Redner(in): Julian Nida-Rümelin
Datum: 02.12.2001

Untertitel: Staatsminister Julian Nida-Rümelin begrüßte am 2. Dezember 2001 die Wiedereröffnung der Alten Nationalgalerie auf der Berliner Museumsinsel.
Anrede: Sehr geehrter Herr Präsident Lehmann, sehr geehrter Herr Generaldirektor Schuster, meine sehr geehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/72/64172/multi.htm


der heutige Tag ist ein Tag der Vollendung, verbunden mit der Fortsetzung einer großen Tradition: Wir erleben die Wiedereröffnung der Alten Nationalgalerie nach dreijähriger Generalsanierung genau im 125. Jahr ihres Bestehens. Sie vereint nun erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wieder den Gesamtbestand dieser Sammlung zur Kunst des 19. Jahrhunderts.

Ich freue mich sehr, Sie alle heute zu diesem Ereignis begrüßen zu dürfen, auch im Namen des Bundeskanzlers, der mich gebeten hat, ihn zu vertreten.

Die Berliner Museumsinsel nimmt in der kulturellen Landschaft Deutschlands und Europas eine herausragende Stellung ein. Der Instandsetzung ihrer Gebäude und der Neugestaltung ihrer Sammlungen kommt deshalb eine eminente kulturpolitische Bedeutung zu. Im Rahmen der Umsetzung des Gesamtkonzepts für die Museumsinsel markiert die Eröffnung der Alten Nationalgalerie einen wichtigen, weithin sichtbaren Schritt.

Diese Wiedereröffnung ist in erster Linie ein Grund zur Freunde für alle kunstinteressierten Bürgerinnen und Bürger. Erfreulich ist aber auch, dass in einer gemeinsamen Anstrengung aller Beteiligten die zeitlichen und die finanziellen Planungen eingehalten werden konnten. Angesichts der mit der historischen Bausubstanz verbundenen Unwägbarkeiten stellt dies keine pure Selbstverständlichkeit dar. Die Nationalgalerie ist denkmalgerecht und mit allen Erfordernissen moderner Museumstechnik glanzvoll wiederhergestellt worden.

Dafür danke ich ganz herzlich Ihnen, Herr Merz, als dem verantwortlichen Architekten für diese Generalsanierung und Ihnen, Herr Prof. Lehmann und Herr Prof. Schuster als Verantwortlichen seitens der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Und ich danke Ihnen, Herr Mausbach, als dem Präsidenten des zuständigen Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung, all Ihren Mitarbeitern und den für dieses Haus zuständigen Baureferenten der Staatlichen Museen, Ihnen, Frau Dr. Holan, Ihnen, Herr Dr. Maaz, und nicht zuletzt Ihnen, Herr Prof. Dube, der Sie in Ihrer Zeit als Generaldirektor für die Museen die entscheidenden Weichen für diesen Bau gestellt haben. Sie, die Denkmalpfleger, die Restauratoren und die Kunsthandwerker - darunter viele aus Süddeutschland - , Sie und die vielen Arbeiter am Bau, Sie alle haben für die Wiederherstellung dieses imponierenden Gebäudes Großartiges geleistet.

Deutschland ist eine späte und eine schwierige Nation. Im Unterschied zu anderen Ländern - Frankreich beispielsweise - vollzog sich der Prozess der Nationenbildung in Deutschland zunächst in den Medien der Sprache und der Kunst und nahm dann erst eine realpolitische Gestalt an. Dieses Spezifikum spiegelt sich auch in der Geschichte der Alten Nationalgalerie: 1865 bezeichnete der Architekt Friedrich August Stüler bereits den Entwurf als "Nationalgalerie". Der Bau nahm also die politische Einheit der Deutschen um einige Jahre vorweg. Bevor Deutschland politisch zur Nation wurde, fand die seit der bürgerlichen Revolution von 1848 entwickelte Idee einer Kulturnation in der Nationalgalerie bereits ihren Ausdruck. Man könnte sagen: Die Einheit der Deutschen wurde im Museum antizipiert.

