Redner(in): Julian Nida-Rümelin
Datum: 21.03.2002

Untertitel: In seiner Rede zum Festakt der Kulturstiftung des Bundes würdigt Kulturstaatsminister Nida-Rümelin die Entstehungsgeschichte der Stiftung. Mit der konstituierenden Sitzung des Stiftungsrates am 21. März 2002 erhält Deutschland wie andere westliche Demokratien eine nationale Kulturstiftung. Dazu skizziert er die zukünftigen Aufgabenfelder und Themenschwerpunkte der Stiftung.
Anrede: Herr Ministerpräsident Müller, Herr Ministerpräsident Höppner, lieber Herr Grass, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Festgäste,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/82/76482/multi.htm


die Zeitspanne von dreißig Jahren ist eine relativ lange Vorgeschichte für die Gründung einer Stiftung. Wenn sie dagegen den Zeitraum nehmen vom 20. Dezember des vergangen Jahres - an diesem Tag haben die Ministerpräsidenten der Länder, wenn man so will, grünes Licht gegeben für diese Stiftung - über den 29. Januar dieses Jahres, an dem wir vom Land Sachsen-Anhalt die Genehmigungsurkunde der Stiftung erhalten haben, zum heutigen 21. März, als dem Tag, an dem die konstituierende Sitzung des Stiftungsrates stattfindet, dann ist das eine vergleichsweise kurze Zeit. Und das zeigt unter anderem, dass man in der Kulturpolitik viel diskutieren muss - auch geduldig diskutieren muss, das haben wir getan und das werden wir weiter tun - , dass man aber gelegentlich auch handeln und die Dinge umsetzen muss, weil es nämlich sonst wohl die endgültige Beerdigung der Idee einer nationalen Kulturstiftung bedeutet hätte.

Ich bin vielen dankbar, ohne die diese Stiftung nicht möglich gewesen wäre, auch, aber nicht nur dem Initiator vor dreißig Jahren. Wenn man die Regierungserklärung Willy Brandts vom Januar 1973 liest, wird man übrigens überrascht feststellen, dass dort auch schon von der Förderung der zeitgenössischen Kunst die Rede ist, dass es also nicht um eine Nationalstiftung ging, die in erster Linie dem nationalen Erbe gelten sollte, sondern eben auch der Förderung des Gegenwärtigen und des Kommenden.

Die an sich doch plausible Idee - die übrigens auch anderen westlichen Demokratien so einleuchtend erschien, dass wir fast die einzigen sind, die bislang noch nicht über eine solche nationale Kulturstiftung verfügen - ist immer wieder in schwierigen Gesprächen zerbrochen. Dass die Gründung der Stiftung nun am Ende doch zum Erfolg geführt werden konnte, hängt, glaube ich, ganz wesentlich damit zusammen, dass die kulturelle Öffentlichkeit nicht mehr allzu viel Geduld mit der Kulturpolitik hatte. Sie hat dies sehr deutlich gemacht. Ich denke z. B. an die Erklärungen der Kulturpolitischen Gesellschaft, des Deutschen Kulturrates, des Deutschen Musikrates und vieler anderer. Der Tenor war: "Führt eure Debatten über Entflechtung und Systematisierung, aber gründet nun endlich diese Stiftung, weil sie eine Selbstverständlichkeit ist."

Diese Stiftung - das ist, denke ich, allen bewusst - wird nicht an die Stelle etablierter Förderungen treten können. Sie kann nicht die Aufgaben übernehmen, wie sie gegenwärtig von den Kommunen, den Ländern und dem Bund wahrgenommen werden. Sie kann nur komplementär sein, sie kann nur zusätzlich wirken. Ich bleibe bei dem vielleicht unpassenden Bild aus der Fußballersprache: Sie übernimmt eine Art Liberofunktion. Sie soll frei sein, Akzente setzen, Programme auflegen, Projekte fördern, ergänzend zu den etablierten Strukturen unserer Kulturförderung.

An dieser Förderung ist der Bund, ich zögere nicht, das zu sagen, nur zu einem sehr kleinen Teil beteiligt, je nach Statistik zwischen 4,5 und 13,6 Prozent - allein dass die Angaben so weit auseinander liegen, sagt schon etwas aus. Das Gros der Kulturförderung liegt jedenfalls bei den Kommunen und bei den Ländern. Dies wird die Kulturstiftung nicht ersetzen können. Die Stiftung wird nicht einmal entstandene Defizite in der gerade für die Kommunen schwierigen haushälterischen Situation abdecken können, ja sie wird überhaupt keine institutionellen Förderungen auf sich nehmen können, obwohl sie mit der Ausstattung in Höhe von 38,3 Millionen Euro pro Jahr ab 2004 das größte Fördervolumen aller Kulturstiftungen im deutschen Sprachraum hat - dies entspricht etwa einem Kapitalstock von 750 Millionen Euro. Diese Stiftung wird sich positionieren müssen, und ich bin froh, dass auch in der politischen Öffentlichkeit die Unterstützung jetzt fast einhellig ist. Die Fraktionen der SPD und der GRÜNEN haben über das hinaus, was die Regierung vorgesehen hatte, die Stiftung in den Haushaltsberatungen des Bundestages besser ausgestattet.

