Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 07.02.2002
Untertitel: Nur in der jeweiligen Region selbst kann festgestellt werden, welche Potenziale für eine tragfähige wirtschaftliche Entwicklung mobilisiert werden können. Staatliche Programme sind dann erfolgreich, wenn sie die Initiative der Menschen in der Region herausfordern und unterstützen und den Strukturwandel fördern.
Anrede: Meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/36/69036/multi.htm
Redemanuskript
Anrede!
Auch als Bundeskanzler wird man ja nicht jeden Tag von einer Königin begrüßt. Darum herzlichen Dank an die Heidekönigin. Sie vertritt mit der Colbitz-Letzlinger-Heide eine besonders schöne und einmalige Landschaft. Solche Naturräume zu erhalten, das ist neben der wirtschaftlichen Entwicklung im ländlichen Raum eine unserer vordringlichsten Aufgaben.
Kompetenz für den ländlichen Raum. Das Thema der Tagung formuliert treffend die Bilanz und den Anspruch der Sozialdemokraten auf Bundesebene und in den Ländern. Der ländliche Raum macht 80 Prozent der Fläche unseres Landes aus. Etwa die Hälfte der Bevölkerung lebt und arbeitet dort. Dennoch entspricht das Bild vom ländlichen Raum nur selten der Wirklichkeit. Viele Städter verbinden damit die romantische Vorstellung bäuerlicher Idylle. Doch es ist falsch, den ländlichen Raum auf die Landwirtschaft zu reduzieren.
Zwar spielt die moderne Landwirtschaft in den ländlichen Regionen immer noch eine wichtige Rolle. Aber zunehmend werden Einkommensquellen außerhalb der Landwirtschaft wichtiger. Und, nicht zu vergessen, gewinnt der ländliche Raum als Erholungs- und Naturraum immer mehr an Bedeutung. Im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung die verschiedenen Funktionen des ländlichen Raums zu einem tragfähigen Ausgleich zu bringen, beschreibt die politische Aufgabe, die wir zu lösen haben. Und dafür müssen wir uns zunächst einmal klar machen: Den ländlichen Raum gibt es nicht. Man kann eben die Situation in der Altmark nicht über einen Kamm scheren mit der im Schwarzwald, im Emsland oder in Vorpommern.
Die wichtigste Erkenntnis lautet daher: Nur in der jeweiligen Region selbst kann festgestellt werden, welche Potenziale für eine tragfähige wirtschaftliche Entwicklung mobilisiert werden können. Staatliche Programme sind dann erfolgreich, wenn sie die Initiative der Menschen in der Region herausfordern und unterstützen und den Strukturwandel fördern.
Das gilt insbesondere für Ostdeutschland, wo ein enormer Wandel stattgefunden hat. Gerade hier können die Menschen, trotz der noch vorhandenen Probleme, auf das Erreichte stolz sein.
Die Landwirtschaft in Ostdeutschland hält mit ihrer Leistungsfähigkeit jedem internationalen Vergleich Stand. Sie ist auch für die Zukunft hervorragend positioniert. Unter anderen Vorzeichen hat auch in Westdeutschland ein enormer Strukturwandel stattgefunden. Wirtschaftlich erfolgreiche und wettbewerbsfähige Betriebe sind in allen Regionen Deutschlands angesiedelt. Aber wegen der erhöhten Produktivität kommt die moderne Landwirtschaft mit immer weniger Arbeitskräften aus.
Folglich nimmt auch in den ländlichen Regionen die wirtschaftliche Bedeutung der Landwirtschaft weiter ab, auch wenn sie in der Struktur prägend bleiben wird. Darum müssen neue Arbeitsplätze in Handwerk und Gewerbe, in Tourismus und Naturschutz die wirtschaftliche Basis für den ländlichen Raum verbreitern.