Wer hier im Treppenhaus den aus der Erbauungszeit stammenden Fries von Otto Geyer betrachtet, wird nicht ohne Vergnügen feststellen, wie dort Ludwig I. von Bayern gemeinsam mit seinem Schwager Wilhelm IV. von Preußen, dem Begründer der Museumsinsel, auf dem Doppelthron der Kunst Platz genommen hat. Von links wenden sich die Künstler aus München - Klenze, Schwanthaler und Schwind - und von rechts die Berliner Künstler wie Schinkel, Schadow und Rauch gemeinsam den auf dem Thron der Kunst platzierten Schutzherren zu.

Die Interpretation dieses Arrangements liegt nahe: Eine genuine Nationalgalerie konnte auch damals schon von keinem der deutschen Teilstaaten allein begründet werden. Auch Preußen - unter dessen Vorherrschaft Deutschland 1871 noch während der Bauzeit dieses Gebäudes dann tatsächlich auch politisch zur nationalen Einheit fand - , auch Preußen konnte eine Nationalgalerie nicht für sich allein begründen. Einzig durch das Zusammenwirken der verschiedenen Kunstzentren in Deutschland konnte damals diese Nationalgalerie entstehen und sich als solche legitimieren. Wir eröffnen also auch historisch gesehen eine im besten Sinne "föderale" Nationalgalerie

Man hat diese Nationalgalerie, erbaut von 1865 bis 1876, als ein aufgeschlagenes Lesebuch bezeichnet, dessen reicher Inhalt Antworten auf die Frage nach der deutschen Identität formuliere. Daraus folgt aber keinesfalls zwingend eine fortdauernde Beschränkung auf die nationale Binnenperspektive. Wenn wir heute diese Nationalgalerie mit ihrer trotzig-patriotischen Giebel-Inschrift "Der Deutschen Kunst 1871" durchaus selbstverständlich in einem Raum mit Meisterwerken des französischen Impressionismus wieder eröffnen, ist das auch ein deutliches Indiz dafür, dass eine verengte Vorstellung von nationaler Kultur obsolet geworden ist. Gerade in der Kunst und durch die Kunst zeigt sich, in welchem Ausmaß sich nationale und internationale Kontexte überlappen.

Wie international und mit offenem Blick über die eigenen Grenzen hinaus gerade diese Nationalgalerie agierte, wie wenig sie sich von ihrer Giebel-Inschrift hat einschränken lassen, belegen die Werke des französischen Impressionismus hier im Saal. Erworben wurden sie in rascher Folge seit 1896 von Hugo von Tschudi- einem Ausländer, einem Schweizer Aristokraten, der als Direktor der Nationalgalerie die Ausrichtung der Sammlung maßgeblich prägte. Fast alle diese Ankäufe tragen das Prädikat "Erstmals". Das Gemälde "Der Wintergarten" von Manet, hier an der Stirnwand, ist der erste Manet, der von einem Museum angekauft wurde. Und die Landschaft von Cézanne hier - von Ihnen aus - rechts im Saal, ist das erste Gemälde von Cézanne, das in ein Museum Eingang gefunden hat. Bereits im Dezember 1896, genau vor 105 Jahren, veranstaltete Hugo von Tschudi in diesen beiden Sälen die erste Impressionismus-Ausstellung, die es je im Museum gab.

Damit interpretierte Tschudi die Giebel-Inschrift "Der Deutschen Kunst" um. Er verstand sie so, dass die Nationalgalerie all das zeigen solle, was für die Kunst - und eben auch die deutsche - wichtig sei. Und nichts schien ihm so wichtig und richtungsweisend zu sein wie gerade die französischen Impressionisten.