Wir haben gegenwärtig sehr konstruktive Gespräche mit den Ländern, und ich bin zuversichtlich, dass wir die beiden Stiftungen zusammenführen werden, die Kulturstiftung der Länder und die des Bundes. Frau von Welck war von Anfang an für die gemeinsame Kulturstiftung in gemeinsamer Verantwortung des Bundes und der Länder. Herr Ministerpräsident Müller hat in den letzten Monaten - das darf ich sagen - eine sehr konstruktive Rolle gespielt, als es darum ging, ob wir das Projekt noch mal auf die lange Bank schieben oder ob wir es jetzt beginnen können.

Ich denke, zu Beginn der Arbeit der Stiftung lohnt es sich, noch einmal kurz inne zu halten. Zumindest einen Gedanken möchte ich hier zur Diskussion stellen: Ich glaube, dass sich diese Stiftung eine bestimmte Position erarbeiten muss - da helfen keine Papiere, sondern nur die Praxis wird zeigen, ob sie dabei erfolgreich ist. Sie muss sich eine eigenständige Position erarbeiten im Spannungsfeld zwischen Kunst und Politik.

In diesem Zusammenhang ist es fast paradox, dass gerade die Entwicklung der Künste seit dem Ende des 19. Jahrhunderts - weg von ihrer Rolle als Repräsentation staatlich-politischer und weltanschaulicher Macht hin zu einem Selbstverständnis als autonom - eine besondere Verantwortung des demokratischen Staates beinhaltet, genau diese sich selbst als autonom verstehenden Künste zu fördern, Räume zu schaffen, Freiräume zu schaffen, gewissermaßen Garant zu sein für eine eigenständige, eben autonome Entwicklung der Künste und der Kultur insgesamt. Und das verlangt von der Politik, von der Kulturpolitik, eine Selbstbeschränkung. Eine inhaltliche Zurückhaltung überall dort, wo dieses Selbstverständnis als autonom gefährdet wäre, wenn die Politik intervenieren würde. In den letzen Jahrzehnten ist die Balance - Zurückhaltung einerseits, aber Verantwortung andererseits - austarierter als noch in früheren Zeiten. Ich erinnere mich mit einigem Schrecken daran, wie etwa die Bayerische Staatsregierung mit dem Spielplan des Residenztheaters nicht einverstanden war, oder wie eine CSU- Mehrheit im Münchner Stadtrat den Ankauf der Installation "Zeige deine Wunde" von Beuys durch die Stadt beinahe verhindert hätte, oder wie auf SPD-Parteitagen - ich bin ganz neutral, Herr Müller - beschlossen wurde, dass man doch den Ankauf von elektronischen Geräten fördern sollte, anstelle der großen Kunsttempel. Diese Zeiten sind vorbei.

Die Kulturpolitik ist sensibler geworden und die zeitgenössischen Künste ihrerseits haben das Selbstverständnis als autonome in vieler Hinsicht relativiert - es wäre abendfüllend darüber zu reden. Gerade jüngere Künstlerinnen und Künstler wollen nicht den Rückzug in die geschützten Räume der Galerien, Museen und Konzertsäle allein. Sie wollen, häufig jedenfalls, den Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern, nicht nur mit den Kunstexperten, nicht nur mit der Art-world; viele verstehen ihre Kunstprojekte als Teil von größeren kulturellen, ja sogar politischen Projekten. Und die Bürgerschaft ist so aufmerksam, so offen, so tolerant - wenn dieser Begriff nicht missverstanden wird - wie nach meinen Kenntnissen noch nie in der deutschen Nachkriegsgeschichte - und Deutschland hat durch die zwölf Jahre der Nazidiktatur eine, gelinde gesagt, verzögerte Entwicklung des Kulturverständnisses gehabt, worunter wir zum Teil immer noch leiden. Diese Stiftung wird also Behutsamkeit zeigen müssen im Umgang mit den Künsten, sie muss auf der einen Seite Freiräume garantieren und auf der anderen Seite gibt es eine Verantwortung des Stiftungsrates dahingehend, die inhaltlichen Rahmenbedingungen und die Themenschwerpunkte zu bestimmen. Wir haben dies heute in einer sehr konstruktiven mehrstündigen Diskussion begonnen und werden es heute Nachmittag fortsetzen.

