Redner(in): Jullian Nida-Rümelin
Datum: 25.03.2002
Untertitel: Kulturstaatsminister Nida-Rümelin hielt am 25. März 2002 den Eröffnungsvortrag beim 18. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft in München.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/55/74055/multi.htm
Kulturstaatsminister Nida-Rümelin hielt am 25. März 2002 den Eröffnungsvortrag beim 18. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft in München. In der hier in einer gekürzten Fassung wiedergegebenen Rede äußert er sich zum Verhältnis von Bildung und Kultur und über die konkrete Verwertbarkeit von Wissen angesichts eines beschleunigten Wandels in allen Lebensbereichen.
Das Verhältnis von Bildung und Kultur ist zugleich eng und komplex. In erster Annäherung kann es so charakterisiert werden: Die unterschiedlichen Bildungskonzeptionen in der Geschichte spiegeln das Selbstverständnis der jeweiligen Kultur wider, die Bildungspraxis ist getreulicher Spiegel des Entwicklungsstandes der jeweiligen Kultur. Alle großen Reformprojekte im Bildungswesen waren von einer inhaltlichen Vorstellung, von einer in ein kulturelles Gesamtkonzept eingebetteten Bildungsidee geprägt. Dies ließe sich zum Beispiel am Humanismus detailliert darstellen, sowohl an der humanistischen Bewegung des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit als auch am Neuhumanismus, der vor allem mit dem Namen Wilhelm von Humboldts verknüpft ist.
Orientierungspunkt der althumanistischen Erneuerungsbewegung ist die Idee des humanum, des eigentlich Menschlichen. Petrarca etwa führt aus, dass das spezifisch Menschliche darin bestehe, mitis et amabilis zu sein, also sanft und umgänglich. Ethische Bindung steht im Zentrum, die würdevolle Selbstbeherrschung als Ausdruck von Charakterstärke. Bildung heißt aus der Perspektive des Humanismus auch, Personen die Möglichkeit zu geben, sich von den in der jeweiligen Gesellschaft etablierten Umgangsformen zu distanzieren.
Aus diesem Ansatz entsteht im 13. Jahrhundert ein Bildungskanon, der vor allem vier Bereiche umfasst: erstens Sprache ( Grammatik ) , zweitens Moralphilosophie mit den Teilgebieten Ethik, Politik und Ökonomie, drittens Geschichte und viertens Rhetorik. Einen prägnanten Ausdruck findet diese Bildungsidee in der Formel res et verba - die Dinge und ihre Bezeichnungen lernen und beides zueinander in eine vernünftige Beziehung setzen. Hinter der Leitidee einer klaren und einfachen Sprache steht bei den Humanisten vor allem das Ideal eines freien Geistes, der sich von Dogmatismus und eitler Geschwätzigkeit lösen kann.
Dem Neuhumanismus des 19. Jahrhunderts verdankt das deutsche Bildungswesen wesentliche Weichenstellungen. Ziel der Humboldtschen Bildungsreform ist es, die Menschen zu befähigen, sie selbst zu werden, Autonomie zu erlangen. Der noch in der frühen Neuzeit geltende Primat der Verwertbarkeit des Wissens weicht so dem Ideal der Persönlichkeitsbildung.
Der ersten deutschen Bildungsreform zu Beginn des 19. Jahrhunderts war ein großer Erfolg beschieden. Sie resultierte in einer weltweiten Spitzenstellung der deutschen Bildungsinstitutionen auf nahezu allen Gebieten von Kultur und Wissenschaft. Getragen wurde diese Stellung nicht zuletzt von einem - trotz aller sozialen Unterschiede - gewissermaßen schichtenübergreifenden Selbstverständnis als Kulturnation. Bemerkenswert ist im Rückblick zudem, wie die Spitzenposition des Bildungswesens mit der Rückständigkeit Deutschlands im Politischen - Stichworte Nationalstaatsbildung, Durchsetzung der parlamentarischen Demokratie - kontrastiert und diese zum Teil kompensiert.
Am Ende des langen 19. Jahrhunderts markiert der 1. Weltkrieg einen bedeutenden Einschnitt. Die kulturelle und wissenschaftliche Entwicklung Deutschlands verliert an internationaler Ausstrahlung. Die Vertreibung und Ermordung der jüdischen und kritischen Intelligenz bedeuten zu allererst unermessliches menschliches Leid für unzählige Familien, aber sie haben auch zu einem Verlust intellektueller Substanz geführt, von dem sich die deutsche Bildungs- und Kulturnation bis heute nicht erholt hat und wohl nie ganz erholen wird.
