Redner(in): Joschka Fischer
Datum: 05.12.2001

Untertitel: Die Vertreter Afghanistans haben in Bonn die sich ihnen bietende historische Chance ergriffen und den Weg zum Frieden geebnet. Jetzt stehen wir, die internationale Gemeinschaft, mit in der Verantwortung.
Anrede: Sehr geehrter Herr Brahimi, sehr geehrter Herr Oshima, sehr geehrter Herr Lubbers, sehr geehrter Herr Kellenberger, sehr geehrter Herr Malloch Brown, sehr geehrter Herr McKinley, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/75/64675/multi.htm


vor knapp sechs Wochen, am 27. September, haben wir uns zuletzt in diesem Kreis versammelt. Unsere Stimmung damals war alles andere als optimistisch. Die Zukunft Afghanistans schien düster, eine humanitäre Katastrophe kaum noch abwendbar. Auch heute noch ist die Lage für Millionen Menschen in Afghanistan und in den Flüchtlingslagern verzweifelt. Deshalb sind Ihre Beratungen hier in Berlin von allergrößter Wichtigkeit. Aber wie anders stellt sich jetzt die Perspektive dar!

Afghanistan und seine geschundenen Menschen stehen heute, nach 22 Jahren Krieg und Unterdrückung, an einem wahrhaft historischen Wendepunkt. Mit der Einigung auf dem Petersberg besteht zum ersten Mal seit langer Zeit wieder eine reale Chance für eine Zukunft in Frieden und Stabilität, eine Zukunft, die allen Menschen in Afghanistan, auch und gerade den Frauen, ihre Menschenrechte und ihre Würde garantiert. Eine Zukunft in einem freien, geeinten Land ohne Terrorismus, ohne Krieg und ohne Gewalt.

Die afghanischen Delegierten auf der Petersberger Konferenz haben der Welt ein Beispiel dafür gegeben, was es heißt, ernsthaft und verantwortungsbewußt mit politischen Interessen umzugehen. Sie verdienen für ihren Mut zum Kompromiß großen Respekt und Anerkennung. Sie, verehrter Herr Brahimi und ihr Team haben gezeigt, was die Vereinten Nationen zu leisten imstande sind, wenn sie eine wirkliche Vermittlungschance erhalten. Ich beglückwünsche alle, die zum Gelingen der Verhandlungen beigetragen haben, von ganzem Herzen zu dieser herausragenden Leistung. Die Vereinten Nationen werden auch für die nächsten Stufen des politischen Prozesses unsere volle Unterstützung brauchen und bekommen.

Die Verantwortung für die Verhandlungen über die politische Zukunft des Landes liegt in erster Linie in den Händen der Afghanen. Ihre Verantwortung endet aber nicht mit der Unterzeichnung des Petersberger Abkommens, sondern sie erstreckt sich auch auf die Verwirklichung der Beschlüsse im eigenen Land.

Hier ist die internationale Gemeinschaft massiv gefordert. Sie ist - dazu hat sie sich eindeutig bekannt - zu einer schnellen und wirklich großen Anstrengung für den Wiederaufbau Afghanistans bereit. Unabdingbare Voraussetzung dafür bleibt allerdings - daran sollte niemand zweifeln - dass die auf dem Petersberg erzielten Vereinbarungen ohne Abstriche umgesetzt und bei der Neuordnung Afghanistans die Menschenrechte die ihnen gebührende Beachtung finden werden. Dazu gehört an vorderster Stelle das Recht der Frauen auf eine angemessene und menschenwürdige Beteiligung in Staat und Gesellschaft. Wir erwarten zudem wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung des Drogenanbaus.

Herr Brahimi wird Sie gleich über die Ergebnisse der Petersberger Konferenz in ihren Einzelheiten unterrichten. Ich will dem nicht vorgreifen. Entscheidend für die Arbeit der Afghanistan Support Group ist, dass ab heute für Ihre Arbeit ein völlig neuer politischer Rahmen gilt: So steinig der Weg von Königswinter nach Kabul noch sein wird, seit heute können wir hoffen, daß die Entwicklung für Afghanistan nun endlich aufwärts geht.