Wir sind zum Beispiel zu dem Ergebnis gekommen, dass wir das Thema "Kunst und Stadt" mit dieser Stiftung fördern wollen. Zu einem zweiten Schwerpunkt wird die Stiftung das kulturelle Fundament Europas machen - dies vor dem Hintergrund, dass dieses Fundament mit der Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten aus Ost- und Ostmitteleuropa ja zunehmend die Konturen des alten, historischen Europas annehmen wird. Deshalb haben wir uns einen "Regionalschwerpunkt Osteuropa" vorgenommen. Wir wollen, drittens, auch das Thema "11. September als kulturelle Herausforderung" bearbeiten. Es geht hier nicht so sehr um eine Verlängerung der zahlreichen Podiumsdiskussionen, sondern um die Beiträge, die Kunst und Kultur leisten können, um Wahrnehmungsweisen zu schärfen, Stereotypen entgegenzuwirken und die gemeinsame Modernität der großen Kulturregionen schärfer in den Blick zu bekommen. Und wir haben festgelegt, dass wir in einer Studie, die wir "Kulturbericht Ostdeutschland" nennen, eruieren wollen, wo die jungen Netzwerke künstlerischer und kultureller Auseinandersetzung in den neuen Bundesländern angesiedelt sind. Dies betrachten wir als eine Ergänzung zum bereits existierenden "Blaubuch". Ein weiteres Pilotprojekt der Stiftung - das hängt mit dem dritten Thema eng zusammen - widmet sich der Migration und ihren kulturellen Folgen - auch in der künstlerischen Auseinandersetzung mit Migrationsphänomenen.

Das ist der Beginn der Arbeit dieser Stiftung. Sie wird immer wieder neue Schwerpunkte setzen, ich bin zuversichtlich, dass ihr die Entwicklung eines interessanten Profils in der Praxis gelingen wird. Und jemand, der vor dreißig Jahren die Nationalstiftung gewissermaßen initiiert hat, der hat mehr als nur einen Wunsch frei, wenn ich das einmal so flapsig sagen darf. Einer ist Ihnen, lieber Herr Grass, schon erfüllt worden, nämlich Halle als Sitz der Stiftung. Und die Vorschläge, die sie heute in ihrem Vortrag unterbreitet haben, werden wir auch beraten. Manche sind ganz zentral, auch aus meiner Perspektive, mit Blick auf die kulturelle Verantwortung des Bundes, der Länder und der Kommunen, aber eignen sich nicht für die Kulturstiftung, andere können durchaus auch von der Kulturstiftung aufgegriffen werden.

Zum Schluss möchte ich noch einen Aspekt aufgreifen, der mir wie Ihnen, Herr Grass, sehr am Herzen liegt. Ich denke, dass es zweifellos so etwas gibt wie eine nationale Verantwortung für die kulturelle Entwicklung dieses Landes - und man sollte sich nicht scheuen, dies auch so zu nennen. Die Bundesrepublik Deutschland ist schon insofern ein Nationalstaat als die Bürgerinnen und Bürger dieses Gemeinwesens zusammengehalten werden, wenn man so will, durch eine gemeinsame Loyalität zu demokratischen Institutionen - das, was Jürgen Habermas Verfassungspatriotismus nennt. Sie werden aber darüber hinaus zusammengehalten durch eine zumindest weitgehend geteilte Lebensform, oder - ich will präziser sein - durch ein Netzwerk sich wechselseitig überlappender Lebensformen. Es gibt differierende Werte, damit auch differierende Lebensformen, Einstellungen und Verhaltensweisen, aber einen gemeinsamen normativen Kernbestand. Und zu dieser Nation Bundesrepublik Deutschland gehören natürlich auch diejenigen, die durch Migration hier heimisch geworden sind.

Nationale Verantwortung für die Kultur kann in meinen Augen nur in einem Geiste der Kooperation wahrgenommen werden. Das heißt, die Kommunen, die Länder und der Bund müssen sich über ihre jeweils spezifischen Verantwortlichkeiten hinaus für das Projekt einer human verfassten, einer nach außen zivilen, einer nach innen aus Respekt vor jeder Person toleranten Gesellschaft einsetzen, sie müssen an diesem Projekt mitwirken. Deswegen werbe ich - und ich bin nicht der einzige hier im Raum - für eine gemeinsame Verantwortung im Geist der Kooperation. Zu dieser gemeinsamen Verantwortung könnte gut auch eine gemeinsam getragene Nationalstiftung der Bundesrepublik Deutschland gehören.

Aber jetzt freuen wir uns erst einmal, dass nach fast dreißig Jahren dieses Kind geboren wurde - und wenn es am Ende mit der Kulturstiftung der Länder zusammengeht, dann freuen wir uns noch einmal. Ich danke allen, die am Zustandekommen mitgewirkt haben, und ich wünsche denjenigen, die jetzt als Vorstand Verantwortung tragen, Hortensia Völckers und Alexander Fahrenholtz, alles Gute für die nächsten Monate und Jahre. Und ich hoffe, dass Sie alle diese Stiftung mit ihrer Sympathie weiterhin begleiten werden.

Dankeschön.