Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 19.12.2001

Untertitel: "Ich begrüße Sie sehr herzlich zum ersten Jahresempfang hier, im neuen Bundeskanzleramt."
Anrede: meine sehr geehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/85/65785/multi.htm


Exzellenzen,

Ich begrüße Sie sehr herzlich zum ersten Jahresempfang im neuen Bundeskanzleramt. Vielleicht ist einigen unter Ihnen die Skulptur im Ehrenhof des Hauses aufgefallen. Sie ist ein Werk des spanischen Bildhauers Eduardo Chillida und trägt den Titel "Berlin". Diese großartige Skulptur soll den Weg der Deutschen von der Teilung zur Vereinigung symbolisieren. Zugleich ist Sie ein Zeichen verbindender Kräfte, etwa der Kraft der Toleranz, aber auch der Kraft der Solidarität. Toleranz, Solidarität und Verantwortung sind unverzichtbare Kernelemente unseres Staatsverständnisses.

Es sind genau jene Werte im Zusammenleben der Völker und Zivilisationen, die durch die terroristischen Anschläge vom 11. September angegriffen worden sind und die wir gemeinsam zu verteidigen haben. Die Bekämpfung des internationalen Terrorismus und seiner Netzwerke ist zu Beginn dieses Jahrhunderts eine der großen Aufgaben für alle Zivilisationen der Welt. Ich sage es ausdrücklich noch einmal: Dies ist nicht ein Kampf der Kulturen, sondern ein Kampf um die Kultur, und zwar weltweit.

Für die Bundesregierung war es nach den barbarischen Attentaten von New York und Washington selbstverständlich, im Kampf gegen den Terrorismus solidarisch an der Seite der Vereinigten Staaten von Amerika zu stehen. Der 11. September hat uns allen in einer Deutlichkeit ohnegleichen vor Augen geführt: Sicherheit in der einen Welt, in der wir leben, ist eben nicht teilbar; Sicherheit gibt es nur gemeinsam.

Mein Land ist gewillt, einen eigenen Beitrag im Kampf gegen den internationalen Terrorismus zu leisten, einen Beitrag, der die Bereitschaft der Deutschen zum Ausdruck bringt, der gewachsenen Verantwortung unseres Landes Rechnung zu tragen. Dies schließt - ich habe immer wieder darauf hingewiesen - auch die Bereitstellung von militärischen Möglichkeiten ein, und zwar exakt in dem Rahmen, den der Deutsche Bundestag am 16. November dieses Jahres beschlossen hat.

Die Vereinten Nationen haben mit zwei Resolutionen des Sicherheitsrates unmittelbar nach den Ereignissen vom 11. September ihre Handlungsfähigkeit bewiesen und die Pflicht der Staatengemeinschaft bekräftigt, den Terrorismus zu bekämpfen. Ohne eine Stärkung der Vereinten Nationen können Frieden und internationale Sicherheit auf Dauer nicht hergestellt und bewahrt werden.

Unter Vermittlung und unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen ist es auf der Petersberg-Konferenz gelungen, die Voraussetzungen für eine politische Neuordnung Afghanistans zu schaffen. Afghanistan hat nach vielen Jahren des Krieges, des Terrors, der Unterdrückung und der damit verbundenen Not für die Menschen endlich eine Perspektive auf Frieden und wirtschaftliche Entwicklung. Dieses so geschundene Land hat jetzt die Chance, zu einem selbstbestimmten Neuanfang, der alle ethnischen und politischen Gruppen des Landes einbezieht, zu kommen. Dies freut mich ganz besonders; denn uns Deutsche verbindet eine langjährige und traditionsreiche Freundschaft mit dem afghanischen Volk.

Der Friedens- und Wiederaufbauprozess in Afghanistan erfordert auch in Zukunft die Unterstützung nicht nur Deutschlands - wir werden diesen Prozess unterstützen - , sondern der ganzen Staatengemeinschaft. Neben der Bereitstellung humanitärer Hilfe, um die es zunächst vordringlich geht, muss der Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes auch materiell organisiert werden. Die Bundesregierung - seien Sie dessen sicher - wird hierzu ihren Teil beitragen. Darüber hinaus ist die Bundesregierung grundsätzlich bereit, sich unter bestimmten Bedingungen und nach einem klaren Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen an einer multinationalen Friedenstruppe in Afghanistan zu beteiligen.