Das kollektive Selbstverständnis der Westdeutschen nach 1945 war vom Gelingen des wirtschaftlichen Wiederaufbaus geprägt. Unter der Dominanz ökonomischer Aspekte geriet das Bildungswesen im internationalen Vergleich in Rückstand. Aus heutiger Sicht ist es interessant zu sehen, unter welchen Gesichtspunkten die Defizite vorrangig wahrgenommen wurden. Der Protagonist der Debatte über "die deutsche Bildungskatastrophe", Georg Picht, argumentierte zwar nicht allein in ökonomischen Kategorien, aber es war doch sein Menetekel vom wirtschaftlichen Niedergang der Bundesrepublik, das die öffentliche Diskussion bestimmte.
Ein zweiter, vor allem sozialer Impetus trat in den 60er Jahren hinzu. Insbesondere nach 1968 wurde die Bildungsdebatte vor allem unter dem Gesichtspunkt der Partizipation geführt. Die Erfolge dieser Reformbewegung sind unübersehbar, die Öffnung der Bildungseinrichtungen - ablesbar etwa am Anteil der Arbeiterkinder unter Gymnasiasten und Studenten - gelang zunächst in durchaus beeindruckendem Maße um dann in den 80er und 90er Jahren wieder kontinuierlich abzusinken. Dennoch war diese zweite Bildungsreform nur eine halbierte. Die Diskussion über Bildungsinhalte blieb im Dickicht der Institutionen stecken. Das Resultat war eine weitgehende inhaltliche Erstarrung des Bildungswesens seit den 70-er Jahren. Die Ambivalenz dieser Entwicklung ist aus meiner Sicht zu wesentlichen Teilen auf ein kulturelles Defizit zurück zu führen. Ein gravierendes Manko des Reformprozesses war die mangelnde Einbettung in eine Gesamtkonzeption, das Fehlen einer kulturellen Leitidee. Eine Rolle hat hier sicherlich auch die zeitweise Dominanz ( vulgär- ) marxistischer Diskurse gespielt, in denen Kultur zum bloßen Überbauphänomen verkleinert wurde.
Die inhaltlichen Defizite der Reformdebatte sind in meinen Augen beispielsweise mitverantwortlich dafür, dass das Leistungsprinzip - so anfällig für Missbrauch es ist - in Misskredit geriet. Diese ablehnende Haltung hat das Klima in unseren Bildungsinstitutionen lange Zeit wesentlich beeinflusst. Hinweise wie der, dass die Berücksichtigung individueller Leistung ursprünglich - in Abgrenzung zu den Prinzipien einer ständisch verfassten Gesellschaft - einen emanzipatorischen Gehalt hatte, fanden in der Diskussion der 60-er und 70-er Jahre kaum Gehör. Eine mangelnde inhaltliche Fundierung hat auch dazu beigetragen, dass die Reformbestrebungen mit übersteigerten Erwartungen befrachtet wurden. In technokratischer Verkürzung geriet das Bildungswesen leicht zum Vehikel des "progressiven" Umbaus der Gesamtgesellschaft. Die Enttäuschung dieser Hoffnungen wirkt in den Lehrkörpern ganz offensichtlich bis heute nach.
Mit dem Aufkommen des Neoliberalismus in den 80-er Jahren löste eine ökonomische Legitimationsbasis die primär soziale Orientierung ab. Die wirtschaftliche Verwertbarkeit hat sich immer deutlicher zum zentralen Kriterium des Erwerbs von Wissen entwickelt. Im Selbstverständnis der Deutschen ist die kulturelle Dimension eher schwach ausgeprägt - auch als Resultat der skizzierten Verdrängung kultureller Leitideen durch soziale nach 1968 und wirtschaftliche seit den 80-er Jahren. Deutschland definiert sich im Grunde seit längerem nicht mehr als Kulturnation. Dies hat unübersehbar Auswirkungen auf den Status von Bildung. Für das Selbstwertgefühl vieler Jugendlicher ist es zum Beispiel wichtig, zu einem frühen Zeitpunkt eigenes Geld zu verdienen oder Konsumgüter zu besitzen. Der Eigenwert der Bildung spielt demgegenüber nur eine untergeordnete Rolle.
