Redner(in): Julian Nida-Rümelin
Datum: 01.12.2001

Untertitel: Staatsminister Julian Nida-Rümelin eröffnete am 1. Dezember 2001 im Berliner neuen Tempodrom die Verleihung des Europäischen Filmpreises.
Anrede: Sehr geehrter Herr Präsident, lieber Wim Wenders, sehr geehrte Nominierte und Preisträger,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/29/64129/multi.htm


Staatsminister Julian Nida-Rümelin eröffnete am 1. Dezember 2001 im neuen Berliner Tempodrom die Verleihung des Europäischen Filmpreises. sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister, Exzellenzen, meine Damen und Herren!

Die Europäische Filmakademie macht Berlin heute Abend einmal mehr zu einer Hauptstadt des europäischen Films. Und Berlin bedankt sich mit einer Premiere: Das neue Tempodrom hätte sich kaum einen schöneren Anlass für seine feierliche Eröffnung wünschen können! Ich beglückwünsche den Hausherren zu diesem wunderbaren Ort.

Auf den ersten Blick mag es dem einen oder anderen vielleicht unpassend erscheinen, in einer Zeit, die von schwer wiegenden politischen Entscheidungen, von Terror und Krieg, aber auch von dem Bemühen um friedliche Lösungen geprägt ist, Veranstaltungen wie die heutige wieder selbstverständlich stattfinden zu lassen. Aber ich glaube, wir dürfen nicht zulassen, dass das Netz einer komplexen Gesellschaft, ein Netz, das Kultur, Wirtschaft, Politik und Wissenschaft miteinander verbindet, in dieser Situation zerreißt. Kunst und Kultur können vermitteln, öffnen, neugierig machen auf die Lebensformen anderer Menschen und Gesellschaften. Gerade der Film als Gesamtkunstwerk kann dazu einen wesentlichen Beitrag leisten. Nicht, indem er Unterschiede einebnet oder Konflikte leugnet, sondern indem er das vermeintlich oder tatsächlich Fremde näher bringt.

Sehr geehrte Damen und Herren,

wenn wir heute Abend in Berlin zusammenkommen, so ist das auch ein Zeichen, ein Signal an diejenigen, die die Entstehung von Filmen möglich machen, die schreiben, inszenieren und produzieren. Sie sitzen heute Abend im Publikum. Ich möchte Sie ermutigen: Wir brauchen Sie und Ihre Ideen, gerade jetzt.

Der Film ist eine vergleichsweise junge Kunstform. An vielen Orten der Welt arbeiteten vor hundert Jahren Menschen auf je eigene Weise an ihrer Methode, die Bilder zum Laufen zu bringen. Und von Anfang an dienten diese Bilder nicht nur dazu, Realitäten abzubilden, sondern sie erzählten auch Geschichten. Geschichten, die mittelbar oder unmittelbar mit dem Leben der Menschen zu tun haben. Nicht jede hat ein Happy End, manche sind Tagträume oder Projektionen, Geschichten von möglichen Welten, einem anderen, häufig einem besseren Leben.

Der Film war von Anfang an ein internationales Phänomen, und an diese Internationalität knüpft die European Film Academy an. Heute werden in Europa Jahr für Jahr etwa 850 Filme produziert, das sind 160 mehr als in den Vereinigten Staaten. Trotz dieses beachtlichen Produktionsvolumens beträgt der Anteil der europäischen Filme am europäischen Markt gerade mal zehn Prozent. Woran das liegt, darüber lässt sich lange diskutieren - ich will das hier nicht tun. Aber man macht es sich ganz sicher zu leicht, wenn man eine schlichte Opposition - hier Europa, dort Hollywood - konstruiert.

In Wirklichkeit gibt es einen sehr fruchtbaren künstlerischen Austausch, von dem der europäische Film durchaus profitiert. Ein Beispiel: Jean-Pierre Jeunet, der Regisseur des in ganz Europa immens erfolgreichen Films "Die fabelhafte Welt der Amélie" hatte vorher eine Großproduktion für ein Hollywoodstudio inszeniert. Natürlich lässt sich der Erfolg von Filmen nicht nur an den Einspielergebnissen festmachen: Der künstlerische Erfolg des Europäischen Films lässt sich zum Beispiel an der beeindruckenden Liste der bisherigen Preisträger des Europäischen Filmpreises ablesen oder an der Liste der diesjährigen Nominierungen. Dennoch: Der Europäische Film braucht natürlich auch ökonomischen Erfolg. Über die dafür notwendigen künstlerischen und unterhaltenden Qualitäten verfügt er.

Vor diesem Hintergrund wurde der Europäische Filmpreis 1988 in Berlin ins Leben gerufen um der kulturellen Vielfalt und dem erzählerischen Vermögen des europäischen Kinos eine angemessene Plattform zu geben. Die politische Dimension dieser Aufgabe wird auch im europäischen Einigungsprozess zunehmend erkannt: Die Mittel der EU für ihr Media-Programm konnten im vergangenen Jahr deutlich - auf nunmehr 400 Millionen Euro für einen Zeitraum von fünf Jahren - erhöht werden. Für das Eurimages-Programm des Europarates stehen aus Mitteln der Mitgliedstaaten jährlich rund 20 Millionen Euro zur Verfügung.

Wir stärken den europäischen Film auch dadurch, dass wir die jeweiligen nationalen Filmszenen stärker machen. Dies setzt aber voraus, dass wir die Entwicklungen in anderen europäischen Ländern aufmerksam verfolgen und positive Entwicklungen für den eigenen Bereich fruchtbar machen, sie sozusagen übersetzen. Das filmpolitische Konzept für Deutschland, das ich vor kurzem der Öffentlichkeit vorgestellt habe, basiert auf diesem Ansatz.

Schon seit längerem wird europaweit an einer engeren Zusammenarbeit im Filmbereich gearbeitet: So hat Deutschland mittlerweile bilaterale Filmabkommen mit 19 Partnerländern geschlossen. Auch das ist Teil der Rahmenbedingungen, die Möglichkeiten eröffnen für einen weiteren Aufschwung des europäischen Films. Deswegen mein Appell vor allem an Sie, die Kreativen und Produzenten. Nutzen Sie die Möglichkeiten, die in diesen Kooperationen stecken!

Auf einen beeindruckenden Erfolg kann die European Film Academy selbst verweisen: Seitdem sie nun auch für Unternehmen der Filmindustrie geöffnet wurde, ist unter der Präsidentschaft von Wim Wenders die Zahl ihrer Mitglieder ganz erheblich auf inzwischen 1.300 gewachsen. Die Akademie ist also inzwischen das Forum der europäischen Filmindustrie und ihrer Kreativen. Ich beglückwünsche Sie, Herr Wenders, zu diesem Fortschritt: Sie sind ganz offensichtlich auf dem richtigen Weg.

Ich möchte abschließend einen Wunsch äußern: Lassen Sie uns gemeinsam weiter daran arbeiten, dass unsere Filme auch über die nationalen Grenzen hinaus gesehen werden. Lassen Sie uns Entdeckungen machen, Unterschiede anerkennen, voneinander lernen. Das Kino nimmt teil an dem Bemühen, eine Welt zu gestalten, in der Platz für alle ist. In der man einander Geschichten erzählt - manchmal auch mit Happy End.