Das hat die konservative Agrarpolitik der 80er und 90er Jahre nicht begriffen. Noch so viele Milliarden an Agrarsubventionen allein geben dem ländlichen Raum eben noch keine Entwicklungsperspektive. Entscheidend kommt es darauf an, außerhalb der Landwirtschaft neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Vor allem ergeben sich vielversprechende Chancen im Umfeld: etwa bei den nachwachsenden Rohstoffen, im Tourismus und der Verarbeitung von Lebensmitteln. Das fördert den Mittelstand und eröffnet Perspektiven für Dienstleistungen im ländlichen Raum. Über die wirtschaftliche Bedeutung hinaus hat die Landwirtschaft das Bild der Landschaft und das Lebensgefühl der Menschen geprägt. Und besonders die Landfrauen haben viel zur Traditions- und Brauchtumspflege beigetragen.
Vor diesem Hintergrund finde ich die Anstrengungen des Landes Sachsen-Anhalt bei der Dorferneuerung vorbildlich. Ministerpräsident Reinhard Höppner hat mir gesagt, dass sie es geschafft haben, alle Dörfer ins Förderprogramm aufzunehmen.
Mir scheint das ein großer Erfolg zu sein, denn nur wenn es gelingt, die Dörfer auch durch Schulen, Freizeitangebote und Infrastruktur lebenswert zu halten, wird für junge Menschen das Leben auf dem Land attraktiv bleiben.
in den ländlichen Regionen gleichwertige Lebensverhältnisse zu erhalten, die Basis für die wirtschaftliche Entwicklung zu verbreitern und Arbeitsplätze zu schaffen - das sind die Ziele, die wir Sozialdemokraten uns gesetzt haben. Diese Ziele werden wir am ehesten dann erreichen, wenn wir eine erfolgreiche Landwirtschaftspolitik mit einer nachhaltigen Entwicklung des ländlichen Raums verknüpfen.
Dafür hat die Bundesregierung in den vergangenen drei Jahren die Weichen auf der europäischen Ebene und in unserem Land gestellt. Unter deutscher Präsidentschaft konnten wir 1999 in Berlin die Agenda 2000 unter Dach und Fach bringen. Dabei haben wir etwas erreicht, was mir sehr wichtig war, nämlich eine Benachteiligung der ostdeutschen Betriebe zu verhindern.
Heute wird die Agenda 2000 auch vom Deutschen Bauernverband als tragfähige Grundlage für eine zukunftsfähige Landwirtschaft anerkannt. Neben der Marktstützung ist mit der Agenda 2000 eine flächendeckende Förderung ländlicher Räume eingeführt worden, wobei die Wettbewerbsfähigkeit des Agrarsektors, beispielsweise die Investitionsförderung für die Betriebe, erhebliches Gewicht hat.
Etwa 25 Prozent der Förder-Maßnahmen entfallen auf diesen Bereich. Rund 40 Prozent der Förderung entfallen auf Maßnahmen zur ländlichen Entwicklung.
Und rund 35 Prozent entfallen auf den Umweltschutz und die Förderung benachteiligter Gebiete.
Ich denke, insgesamt ist das ein in sich stimmiges Konzept für eine nachhaltige Entwicklung. Für die Umsetzung des Konzepts wird ein enormes Finanzvolumen eingesetzt. Im Zeitraum von 2000 bis 2006 stehen Deutschland insgesamt rund 9 Milliarden Euro an Mitteln der Europäischen Union zur Verfügung. Inklusive unserer nationalen Kofinanzierung setzen wir damit rund 18 Milliarden Euro an öffentlichen Mitteln zur Förderung der ländlichen Entwicklung ein.