Die Geschichte der Nationalgalerie ist auch eine des bürgerschaftlichen Engagements für Kunst und Kultur: Erworben hat Tschudi all diese Bilder mit der Unterstützung privater Mäzene, wohl wissend, dass staatliche Mittel für die Kunst des so genannten Erbfeindes nicht zur Verfügung standen. Als der Kaiser schließlich seine Zustimmung für weitere Erwerbungen französischer Kunst verweigerte, weil er sie als Provokation für eine deutsche Nationalgalerie empfand, nahm Tschudi die von ihm bereits auf Vorrat gekauften Bilder von Cézanne, Gauguin und Van Gogh nach München mit, wo er zum Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlung berufen worden war und wo diese Bilder heute zu den Glanzstücken der Neuen Pinakothek zählen. Insofern hat die Nationalgalerie, durch kaiserliche Autorität dazu genötigt, auch ganz unfreiwillig Kulturföderalismus in bester Qualität betrieben.

Das Verdienst, erstmals die europäische Moderne im Museum etabliert zu haben, dieser besondere Rang hat die Nationalgalerie auch unter Tschudis Nachfolgern ausgezeichnet. Das Kronprinzen-Palais Unter den Linden, von Ludwig Justi seit 1919 als Dependance der Nationalgalerie für die Kunst des 20. Jahrhunderts eingerichtet, wurde mit seinen reichen Sammlungen zum deutschen Expressionismus und zur Neuen Sachlichkeit, aber auch mit Werken Picassos und des Kubismus zu einem der meist diskutierten Museen der Moderne. Mit seiner Ausweitung des Museums bis in die aktuelle Gegenwart wurde die Berliner Nationalgalerie nicht zuletzt für das 1929 begründete Museum of Modern Art in New York zum Vorbild.

Die Geschichte der Nationalgalerie spiegelt allerdings auch die dunkelsten Seiten der Geschichte des deutschen Nationalstaates. Spätestens 1937, mit dem nationalsozialistischen Bildersturm gegen die so genannte "" Entartete Kunst" war die große Zeit der Nationalgalerie beendet. Die Bilder wurden beschlagnahmt, verkauft und das Kronprinzen-Palais als Sammlung der Moderne geschlossen. Keine Institution wurde durch die Kunstdiktatur der Nationalsozialisten und ihre Vorstellungen von dem, was gute deutsche Kunst sei, so ausgeplündert wie die Nationalgalerie. Von diesem Akt kultureller Verwüstung schwer getroffen, hat die Nationalgalerie trotz vielfältiger und anhaltender Bemühungen - gerade auch durch private Mäzene - bis heute noch nicht den Glanz und den Reichtum der einstigen Sammlung im Bereich der Moderne wieder herstellen können.

Es ist mir gerade vor diesem Hintergrund eine große Freude, dass es durch die gemeinsame Anstrengung des Bundes und des Landes Berlin gelungen ist, zu Beginn dieses Jubiläumsjahres zum 125. Bestehen der Nationalgalerie, Ihre Sammlung, verehrter Herr Berggruen, dauerhaft für die Staatlichen Museen zu sichern. Ihre Sammlung "Picasso und seine Zeit" fügt dem Bereich, in dem die Nationalgalerie so schmerzlichen Schaden genommen hat, einen ganz neuen Kontinent hinzu. Ohne Ihr großzügiges Entgegenkommen wäre das nicht möglich gewesen.

Die Museumsinsel nimmt in der kulturellen Topographie Deutschlands einen zentralen Ort ein. Bund und Länder tragen für sie durch die Förderung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz gemeinsam die kulturpolitische Verantwortung, wobei der Bund jeweils rund 3/4 der Baukosten und des Betriebshaushaltes übernimmt. Dieses Engagement darf aber keinesfalls im Sinne einer Abkehr von der Multipolarität der föderal verfassten Kulturlandschaft Deutschlands interpretiert werden. Ein Bekenntnis zum Föderalismus und ein besonderes Engagement für zentrale Orte schließen sich nicht aus.