Wir können hoffen, daß humanitäre Hilfe jetzt endlich in einem Rahmen stattfinden kann, der den Menschen mehr als das bloße Überleben ermöglicht. Sie ist von nun an eingebettet in eine zielgerichtete, konzertierte und langfristig angelegte Anstrengung, um Afghanistan nach mehr als zwanzig Jahren Krieg und Elend wieder in eine friedvolle und menschenwürdige Zukunft zu führen.

Ich bin mir sicher, daß dies für Sie und Ihre Arbeit einen gewaltigen Ansporn bedeutet. Ich möchte Sie eindringlich bitten: Lassen Sie uns alles in unserer Macht Stehende tun, um den Menschen in Afghanistan auch noch über die vor uns liegende, hoffentlich letzte Durststrecke zu helfen.

Die drängendste Aufgabe ist es jetzt, alle Kräfte darauf zu richten, daß die Menschen den beginnenden Winter überstehen. Die internationalen Organisationen, vor allem auch die afghanischen und die internationalen NGOs haben in den vergangenen Monaten unter schwierigen, oft gefährlichen Bedingungen hervorragende Arbeit geleistet.

Auch wenn sich die Zugangsmöglichkeiten insgesamt verbessert haben, in vielen Regionen herrschen weiter Chaos, Angst und Gewalt. Humanitäre Hilfe bleibt gerade in dieser Jahreszeit ein Wettlauf gegen die Zeit. Wenn nicht binnen weniger Wochen die Hilfe bei den Bedürftigen ankommt, werden trotz der neuen Lage viele Menschen sterben.

Transportwege müssen dringend verbessert werden, besonders wichtig sind die Öffnung der Brücke bei Termez und eine gesicherte Nutzung der Übergänge über den Grenzfluß Pjantsch. Gleiches gilt für das Minenräumen, ohne das landwirtschaftliche Aktivitäten nicht wieder beginnen können. Humanitäre Hilfe ist nicht an politische Konditionen geknüpft. Es muß Ziel dieses Treffens sein, alle, wirklich alle Möglichkeiten auszuschöpfen, damit unter den sich verschlechternden Wetterbedingungen die Hilfsgüter so rasch wie möglich überall dorthin gebracht werden können, wo sie dringend gebraucht werden.

Schon jetzt gilt es, auch konkrete Überlegungen anzustellen, wie die weitgehend zerstörten Strukturen des Landes rasch wieder hergestellt werden können. Die Europäische Union und die Internationale Gemeinschaft stehen bereit, dabei langfristig zu helfen. Eine erste Konferenz zum Wiederaufbau mit breiter Teilnahme westlicher Staaten und Organisationen hat schon vor zwei Wochen in Washington wichtige Weichen gestellt; auf dem Treffen in Islamabad letzte Woche sind Schwerpunkte benannt worden; eine große Geberkonferenz in Tokyo ist für Januar geplant. Für die Wirksamkeit jeder Hilfe wird es entscheidend sein, dass die internationalen Anstrengungen nicht zersplittern, sondern in einem einzigen gemeinsamen Fonds zusammengeführt werden. Auch die wirtschaftliche Einbindung der Nachbarstaaten in den Wiederaufbau Afghanistans ist von überragender Bedeutung. Sie enthält eine große Chance für die Entwicklung und für die Stabilität in der gesamten Region.

Meine Damen und Herren,

die Vertreter Afghanistans haben in Bonn die sich ihnen bietende historische Chance ergriffen und den Weg zum Frieden geebnet. Jetzt stehen wir, die internationale Gemeinschaft, mit in der Verantwortung. Afghanistan darf nicht noch einmal seinem Schicksal überlassen werden. Afghanistan ist auf eine massive, langfristige internationale Anstrengung für humanitäre Hilfe und Wiederaufbau angewiesen. Von dieser Konferenz muß deshalb ein klares Signal ausgehen: Wir werden die Menschen in Afghanistan in ihrem Hunger und ihrer Not nicht allein lassen. Wir werden ihnen helfen, die Vereinbarungen vom Petersberg Wirklichkeit werden zu lassen und Afghanistan endlich eine dauerhafte Chance auf eine bessere Zukunft zu geben.