Die Vereinten Nationen brauchen eine dauerhafte, eine solide finanzielle Grundlage, damit sie auch künftig ihrer gewachsenen Rolle bei der Lösung internationaler Konflikte gerecht werden können. Effizienz und Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen müssen weiter gestärkt werden, und deshalb muss der Reformprozess fortgesetzt werden.

Ich finde, dass der Generalsekretär der Vereinten Nationen hierzu wesentliche Impulse gegeben und so die Rolle der Weltorganisation für die Sicherung des Friedens entscheidend gestärkt hat. Daher halte ich es für ein großartiges Signal, dass Kofi Annan gemeinsam mit den Vereinten Nationen vor wenigen Tagen mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden ist. Ich denke, wir alle sind der Auffassung, dass er diese Auszeichnung wirklich verdient hat, und ich glaube, ich spreche auch im Namen aller Anwesenden, wenn ich dem Generalsekretär mit Respekt und Anerkennung für seine großartige Arbeit noch einmal herzlich zur Preisverleihung gratuliere.

Ich stimme Kofi Annan im Übrigen ausdrücklich zu, wenn er als Antwort auf den Terrorismus eine umfassende Strategie fordert, die vor allem auf die Lösung politischer, ökonomischer und auch sozialer Probleme gerichtet ist. So setzt sich die Bundesregierung nachdrücklich für die Teilhabe aller Länder an den Chancen der Globalisierung ein. Der erfolgreiche Abschluss der WTO-Ministerkonferenz in Doha weist, so finden wir, in die richtige Richtung. Die bevorstehende neue Welthandelsrunde wird in besonderem Maße die Anliegen der Entwicklungsländer zu berücksichtigen haben. Gemeinsam werden wir deutlich machen, was es heißt, in einer Welt zu leben, für die wir alle auch gemeinsam Verantwortung tragen.

Bei der Vermeidung von Konflikten wird es vor allem darauf ankommen, ob Armut in der weniger entwickelten Welt wirksam bekämpft und damit eingedämmt werden kann.

Deswegen unterstützt die Bundesregierung nachdrücklich das Ziel des Millenniums-Gipfels der Vereinten Nationen, bis zum Jahr 2015 die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben, zu halbieren. Wir haben dazu einen Aktionsplan in Deutschland verabschiedet. Neben der Bekämpfung der Armut und im Zusammenhang damit müssen wir den Kampf gegen Seuchen und Infektionskrankheiten - vor allem also gegen Aids, Tuberkulose und Malaria - vorantreiben. Um dieses Ziel zu erreichen, leistet Deutschland einen erheblichen Beitrag zum neuen globalen Gesundheitsfonds.

Auch die Europäische Union wird ihre Strukturen und Instrumente weiter verbessern, damit sie in einer veränderten Welt der Verantwortung, die sich daraus ergibt, auch wirklich gerecht werden kann. Die Entschlossenheit hierzu hat gerade erst der Europäische Rat von Laeken in ungewöhnlicher Klarheit und Deutlichkeit ausgedrückt. Die Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union bleibt für uns die wichtigste Aufgabe dieses Jahrzehnts.

Der Erweiterungsprozess mit den beitrittsfähigen Staaten soll so abgeschlossen werden, dass diese im Jahre 2004 als Mitglieder an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilnehmen können. Das ist ein gewiss ehrgeiziges Ziel, aber es ist erreichbar. Dabei werden wir die Kandidaten weiterhin umfassend unterstützen. Sie müssen aber am Ende aus eigener Kraft und in eigener Verantwortung die für den Beitritt notwendigen Voraussetzungen schaffen und erfüllen.

Die Erweiterung der Europäischen Union wird allerdings ohne die Vertiefung nicht gelingen können. Ohne Vertiefung und innere Reformen wäre eine Europäische Union mit 25 oder mehr Mitgliedern rasch gelähmt und politisch entscheidungsunfähig. Wir Europäer müssen und werden daher Antworten auf wichtige Schlüsselfragen geben: Wie kann eine erweiterte Union politisch handlungsfähig und führbar bleiben? Wie können wir die Legitimität und die Transparenz europäischer Entscheidungen verbessern?