Angesichts dessen halte ich eine inhaltliche Neubestimmung für dringend erforderlich. Im Mittelpunkt sollte dabei eine Ausrichtung der Bildungspolitik an kulturellen Leitideen stehen. Die Bildungspraxis darf sich nicht nur an vordergründigen Erfordernissen der Sozial- und Wirtschaftspolitik orientieren, sondern muss grundlegende Dimensionen von Kultur in den Blick nehmen. Dazu zählt etwa die Dimension der gesellschaftlichen Interaktion, die Frage, wie Menschen miteinander umgehen, kooperieren, Konflikte austragen etc. Ein zweiter Aspekt hängt eng damit zusammen: Je umfassender die Netze unserer Interaktion in einer sich globalisierenden Welt greifen, desto zentraler wird Verständigung. Wenn wir uns in unserer komplexen und mobilen Gesellschaft nicht miteinander verständigen könnten, würden auch unsere stabilen Formen der Kooperation und Konfliktlösung brüchig werden. In letzter Konsequenz hätte dies die Erosion der normativen Basis einer zivilen Gesellschaft zur Folge. Eine weitere zentrale Dimension - vielleicht die wichtigste - ist die der Selbstbestimmung. Menschen sind ihrem Wesen nach in der Lage - und dazu gezwungen - ihrem Leben eine je eigene Prägung, einen spezifischen Sinn zu geben. Eine Konzeption umfassender Bildung muss daher den Aspekt der Selbstbildung in besonderem Maße berücksichtigen.
Vor diesem Hintergrund wird vielleicht etwas deutlicher, warum ich für eine Anknüpfung an die ursprüngliche humanistische Bildungskonzeption plädiere. In einer Zeit, in der Prognosen über die konkrete Verwertbarkeit von Wissen angesichts eines beschleunigten Wandels in allen Lebensbereichen immer fragwürdiger werden, gibt es letztlich keine Alternative zur Orientierung an den Grundlagen unserer Kultur. In diesem Zusammenhang können wir auch ein Spannungsverhältnis nicht ausblenden, das in der Konzeption Humboldts angelegt ist und unsere Bildungsinstitutionen bis heute prägt: Der Staat ist einerseits zu inhaltlicher Neutralität verpflichtet, während er andererseits über die Gestaltung der Rahmenbedingungen in einem gewissen Grade inhaltliche Festlegungen treffen muss.
Von besonderer Bedeutung ist der Bereich der ästhetischen Bildung. Mit Ästhetik meine ich hier nicht nur das Schöne im modernen Sinn, sondern den ursprünglichen Wortsinn der "Aisthesis", die Dimension unseres Lebens also, in der wir Bezug nehmen auf Dinge, die uns durch Empfindungen und Wahrnehmungen zugänglich sind. Die kognitive Schlagseite unseres Bildungswesens drängt die musische Bildung an den Rand.
Wenn wir die Dimension der "Aisthesis" ernst nehmen, dann dürfen wir Kinder und Jugendliche, aber auch Erwachsene, nicht als gebildet ansehen, wenn allein ihre kognitiven Fähigkeiten gestärkt und erweitert worden sind. Es muss uns darum gehen, eine Balance herzustellen zwischen Sinnlichkeit und der Fähigkeit, Gründe abzuwägen und Urteile zu fällen. Nicht die kognitive Dimension allein, sondern erst diese Balance macht die gebildete Person aus. Ohne eine entfaltete Sinnlichkeit kann auch Verständigung nicht gelingen, denn sie basiert nicht zuletzt auf Empathie, der Fähigkeit sich einzufühlen.
Eine weitere Überlegung betrifft die Dimension der Interaktion und Integration. Wir leben seit längerer Zeit in einer multikulturellen Gesellschaft. Neben den unbestreitbaren Konflikten und Verständigungsproblemen, die die Vielfalt kultureller Herkünfte mit sich bringt, sollten wir die positiven Aspekte dieser Entwicklung nicht aus dem Auge verlieren. Die Grenzen zwischen den Kulturen sind fließender geworden. Das Gros der bereits in zweiter oder dritter Generation in der Bundesrepublik lebenden Immigranten hat sowohl zu ihrer Herkunftkultur als auch zum kulturellen Umfeld in Deutschland ein differenziertes und reflektiertes Verhältnis gewonnen. Nicht die Differenz ist größer geworden, sondern die Zahl der Optionen, sich mit verschiedenen kulturellen Prägungen auseinander zusetzen.
Stabile Kooperation zwischen unterschiedlich geprägten Gruppen setzt allerdings voraus, dass es einen Überlappungsbereich gibt, einen Minimalbestand geteilter Normen, Werte, Einstellungen und Kenntnissen. Für die Bildungs- und Kulturpolitik ergibt sich daraus die Aufgabe, Verständigung im weitesten Sinne - auch unter Einbeziehung ästhetischer Elemente - zu fördern, damit kollektive Identitäten und kulturelle Prägungen nicht unvermittelt aufeinander treffen. Ein Grundkanon von Fähigkeiten und Kenntnissen erscheint mir da unverzichtbar zu sein. Die Oberstufenreform hat hier die falschen Zeichen gesetzt. Der Aspekt der Selbstbestimmung bleibt immer der zentrale: Ein souveräner Umgang mit Differenz setzt umfassend gebildete, Ich-starke Persönlichkeiten voraus, durchaus im Sinne des althumanistischen mitis et amabilis.