Wenn Sie Ihren Blick über die Museumsinsel schweifen lassen, und wenn Sie dann ganz nach rechts zum Neuen Museum hinüber blicken, diesem für die bedeutende Ägyptische Sammlung erbauten Haus, das als kaum gesicherte Kriegsruine bis heute noch im Grunde in einem Zustand der Zerstörung ist, dann sehen Sie die Schönheiten, aber Sie sehen auch die Verpflichtungen, die wir gemeinsam noch vor uns haben für den Wiederaufbau dieser einzigartigen "Freistätte für Kunst und Wissenschaft", wie Friedrich Wilhelm IV. die Museumsinsel bezeichnete.

Und wenn Ihr Blick in gerader Richtung auf den Schlossplatz und auf die bauliche Leere in der Mitte Berlins fällt, dann wird deutlich, wie notwendig ein stimmiges Nutzungs- und Bebauungskonzept für dieses Areal ist. Aus meiner Sicht ist eine kulturelle Nutzung die einzig überzeugende Option, auch angesichts des Kontextes. Mit der Konzeption eines "Humboldt-Forums" haben wir dazu einen Vorschlag gemacht, der von der internationalen Schlossplatz-Kommission und der Öffentlichkeit sehr positiv aufgenommen wurde.

Im Zentrum der kulturellen und wissenschaftlichen Nutzung soll der Dialog der Kulturen und der Wissenschaften stehen. Die Offenheit für die Kulturen der Welt - Stichwort Dahlemer Sammlungen - soll hier mit der traditionell verankerten wissenschaftlichen Forschung verbunden werden, indem die Verflechtungen zwischen Kultur und Wissenschaft, zwischen Tradition und Moderne für eine breite Öffentlichkeit erlebbar gemacht werden.

Die Realisierung eines Raumes der Kultur und der Bildung, der sich von der Museumsinsel bis zum Schlossplatz erstreckt, ist allerdings eine gewaltige Aufgabe, die der Staat alleine nicht finanzieren kann. Der Bund wird zu seiner Verantwortung für die Weiterentwicklung und den Betrieb der in der Stiftung Preußischer Kulturbesitz versammelten Institutionen stehen. Doch ohne private Hilfe, Stifter, Mäzene und Sponsoren wird es nicht gehen. Das eben ins Leben gerufene Museumsinsel-Kuratorium, in dem sich Vertreter der Wirtschaft mit tatkräftiger finanzieller Unterstützung engagieren, ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Und mit Blick auf den ordnungspolitischen Rahmen für bürgerschaftliches Engagement darf ich in diesem Zusammenhang vielleicht darauf hinweisen, dass die Bundesregierung die steuerlichen Bedingungen für Stifter und Stiftungen im vergangen Jahr deutlich verbessert hat, und dass wir mit einer Initiative zum Stiftungszivilrecht weitere Impulse geben werden.

Die große Wand mit den Stifternamen im Foyer der Nationalgalerie verweist auf den bürgerlichen Gemeinsinn, der sich für die Künste engagiert. Auch die Nationalgalerie ist ja seinerzeit nicht vom Staat, sondern durch die Privatinitiative des Berliner Bankiers und Konsuls Johann Heinrich Wilhelm Wagener möglich geworden. Erst als er seine Sammlung zeitgenössischer deutscher und internationaler Kunst 1861 dem preußischen Staat vermachte, entschloss sich dieser zum Bau der Nationalgalerie. Mit Wageners Namen beginnt deshalb die Stiftertafel, dann folgt als weiterer Mäzen aus dem jüdischen Großbürgertum Noah Jacobson - und dann erst der Name des preußischen Königs. Daran schließen die Namen aller Stifter der Nationalgalerie bis heute an, sie ergeben eine höchst aufschlussreiche Ahnenreihe. Heute wird die Alte Nationalgalerie der Öffentlichkeit wieder gegeben - ganz im Sinne der Stifter, die ihr zu Größe und Bedeutung verholfen haben.

Ich freue mich für uns alle über diese neue Alte Nationalgalerie!