Beim Gipfel in Laeken haben wir eine Erklärung zur Zukunft Europas verabschiedet, die diese Fragen anspricht. Im kommenden Frühjahr wird ein Konvent seine Beratungen aufnehmen, der erste Antworten erarbeiten wird. Wir haben in Laeken aber auch die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union auf dem Gebiet der Sicherheits- und Verteidigungspolitik einen entscheidenden Schritt vorangebracht. Trotz aller noch bestehenden Defizite ist die Einsatzfähigkeit der Krisenreaktionskräfte im zivilen und militärischen Bereich gegeben. Die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik - das ist mir wichtig zu betonen - ist nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung zur NATO entwickelt worden. Die enge Abstimmung mit der NATO ist daher eine blanke Selbstverständlichkeit, die in unserer Politik nicht in Frage gestellt wird; denn die transatlantische Zusammenarbeit im Bündnis ist unverändert ein Eckpfeiler deutscher und auch europäischer Sicherheitspolitik.

Ein Schwerpunkt verantwortlicher europäischer Sicherheitspolitik ist weiterhin die Stabilisierung der Lage auf dem Balkan. Durch die Vermittlung der Europäischen Union und den erfolgreichen Verlauf der unter deutscher Führung stehenden NATO-Misson "Amber Fox" konnte die Grundlage für die Stabilisierung Mazedoniens als demokratischer und multiethnischer Staat geschaffen werden. Die Bundesregierung wird gemeinsam mit den europäischen und amerikanischen Partnern in ihren Bemühungen für die gesamte Region nicht nachlassen. Das gilt ungeachtet der Aufgaben, die wir an anderer Stelle übernommen haben oder übernehmen werden. Der Stabilitätspakt für Südosteuropa bleibt auch in Zukunft ein entscheidender Faktor für den Wiederaufbau und für erfolgreiche regionale Kooperation.

Stabilität in Europa ist ohne Russland nicht möglich. Von daher begrüße ich gerade die außerordentlich dynamische Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen in den vergangenen Jahren. Anlass zu großer Sorge bietet dagegen die dramatische Zuspitzung der Lage im Nahen Osten. Die Konfliktparteien - das ist unser Wunsch - müssen endlich erkennen, dass mit Gewalt keine politischen Ziele erreichbar sind. Der blutige Terror ist der gemeinsame Feind Israels und des palästinensischen Volkes.

Der Nahe Osten braucht eine dauerhafte Friedensperspektive, eine Perspektive, die sowohl das Existenzrecht und die Sicherheit Israels als auch das Recht des palästinensischen Volkes auf einen eigenen demokratischen Staat gewährleistet. Hierzu gibt es keine vernünftige Alternative.

Ein persönliches Anliegen ist mir der weitere Ausbau unserer Beziehungen zu den Staaten der arabischen Welt, Asiens, Afrikas und auch Lateinamerikas. Mit vielen Staats- und Regierungschefs aus diesen Regionen habe ich intensive und vertrauensvolle Gespräche führen können, sei es bei Begegnungen hier in Berlin oder auch bei Auslandsreisen, wie der vor wenigen Wochen nach Pakistan, Indien und China. Anfang nächsten Jahres werde ich nach Mexiko, Argentinien und Brasilien reisen.

Meine Damen und Herren, Sie können sich darauf verlassen: Die Bundesregierung wird in ihren Anstrengungen für ein gerechtes, weltweites System der Sicherheit, des Wohlstandes und der Entwicklung auch in Zukunft nicht nachlassen. Ihnen persönlich danke ich sehr für ihre kompetente und engagierte Arbeit hier in Berlin. Sie haben damit einen wesentlichen Beitrag zur Pflege der Beziehungen zwischen unseren Ländern geleistet. Ihnen und vor allen Dingen auch Ihren Familien wünsche ich weiterhin einen angenehmen, interessanten Aufenthalt hier in Deutschland, ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest und natürlich viel Glück und Erfolg im neuen Jahr.