Damit gibt Deutschland weit mehr an Geldern für die ländliche Entwicklung aus als Frankreich, Italien oder Spanien. Noch nie wurde der ländliche Raum mit öffentlichen Mitteln so stark gefördert. Wesentliche Grundlage der nationalen Förderung bleibt die Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes. Bei ihr haben wir die Schwerpunkte der Förderung ebenfalls neu gesetzt. Von 1993 bis 1998 haben die damals Verantwortlichen die Bundesmittel für die Gemeinschaftsaufgabe um ein Drittel gekürzt. Wir haben den Rückgang nicht nur gestoppt, sondern trotz notwendiger Sparmaßnahmen in diesem Jahr den Beitrag des Bundes sogar noch erhöht. Dazu kommt dann noch die regionale Wirtschaftsförderung, für die der Bund 2,3 Milliarden Euro zur Verfügung stellt. Der Schwerpunkt der Förderung liegt mit einem Anteil von 87 Prozent eindeutig in den neuen Ländern. Ich denke, wer hier in Sachsen-Anhalt oder in anderen Regionen über das Land fährt, wird unschwer erkennen, dass mit dieser massiven Förderung eine Menge in Bewegung gekommen ist.
Positiv entwickelt hat sich insgesamt auch die wirtschaftliche Situation der Landwirtschaft. Der Bauernverband hat bei einem Gespräch im Bundeskanzleramt vor kurzem die Einkommensentwicklung als insgesamt zufriedenstellend bezeichnet. Tatsächlich weist der Agrarbericht der Bundesregierung im abgelaufenen Wirtschaftsjahr für die landwirtschaftlichen Haupterwerbsbetriebe ein Plus von 17 Prozent aus. Im Jahr davor waren es 13 Prozent. Durch Sonderfaktoren war die Entwicklung in Ostdeutschland leider nicht so günstig. Dennoch: Zweistellige Steigerungsraten im Bundesdurchschnitt würden in anderen Branchen als hervorragendes Ergebnis gelten. Abgerundet wird dieses insgesamt positive Bild durch die Entwicklung auf den Exportmärkten. Zweistellige Zuwachsraten beim Agrarexport in den vergangenen beiden Jahren beweisen die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft. Gerade die großen Betriebe im Osten sind besonders wettbewerbsfähig. Große Betriebe sind aber auf keinen Fall gleichzusetzen mit Agrarfabriken. Was zu kritisieren ist - und das habe ich mit dem Begriff "Agrarfabrik" verbunden - , sind bestimmte Produktionsweisen. Typisch dafür ist eine Intensiv-Tierhaltung ohne Bindung an die Fläche mit den damit verbundenen Umweltproblemen. Dagegen ist die flächengebundene Produktion Kennzeichen einer nachhaltigen Landwirtschaft.
Meine Damen und Herren,
die erfolgreiche Entwicklung der Landwirtschaft im Osten war 1990 nicht abzusehen. Schließlich gab es in der Europäischen Union nichts Vergleichbares zu den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. Es war richtig, die Entscheidung über den künftigen Weg in der Landwirtschaft den Menschen selbst zu überlassen. Die Landeigentümer haben die Verfügung über ihren Boden wieder erhalten. Das war der Grundstein für die erfolgreiche Entwicklung der Agrarwirtschaft.
Harte Auseinandersetzungen gab es um die Privatisierung des Bodens. Hier haben wir Sozialdemokraten Wort gehalten. Die Bundesregierung hat die letzten Stolpersteine für den Flächenerwerb aus dem Weg geräumt. Alle Berechtigten können begünstigt den langfristig gepachteten Boden erwerben.
Eines der letzten Probleme ist die Altschuldenfrage. Die Bundesregierung wird in Kürze einen Vorschlag für eine gesetzliche Regelung vorlegen. Wir wollen allen betroffenen Nachfolgeunternehmen eine individuelle Ablöseregelung anbieten.
