarin. Sondern ein pragmatischer, ein zupackender Mensch, dem viele tausend kleine Schritte in der Politik mindestens ebenso wichtig waren wie der eine, der vermeintlich ganz große Sprung.

Kämpferisch war Regine Hildebrandt auch sich selbst gegenüber. Schonung versagte sie sich selbst dann noch, als sie bereits unheilbar erkrankt war. Manch einer mag sich gefragt haben, warum legt sie nicht einmal eine Pause ein? Warum mutet sie sich so viele Auftritte und Veranstaltungen zu?

Wer Regine Hildebrandt kannte, der weiß: Für sie war das alles selbstverständlich. Denn neben der Familie und neben dem Glauben hat Regine Hildebrandt aus der Politik, aus der Begegnung mit Menschen und aus der Arbeit für die Menschen in Ost und West ihre Kraft und ihre Energie geschöpft.

Wenn es stimmt, dass unser Leben nur dann einen Sinn hat, wenn wir ihm selbst einen Sinn geben, dann hat uns Regine Hildebrandt eindringlich vorgelebt, worin solch ein Sinn bestehen kann.

Aber, auch wenn man sie gelegentlich als eine Art Johanna von Orleans verklärt hat - bei all ihrer Energie und ihrem Kampfesmut strahlte sie immer auch eine Herzenswärme aus, der sich niemand entziehen konnte. Wenn man das von einem Menschen sagen kann, dann sicher von ihr: Regine Hildebrandt hat dazu beigetragen, unsere Gesellschaft ein wenig aufgeschlossener, ein wenig mitfühlender, ein wenig menschlicher zu machen.

Sie, die Stimme des Ostens, hat großen Anteil, dass unser Land nach 40 Jahren der Teilung auf dem Weg zur inneren Einheit immer wieder vorangekommen ist. Wie nur ganz wenige in der Politik hat Regine Hildebrandt die Zuneigung und die Zustimmung der Menschen erfahren. Nicht nur im Osten, auch im Westen.

Und keineswegs nur in Deutschland. Nicht erst ihr Tod brachte Regine Hildebrandt auf die Titelseiten der größten Zeitungen Europas. Ob in England, Frankreich oder Italien: Überall war sie den Menschen ein Begriff, wenn nicht sogar der Begriff für das zusammenwachsende Deutschland. Für die Schmerzen bei diesem Zusammenwachsen, aber auch für das große Glück, gemeinsam in einem freien Land leben zu können.

Natürlich hat Regine Hildebrandt auch polarisiert. Aber noch mehr hat sie Menschen zusammengeführt.

Und das ist wohl der wichtigste Teil ihres politischen Vermächtnisses: Dass wir die deutsche Einigung als Einigung der Menschen, mit ihren Besonderheiten und ihren besonderen Fähigkeiten, begreifen. Dass jeder zupacken muss, aber auch jeder beitragen kann. Dass die Einheit gelingen wird, wenn die Deutschen im Westen und im Osten ihre Leistungen und Erfahrungen einbringen können.

Der Tod von Regine Hildebrandt hinterlässt eine große Lücke in der Politik und in der Gesellschaft. Sie war eine außergewöhnliche, eine einmalige Frau. Es wird unmöglich sein, die Lücke zu schließen, die sie hinterlässt.

Aber genau das hätte Regine Hildebrandt wohl von uns verlangt: Dass wir versprechen, ihr Werk fortzusetzen und zu vollenden. Dass wir uns bemühen, ihren Weg weiterzugehen.