Meine Damen und Herren,
angesichts der in Deutschland insgesamt positiven Entwicklung der Landwirtschaft wollen einige die Uhr schon wieder zurückdrehen und so tun, als ob es BSE und die anderen Lebensmittelskandale nie gegeben hätte. Dagegen sage ich ganz klar: Die Neuausrichtung der Agrarpolitik ist und bleibt im Interesse der Verbraucher und der Landwirte unverzichtbar. Das Vertrauen der Verbraucher in die Qualität und die gesundheitliche Unbedenklichkeit der Lebensmittel ist unerlässliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Land- und Ernährungswirtschaft. Nur wenn wir konsequent auf eine qualitätsorientierte Produktion setzen und die Sicherheit der Lebensmittel lückenlos und richtig kontrollieren, wird es gelingen, dauerhaft das Vertrauen der Verbraucher zurückzugewinnen. Die Menschen sind nämlich nur dann bereit, enorme Beträge in die Landwirtschaft und die Entwicklung des ländlichen Raumes zu stecken, wenn diese Entwicklung im Interesse der Gesellschaft liegt. Eine Intensiv-Landwirtschaft, die Böden und Grundwasser belastet und in der Natur einen drastischen Artenrückgang verursacht, liegt aber nicht im öffentlichen Interesse. Dagegen sollte uns eine umweltgerechte Landwirtschaft, die auf Qualität setzt und die Belange der Verbraucher Ernst nimmt, sehr wohl etwas Wert sein. Mit der Verbraucherministerin stimme ich darin überein, dass sowohl eine qualitätsorientierte konventionelle Landwirtschaft als auch der ökologische Landbau ihren Platz und ihre Marktchancen haben. Ich halte überhaupt nichts davon, die beiden gegeneinander auszuspielen. In der Kombination erweitern beide Produktionsweisen die Marktchancen der deutschen Landwirtschaft. Letztlich wird über den Marktanteil an der Ladentheke entschieden.
Für eine umweltgerechte konventionelle Landwirtschaft, welche die Anforderungen des Tierschutzes einhält und durch Kontrollen die Sicherheit der Lebensmittel garantiert, wird eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung auch in Zukunft stabile Rahmenbedingungen gewährleisten. Denn nur eine qualitätsorientierte und umweltbewusste Landwirtschaft hat auch gute wirtschaftliche Perspektiven. Sicher: Allein die Addition aus Verbraucher- , Tier- und Umweltschutz ergibt noch keine erfolgreiche Landwirtschaft. Erst umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wer den Verbraucherschutz missachtet, wird auf seinen Produkten sitzen bleiben. Und wer zu Lasten der Umwelt produziert, kann nicht erwarten, vom Steuerzahler gefördert zu werden.
Meine Damen und Herren,
viele der größten und schönsten Naturräume Deutschlands liegen in den östlichen Bundesländern. Diese Erholungslandschaften ziehen sich von der Mecklenburgischen Seenplatte über die Elbtalauen bis zum Elbsandsteingebirge.
Gerade in sonst strukturschwachen Regionen bietet ein naturverträglicher Tourismus daher ein großes Potential für die wirtschaftliche Entwicklung. Diese Potenziale werden selbst mit großzügigen Förderprogrammen nur dann genutzt werden können, wenn die Akteure in der Region selbst aktiv werden und die Initiative ergreifen. Darum sollten noch mehr Landräte, Bürgermeister, Landwirte und Naturschützer sich zusammensetzen und in Netzwerken für naturnahen Tourismus zusammenarbeiten.
Meine Damen und Herren,
für die Neuausrichtung der Verbraucher- und Agrarpolitik findet die Bundesregierung viel Zustimmung. Deswegen werden wir den von uns eingeschlagenen Kurs konsequent beibehalten. Auch in der gemeinsamen Agrarpolitik in Europa brauchen wir weitere Reformen. So sind die Agrarsubventionen noch stärker von der Produktion zu entkoppeln, könnte eine Grundförderung der Betriebe an die Fläche gekoppelt werden. Auch für die europäische Agrarpolitik gilt: Wir wollen eine wettbewerbsfähige Landwirtschaft, die auf Qualität setzt und umweltgerecht produziert. Betriebe, die entsprechend produzieren, sollen auch in Zukunft gefördert werden. Dafür wollen wir auch in der Europäischen Union stabile Rahmenbedingungen schaffen, auf die sich die jungen Bäuerinnen und Bauern verlassen können, wenn sie die Betriebe übernehmen. Denn die weitere Entwicklung des ländlichen Raums hängt nun einmal davon ab, welche Perspektiven unsere Gesellschaft den jungen Bäuerinnen und Bauern zu bieten hat.
Ich danke Ihnen.